Deutschland

Nach Umstellung auf Rubel: Gazprom liefert weiter Gas über Ukraine nach Mitteleuropa

Der Gasfluss aus Russland nach Mitteleuropa läuft nach der Umstellung der Zahlungen auf Rubel-Konten weiter. Deutsche Firmen warnen vor schweren Konsequenzen eines Energie-Embargos gegen Russland.
01.04.2022 11:00
Aktualisiert: 01.04.2022 11:09
Lesezeit: 3 min
Nach Umstellung auf Rubel: Gazprom liefert weiter Gas über Ukraine nach Mitteleuropa
Ein Angestellter der ukrainischen Gas-Transportfirma Ukrtransgaz läuft im Jahr 2009 in einem Kontrollzentrum an einer großen Karte des Landes vorbei. (Foto: dpa) Foto: epa Sergey Dolzhenko

Nach der von Russland verfügten Umstellung der Gas-Zahlungen auf Rubel liefert Russland eigenen Angaben zufolge den Rohstoff weiter in großem Umfang für den Transit durch die Ukraine nach Mitteleuropa. Am Freitag würden 108,4 Millionen Kubikmeter Gas durch das Leitungssystem gepumpt, sagte der Sprecher des Energieriesen Gazprom, Sergej Kuprijanow, der Agentur Interfax zufolge. Das entspricht fast der vertraglich möglichen maximalen Auslastung pro Tag.

Ungeachtet des russischen Kriegs gegen die Ukraine läuft der Gastransit durch das Nachbarland, das daraus wichtige Durchleitungsgebühren bezieht, seit dem 24. Februar in hohem Umfang weiter.

Vor einer Woche hatte Russlands Präsident Wladimir Putin angekündigt, russisches Gas an westliche Staaten künftig nur noch gegen Rubel zu verkaufen, was diese ablehnen. Am Donnerstag unterzeichnete er ein Dekret, das westliche Kunden dazu verpflichtet, ein Rubelkonto bei einer russischen Bank zu eröffnen und die Zahlungen darüber abzuwickeln. Die Regelung trat am Freitag in Kraft.

Deutsche Wirtschaft in Sorge

In der deutschen Wirtschaft gibt es große Befürchtungen, dass die Bundesrepublik in eine schwere Krise stürzen könnte, sollte Moskau die Gaslieferungen einstellen oder der Westen Russland mit einem Energieembargo belegen. So warnte BASF-Chef Martin Brudermüller für den Fall eines Importstopps oder längerfristigen Ausfalls von Gas- und Öllieferungen aus Russland vor beispiellosen wirtschaftlichen Schäden. "Das könnte die deutsche Volkswirtschaft in ihre schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs bringen", sagte Brudermüller der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Auch die Bau- und Energie-Expertin Lamia Messari-Becker, die die Bundesregierung berät, warnte für den Fall eines Stopps russischer Gaslieferungen vor verheerenden Folgen. "Wenn Grundstoff-Industrien zum Erliegen kämen, würde ein Dominoeffekt entstehen, der nicht mehr aufzuhalten und nur schwer reparabel wäre", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. Siemens-Energy-Chef Christian Bruch sagte dem Handelsblatt, bei einem kurzfristigen Boykott seien die negativen Auswirkungen für Deutschland größer als der Effekt auf Russland. Für manche Branchen sei die Gasversorgung existenziell. "Nehmen Sie nur die Glasindustrie. Wenn die Anlagen einmal kalt fallen, sind sie hinüber."

Westliche Staaten wie Deutschland müssen nach russischer Darstellung von Freitag an Konten bei der Gazprombank eröffnen, um weiter Gas zu erhalten. Andernfalls würden die Lieferungen für "unfreundliche Länder" eingestellt, hatte Präsident Wladimir Putin angekündigt. Die Staaten müssen demnach über die Konten, die einen Bereich für Valuta - also Euro oder Dollar - und einen für Rubel haben, eine Zahlung in russischer Währung sicherstellen. Laut dem von Putin unterzeichneten Dekret können weiter in Euro oder Dollar auf das russische Konto eingezahlt werden. Die Gazprombank tauscht das Geld dann in Rubel und überweist den Betrag an Gazprom.

Die Bundesregierung beharrt darauf, Zahlungen müssten wie vereinbart in Euro oder Dollar erfolgen. Die genauen Auswirkungen der geänderten Modalitäten sind unklar. Analysten in Moskau gehen davon aus, dass das System erst im April und Mai zur vollen Wirkung kommt. Fachleute erwarten nicht, dass die Änderungen große Konsequenzen für deutsche Firmen mit sich bringen.

Bei den Unternehmen wird die Entwicklung genau beobachtet. Beim Stahlkonzern Salzgitter hieß es: "Ohne Erdgas keine Produktion von Stahl." Der Politik müsse klar sein, dass von der Produktion wiederum die Energieversorgung und die Energiewende abhingen, sagte ein Konzernsprecher.

Der Glashersteller Wiegand bereitet sich auf ein Abschalt-Szenario vor. "Wir beschäftigen uns gerade damit, wie wir im schlimmsten Fall die Schmelzwannen selbst kontrolliert stilllegen können", sagte Geschäftsführer Nikolaus Wiegand. In elf solcher Wannen hält das Unternehmen an der Grenze zwischen Bayern und Thüringen rund um die Uhr Tausende Tonnen Glas auf einer Temperatur von rund 1600 Grad Celsius. Versiege der Gasstrom von heute auf morgen, würde das Glas kalt und aushärten. Die Schmelzwannen wären dann nicht mehr zu retten - ein Millionenschaden.

