Politik

Wladimir Putin hat gelogen - und jetzt opfert er das Leben Tausender

DWN-Chefredakteur Hauke Rudolph kommentiert den russischen Einmarsch in die Ukraine.
25.02.2022 13:12
Aktualisiert: 25.02.2022 13:12
Lesezeit: 3 min
Wladimir Putin hat gelogen - und jetzt opfert er das Leben Tausender
Eine junge ukrainische Mutter und ihr kleiner Sohn fliehen aus Kiew. (Foto: dpa)

In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag weckten das Krachen von Bomben und das Rasseln von Panzerketten die Welt: Russland war in die Ukraine einmarschiert - der erste zwischenstaatliche Angriffskrieg in Europa seit 1939.

Dabei hatte es die Tage zuvor noch Hoffnung gegeben, dass Wladimir Putin von einer Invasion absehen würde. Russlands großer Bruder, die Volksrepublik China, hatte am Montagabend im UN-Sicherheitsrat zur „Zurückhaltung“ aufgerufen. Auf der am Sonntag zu Ende gegangenen Münchener Sicherheitskonferenz hatte sich Chinas Außenminister Wang Yi sogar explizit gegen eine militärische Intervention ausgesprochen. Am Mittwoch berichtete die italienische Zeitung „Corriere della Sera“, Mario Draghi würde sich im Laufe der Woche mit Putin in Moskau treffen. Eine - zu dem Zeitpunkt - nicht abwegige Vorstellung: Dass Putin für den stets etwas krämerhaften, bieder wirkenden deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz sowie für den schrillen, geckenhaften französischen Präsidenten Emmanuel Macron Verachtung empfindet, ist offensichtlich. Aber dass er dem - mit dem Gestus eines Beamten ausgestatteten, aber in der Sache knallharten und äußerst erfolgreich agierenden - italienischen Ministerpräsidenten Respekt entgegenbringt, ist alles andere als abwegig. Schließlich hat Draghi für sein Heimatland viel erreicht, viel getan: Als Präsident der Europäischen Zentralbank sorgte er dafür, dass seine Bank weiter Roms Staatsanleihen kaufte, und als Ministerpräsident ist er derzeit dabei, Italien wieder politische und wirtschaftliche Stabilität zu verleihen.

Doch es sollte nicht sein. Es kam zu keinem Treffen zwischen dem Kreml-Machthaber und Super-Mario - gebracht hätte es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sowie nichts. Putin hatte seinen Entschluss nämlich schon lange getroffen, nur hinsichtlich des genauen Termins des Angriffs musste er kurzfristig eine Entscheidung fällen. Es wurde die Nacht vom 23. auf den 24. Februar, es hätte aber auch jede andere Nacht werden können. Das Datum spielt keine Rolle, das Geschehnis tut es: Putin hat mit seinem Überfall die Sicherheitsarchitektur Europas, vielleicht die Sicherheitsarchitektur der gesamten eurasischen Halbinsel grundlegend verändert.

Anfang Januar veröffentlichte ich einen Kommentar mit dem Titel: „Es wird keinen Krieg um die Ukraine geben - in Europa werden die Waffen für immer schweigen“. Ich argumentierte, dass Kriege im 21. Jahrhundert zwischen zivilisierten Staaten kein Mittel der Konfliktaustragung mehr seien. Dass zwischenstaatliche Konflikte fast nirgendwo mehr ausgetragen werden, mit Afrika sowie der moslemischen Welt des Nahen und Mittleren Ostens als Ausnahmen (die sozusagen die Regel bestätigen). Zivilisierte Länder, so behauptete ich, würden ihre Konflikte anders lösen.

Jetzt muss ich feststellen: Ich habe mich geirrt. Mea culpa.

Ich habe mich geirrt, weil ein Mann sich dazu entschlossen hat, den Boden der Zivilisation zu verlassen. Ich betone: Es ist nicht das russische Volk, das ich anklage. Dieses Volk hat in seiner langen und ruhmreichen Geschichte Großes geschaffen, die Welt mit seinen vielen wunderbaren Errungenschaften bereichert. Aber seinen Führer, einen gewissenloser Mörder, der zur Durchsetzung seines Plans, die Sowjet-Union in ihren alten Grenzen wiederherzustellen, das Blut seiner Landsleute und das der Angehörigen seines ukrainischen Brudervolks zu opfern bereit ist: den klage ich an.

Übrigens: Putin ist nicht nur ein Mörder. Er ist auch ein Lügner.

Hieß es nicht immer - aus seinem und dem Munde seines treuen Gefolgsmanns Sergei Lawrow - dass die Soldaten an der russisch-ukrainischen und der weißrussisch-ukrainischen Grenze nur zu Manöverzwecken stationiert seien? Dass Russland keinerlei Absichten habe, die Ukraine anzugreifen? Dass ausschließlich der Westen und die Ukraine Aggressionen hegten? Zur Erinnerung: Noch letzte Woche behauptete Moskau, die Soldaten würden abgezogen, veröffentlichte sogar dementsprechende Bilder. „Der 15. Februar 2022 wird als der Tag in die Geschichte eingehen, an dem die westliche Kriegspropaganda scheiterte“, schrieb die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Zakharova, in einem Facebook-Post. Und was ist seit dem 15. Februar geschehen?

