Politik

Die Nato ist kein Schutzschirm für Schmarotzer

Lesezeit: 7 min
07.05.2022 09:07  Aktualisiert: 07.05.2022 09:07
Ronald Barazon analysiert die Bestrebungen von Schweden, Finnland und Österreich, Mitglied der Nato zu werden.
Die Nato ist kein Schutzschirm für Schmarotzer
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg (vorne rechts) und der afghanische Präsident Aschraf Ghani (vorne links) werden nicht nass. Aber ob der NATO-Schutzschirm genauso seinen Zweck erfüllt wie ein gewöhnlicher Regenschirm, darf bezweifelt werden. (Foto: dpa)

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Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine wollen plötzlich die (bisher) neutralen Staaten Schweden, Finnland und Österreich Mitglied der NATO werden. Welche Überlegung dahintersteht, ist offenkundig: Man möchte unter den Schutzschild der Verteidigungsallianz kriechen, weil man glaubt, dass im Falle einer Bedrohung durch Russland die Streitkräfte der anderen NATO-Staaten herbeieilen und den Feind in die Flucht schlagen würden. Doch dieser Glaube ist eine Illusion.

Offenbar liest niemand den NATO-Vertrag - nur so lässt sich erklären, warum die neutralen Länder des Westens jetzt unbedingt dem Verteidigungsbündnis beitreten wollen und alle osteuropäischen Staaten, die auch EU-Mitglied sind, ihm bereits beigetreten sind. Offenbar übersehen beziehungsweise übersahen sie alle, dass in den Statuten der NATO keineswegs verankert ist, dass bei einem Angriff auf ein NATO-Mitglied sofort mit einem Militärschlag geantwortet wird. Solch ein Angriff auf einen Einzelstaat wird zwar als Angriff auf alle Staaten betrachtet, das heißt, die Gemeinschaft ist zum Beistand verpflichtet - aber jedes Mitglied entscheidet für sich selbst, in welcher Form dieser Beistand geleistet wird. Auf den Punkt gebracht: Wenn beispielsweise die russische Armee das NATO-Mitglied Litauen überfällt und Washington beschließt, dass man für die kleine Baltenrepublik und ihre 2,8 Millionen Einwohner (entspricht dem Großraum Wien) keinen Weltkrieg riskieren möchte, dann könnte der Beistand aus Lieferungen von Handfeuerwaffen, Dollars und guten Ratschlägen bestehen. Wichtig ist, sich stets vor Augen zu halten, dass im NATO-Vertrag ausdrücklich festgehalten wird, dass jedes Land für seine Verteidigung selbst zu sorgen hat, dass also die Hilfe der Allianz nicht als Ersatz für eigene Anstrengungen, sondern als Ergänzung und Unterstützung zu verstehen ist.

Amerika ist kein Weltpolizist mehr

Dass ich für das Litauen-Beispiel die USA heranzog, geschah mit Bedacht. Tatsache ist nämlich: Die früheren US-Präsidenten Barack Obama und Donald Trump machten kein Hehl daraus, dass die USA nicht mehr bereit sind, als Weltpolizist zu agieren und allen NATO-Mitgliedern die Kosten für ihre Landesverteidigung abzunehmen. Der amtierende Präsident Joe Biden ist diesbezüglich zwar zurückhaltender als seine Vorgänger, doch ist auch er peinlich bemüht, die USA aus militärischen Abenteuern herauszuhalten. Man denke an Afghanistan, wo die USA seit Jahren engagiert waren, dann jedoch mehr oder weniger über Nacht abzogen und das Land der Terrororganisation der Taliban überließen (wobei dieser Schritt übrigens von Trump eingeleitet und dann von Biden endgültig vollzogen wurde).

Statt sich weltweit zu engagieren, kehren die USA zur Monroe-Doktrin zurück, die 1823 der damalige US-Präsident, James Monroe, formulierte: Die Vereinigten Staaten halten sich aus den Konflikten der Alten Welt heraus (auf die heutige Situation übertragen, beinhaltet die Alte Welt auch Afrika und Asien). Das heißt prinzipiell, dass sie nur dann in den Krieg ziehen, wenn sie selbst angegriffen werden, etwas anschaulicher ausgedrückt: Onkel Sam ist nicht länger der Dumme, der für alle die Kartoffeln aus dem Feuer holt. Zur Erinnerung: Dieser Grundsatz wurde auch im Zweiten Weltkrieg befolgt. Erst als Japan im Jahr 1941 die US-Pazifik-Flotte in Pearl Harbor zerstörte, trat Amerika in den Krieg ein.