Das Bundeswirtschaftsministerium hatte am Mittwoch die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas ausgerufen, die erste von drei Stufen. Damit soll die Vorsorge für einen Lieferstopp gestärkt werden. An Verbraucher und Firmen ging der Appell, Energie zu sparen.

Volkswagen teilte mit, dass die Versorgung mit Gas derzeit für die Werke der VW sowie der Marken in Deutschland gesichert sei. Das Unternehmen ist einem Sprecher zufolge im regelmäßigen Austausch mit Behörden, Netzbetreibern und Lieferanten. Bei Mercedes-Benz hieß es, man beobachte die Lage und stehe im engen Austausch mit der Bundesregierung. Die Stuttgarter prüfen einer Sprecherin zufolge ständig Möglichkeiten, Energie einzusparen, und verstärken diese Bemühungen.

Der Darmstädter Pharma- und Technologiekonzern Merck erklärte, im Fall einer Energieknappheit erwarte man, "dass wir die notwendigen Ressourcen erhalten, um unsere Produktion und Services im Bereich der kritischen Infrastruktur aufrechtzuerhalten". Zu dem wichtigen Thema stehe das Unternehmen über Industrieverbände in Kontakt mit der deutschen Regierung. Merck verwende eine "erhebliche Menge" an Erdgas, vor allem zur Erzeugung von Strom und Prozessdampf.

Der Technologiekonzern Bosch teilte mit, er könne zurzeit seine Fertigungs- und Betriebsstätten unverändert versorgen und beobachte den Energiemarkt. Er werde auch geprüft, welche Vorsorge man in Europa für den Winter treffen müsse, berichtete ein Sprecher. Mit Blick auf die Vorwarnstufe hieß es, man bereite sich auf verschiedene Szenarien vor und treffe Vorsorge, "um bei einer Regulierung der Gasversorgung die Belieferung unserer Kunden weiter sicherzustellen oder mögliche Auswirkungen so gering wie möglich zu halten".

Expertin Messari-Becker betonte, die Bauwirtschaft hänge an gasintensiven Industrien wie der Chemie-, Stahl- und Zementindustrie. "Im Hauptbaugewerbe wären knapp eine halbe Million Jobs betroffen." Sie forderte die Politik auf, alle nationalen Reserven zu mobilisieren und notfalls auch Laufzeitverlängerungen konventioneller Kraftwerke, etwa von Kohlekraftwerken, zu erwägen.

Oberstes Ziel müsse es sein, mit allen Mitteln eine "Wirtschaftstriage" zu verhindern, sagte Messari-Becker. Damit meint die Expertin ein Szenario, bei dem im Falle von Engpässen gewisse Unternehmen und Einrichtungen bevorzugt mit Gas versorgt würden - in Anlehnung an den medizinischen Begriff "Triage". Solch eine Priorisierung würde etwa greifen, wenn in Deutschland die höchste Stufe des Notfallplans Gas ausgerufen würde.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Gold als globale Reservewährung auf dem Vormarsch

Strategische Relevanz nimmt zu und Zentralbanken priorisieren Gold. Der Goldpreis hat in den vergangenen Monaten neue Höchststände...

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Finanzen
Finanzen Milliarden für Dänemark – Deutschland geht leer aus
03.07.2025

Dänemark holt 1,7 Milliarden DKK aus Deutschland zurück – ohne die deutsche Seite zu beteiligen. Ein heikler Deal im Skandal um...

DWN
Finanzen
Finanzen Vermögen im Visier: Schweiz plant Enteignung durch Erbschaftssteuer für Superreiche
03.07.2025

Die Schweiz steht vor einem Tabubruch: Kommt die 50-Prozent-Steuer auf große Erbschaften? Die Eidgenossen debattieren über ein riskantes...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Drogeriehandel: Wie dm, Rossmann und Müller den Lebensmittelmarkt verändern
03.07.2025

Drogeriemärkte verkaufen längst nicht mehr nur Shampoo und Zahnpasta. Sie werden für Millionen Deutsche zur Einkaufsquelle für...

DWN
Technologie
Technologie KI-Gesetz: Bundesnetzagentur startet Beratungsservice für Unternehmen
03.07.2025

Die neuen EU-Regeln zur Künstlichen Intelligenz verunsichern viele Firmen. Die Bundesnetzagentur will mit einem Beratungsangebot...

DWN
Panorama
Panorama Sprit ist 40 Cent teurer an der Autobahn
03.07.2025

Tanken an der Autobahn kann teuer werden – und das oft völlig unnötig. Eine aktuelle ADAC-Stichprobe deckt auf, wie groß die...

DWN
Politik
Politik Brüssel kapituliert? Warum die USA bei den Zöllen am längeren Hebel sitzen
03.07.2025

Die EU will bei den anstehenden Zollverhandlungen mit den USA Stärke zeigen – doch hinter den Kulissen bröckelt die Fassade. Experten...

DWN
Finanzen
Finanzen USA dominieren die Börsen
03.07.2025

Die Börsenwelt bleibt fest in US-Hand, angeführt von Tech-Giganten wie Nvidia und Apple. Deutsche Unternehmen spielen nur eine...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Pokémon-Karten als Geldanlage: Hype, Blase oder Millionen-Geschäft?
03.07.2025

Verstaubte Karten aus dem Kinderzimmer bringen heute tausende Euro – doch Experten warnen: Hinter dem Pokémon-Hype steckt eine riskante...