Russland hält Manöver mit Hyperschall-Waffen ab, führt Tests mit strategischen (nicht taktischen!) Atomwaffen durch und kündigt die Einberufung von zwei Millionen Reservisten an. Seine Truppen fallen in die Ukraine ein. Derzeit, da ich diese Zeile schreibe, wird bereits in den Straßen von Kiew gekämpft, Zehntausende befinden sich auf der Flucht.

Putin hat die europäische Sicherheitsagentur grundlegend verändert. General a. D. Harald Kujat hat im DWN-Interview darauf hingewiesen, dass sich russische und NATO-Truppen in Kürze an vier weiteren Grenzen direkt gegenüberstehen könnten - mit allen Risiken, die das beinhaltet. Sollte Finnland - was alles andere als unwahrscheinlich ist - aufgrund der gewachsenen Bedrohungslage zusammen mit Schweden der NATO beitreten, könnten es sogar fünf zusätzliche Grenzen mit Kollisions-Potential sein. In Deutschland wird man jetzt verstärkt über einen - massiven - Ausbau der Verteidigungskapazitäten sprechen müssen. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die Folgen von Corona, drohende Börsen-Baissen sowie die steigende Inflation für wirtschaftliche Unsicherheit sorgen.

Und schließlich ist da noch China. Die Haltung der Volksrepublik schwankt(e): Sie reicht beziehungsweise reichte vom Verständnis für Russlands Sichtweise, seine Sicherheit sei durch den Westen gefährdet, bis hin zur Ablehnung der Invasion. Nun aber sind die Würfel gefallen, ist der Überfall erfolgt: Peking wird auf jeden Fall alles daransetzen, die Situation für seine Zwecke zu instrumentalisieren - im Extremfall sogar dafür, Amerikas derzeitigen Fokus auf Europa zu einem Angriff auf Taiwan zu nutzen.

Zum Schluss möchte ich noch auf etwas hinweisen, was ich nicht verstehe. Es ist der Glaube so mancher Deutscher (die der Politik des Westens kritisch gegenüberstehen, wozu sie jedes Recht haben), dass Putin durch die Invasion den Westen treffen würde.

Doch sie übersehen dabei, dass das Blut vieler Unschuldiger vergossen wird, auch das vieler Frauen und Kinder. Auch russische Soldaten werden sterben - junge Männer, die das Leben noch vor sich hatten.

Nun frage ich: Ist der Tot ukrainischer Kinder und junger russischer Soldaten wirklich ein Schlag gegen den Westen?

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Bundesbank: Deutsche Exportwirtschaft verliert deutlich an globaler Stärke
14.07.2025

Die deutsche Exportwirtschaft steht laut einer aktuellen Analyse der Bundesbank zunehmend unter Druck. Branchen wie Maschinenbau, Chemie...

DWN
Immobilien
Immobilien Gebäudeenergiegesetz: Milliardenprojekt für 1,4 Billionen Euro – hohe Belastung, unklare Wirkung, politisches Chaos
14.07.2025

Die kommende Gebäudesanierung in Deutschland kostet laut Studie rund 1,4 Billionen Euro. Ziel ist eine Reduktion der CO₂-Emissionen im...

DWN
Politik
Politik EU plant 18. Sanktionspaket gegen Russland: Ölpreisobergrenze im Visier
14.07.2025

Die EU verschärft den Druck auf Moskau – mit einer neuen Preisgrenze für russisches Öl. Doch wirkt die Maßnahme überhaupt? Und was...

DWN
Technologie
Technologie Datenschutzstreit um DeepSeek: Deutschland will China-KI aus App-Stores verbannen
14.07.2025

Die chinesische KI-App DeepSeek steht in Deutschland unter Druck. Wegen schwerwiegender Datenschutzbedenken fordert die...

DWN
Finanzen
Finanzen S&P 500 unter Druck – Sommerkrise nicht ausgeschlossen
14.07.2025

Donald Trump droht mit neuen Zöllen, Analysten warnen vor einer Sommerkrise – und die Prognosen für den S&P 500 könnten nicht...

DWN
Politik
Politik Wenn der Staat lahmt: Warum die Demokratie leidet
14.07.2025

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnt eindringlich vor den Folgen staatlicher Handlungsunfähigkeit. Ob kaputte Brücken,...

DWN
Politik
Politik Fluchtgrund Gewalt: Neue Angriffe in Syrien verstärken Ruf nach Schutz
14.07.2025

Trotz Versprechen auf nationale Einheit eskaliert in Syrien erneut die Gewalt. Im Süden des Landes kommt es zu schweren Zusammenstößen...

DWN
Finanzen
Finanzen Altersarmut nach 45 Beitragsjahren: Jeder Vierte bekommt weniger als 1300 Euro Rente
14.07.2025

Auch wer sein Leben lang gearbeitet hat, kann oft nicht von seiner Rente leben. Dabei gibt es enorme regionale Unterschiede und ein starkes...