Wäre die Ukraine neutral, gäbe es keinen Krieg

Die plötzliche Begeisterung der Nicht-Nato-Mitglieder für das Verteidigungsbündnis ist im Grunde völlig absurd. Russland ist nämlich nur deshalb in die Ukraine einmarschiert, weil Kiew trotz zahlreicher Aufforderungen aus Moskau keine neutrale Politik verfolgt, sondern sich seit Jahren um einen Beitritt zur NATO bemüht. Fakt ist: Moskau akzeptiert keine gegnerische Allianz an seinen Grenzen, das gilt nicht erst seit Putin, das war schon im Zarenreich ein Grundprinzip der russischen Sicherheitspolitik. Bei einem NATO-Beitritt der Ukraine wäre die Russische Schwarzmeer- und Mittelmeerflotte, die an der Halbinsel Krim stationiert ist, im NATO-Gebiet gelegen. Dieser Umstand hat zur Annexion der Krim im Jahr 2014 geführt. Noch im Sommer 2021 hat Putin in einem großen Artikel, der auch auf der Homepage des Kremls veröffentlicht wurde, die Ukraine – gleichsam ein letztes Mal - dazu aufgefordert, eine neutrale Politik zu betreiben.

Als in den vergangenen Tagen und Wochen Schweden, Finnland und Österreich ihre Neutralität in Frage stellten, hagelte es Proteste und offen ausgesprochene Drohungen aus Moskau. Bedenkt man den tatsächlichen Charakter der NATO, der eben - wie oben bereits ausgeführt - keine automatische militärische Hilfe vorsieht, so ergibt sich, dass die drei Staaten mit einer Mitgliedschaft in der Verteidigungsallianz ihre Position nicht nur nicht verbessern, sondern sogar verschlechtern. Eben deshalb, weil sie bei einem russischen Angriff keine garantierte NATO-Unterstützung hätten - aber noch aus einem weiteren Grund.

Durch die Nato-Mitgliedschaft gerät man in den Sog der Weltpolitik

Die Beistandspflicht ist keine Einbahnstraße - man profitiert von ihr, geht für sie aber auch Verpflichtungen ein. Als NATO-Mitglied ist man gegenüber allen anderen Mitgliedern verpflichtet, Beistand zu leisten. Nun haben wir bereits gesehen, dass im NATO-Vertrag steht, dass jedes Mitglied selbst entscheidet, ob und welche Unterstützung erbracht wird. In den Gremien wird aber dieses Thema ausführlich besprochen und diskutiert, und so wird auf die einzelnen Staaten durchaus Druck ausgeübt. Folglich ist nicht auszuschließen, dass man beispielsweise mehr oder minder ein Kontingent an Soldaten stellen muss, das die Armee eines angegriffenen und nunmehr Krieg führenden Landes ergänzt. Da fragt man sich: Ist es nicht besser, weiter neutral zu bleiben? Nehmen wir die Bevölkerung eines Landes, das jahrzehntelang neutral war und dann in die NATO eintrat: Wieviel Verständnis wird sie aufbringen, wenn plötzlich Männer, Söhne, Brüder, Väter in Zinksärgen aus einem weit entfernten Land zurückkehren?

Als Angriff auf ein Mitgliedsland gilt nicht nur der Einmarsch von Truppen

Die Aufgabe der NATO ist zudem nicht näher definiert. So ist „Angriff auf ein Mitgliedsland“ nicht nur als Einmarsch fremder Truppen in dieses Land zu verstehen. Nehmen wir die Attacken auf das World Trade Center und das Pentagon im Jahr 2001: Sie wurden auch zum NATO-Bündnisfall erklärt. Somit wurde die militärische Intervention der USA in Afghanistan zu einer NATO-Aktion, die durch britische und deutsche Soldaten unterstützt wurde. In den NATO-Statuten ist die Einbeziehung der UNO und des UN-Sicherheitsrats vorgesehen, der für eine militärische Intervention die Anwendung des im Artikel 51 der UN-Charta verankerten Rechts auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung bestätigen kann. Dies geschah nach 9/11 und stärkte die Legitimität der US-Aktion. Die Berücksichtigung des UN-Sicherheitsrats ist allerdings in den NATO-Statuten sehr weich formuliert, sodass das Verteidigungsbündnis auch ohne Zustimmung des UNO-Gremiums agieren kann. Das erklärt sich aus dem Umstand, dass Russland und China ein Vetorecht im Sicherheitsrat haben - und die NATO nicht auf Zustimmung aus Moskau und Peking angewiesen sein will.

Die USA betreiben eine zweite NATO - sozusagen eine „NATO light“

Die Formulierung „Angriff auf ein Mitgliedsland“ ist aus einem weiteren Grund nicht einfach zu definieren. Die USA haben in Eigenregie einer Reihe von Staaten den Status eines „Major Non-NATO Ally“ (wichtiger Verbündeter, der kein NATO-Mitglied ist) zuerkannt. Diese Liste umfasst derzeit zwanzig Länder, zu denen beispielsweise Taiwan (dessen Unabhängigkeit durch die Volksrepublik China bedroht wird) sowie Israel (das der Iran vernichten will) zählen. Im Zuge beider Konflikte könnte es zu militärischen Auseinandersetzungen kommen, bei denen amerikanische Truppen in Kampfhandlungen verwickelt werden. Dann ist eine ähnliche Situation wie 9/11 gegeben, es wären alle NATO-Mitglieder betroffen. Nicht zufällig kommen aus dem NATO-Generalsekretariat in letzter Zeit vermehrt Äußerungen, wonach man den Fokus künftig verstärkt auf China richten werde.

Wollen Schweden, Finnland und Österreich gegen das Reich der Mitte ziehen? Pazifik und Taiwan statt Ostsee und Alpen?

Das Internet ist zu einem entscheidenden Schlachtfeld geworden

Kriege werden heute nicht mehr nur auf dem Boden, in der Luft und auf dem Meer geführt. Ein weiteres potentielles Schlachtfeld stellt das Internet dar, und tatsächlich haben Russland und China schon in diversen amerikanischen Ministerien Computerviren installiert. Bis heute sind die US-Behörden nicht sicher, ob sie bereits alle eingeschleusten Schadprogramme unschädlich gemacht haben. Auch in die dominante IT-Firma Microsoft sind chinesische und russische Hacker erfolgreich eingedrungen. Man kann nicht genau abschätzen, wo überall bei den Millionen Firmen, öffentlichen Einrichtungen und Privatpersonen, die Microsoft-Programme nutzen, Störprogramme platziert sind. Bisher wurde kein Virus aktiviert, und so weiß man nicht, welche Einrichtungen gegebenenfalls lahmgelegt werden können. Militärflugzeuge? Raketenabwehrsysteme? Kraftwerke? Spitäler?

Käme es im Zuge eines Krieges zu einer derartigen Sabotage-Aktionen, so würde darauf fast unweigerlich eine militärische Intervention gegen den Verursacher folgen. Das heißt, die NATO wäre gefordert. Dementsprechend hat sie kürzlich, spät aber immerhin, eine Arbeitsgruppe installiert, die eine Strategie für ein solches Szenario erarbeiten soll.

Auch hier besteht also Konfliktpotential.

Aus der Ukraine-Krise droht ein globaler Atomkrieg zu werden

Im russischen Staatsfernsehen wird derzeit eine Dokumentation gezeigt, wonach mit Atomwaffen bestückte Langstreckenraketen vom Typ „Satan“ in zwei Minuten Berlin zerstören könnten, und in drei Minuten Paris sowie London. Betont wird dabei, dass die westliche Raketenabwehr nicht in der Lage wären, die Satan-Raketen abzufangen. Als Ergebnis würde in den betroffenen Metropolen niemand überleben.

Eine reine Propaganda-Aktion? Nun, man muss die Bedeutung von zwei Äußerungen aus dem Kreml abwägen. Zum einen hieß es, man werde Atomwaffen nur einsetzen, wenn Russland angegriffen wird. Man sagte allerdings auch: Die Sanktionen des Westens gegen Unternehmen und Personen in Russland seien als Wirtschaftskrieg gegen Russland zu betrachten. Was bedeutet das nun? Versteht der Kreml einen Wirtschaftskrieg gegen Russland als Angriff? Ja? Nein? Vielleicht? Niemand kennt die Antwort. Das Risiko, dass sich Moskau für die nukleare Option entscheidet, ist jedenfalls nicht gänzlich von der Hand zu weisen - zumal der Einmarsch in die Ukraine nicht, wie geplant, zu einem militärischen Spaziergang von wenigen Tagen wurde, sondern zu einem verlustreichen Feldzug, der mittlerweile schon mehr als zwei Monate andauert. Die bisher neutralen Staaten müssen sich die Frage stellen: Wollen sie sich durch einen NATO-Beitritt dem Risiko aussetzen, dass ihre jeweilige Hauptstadt auch dem Erdboden gleichgemacht wird?

Warum Neutralität ein Beitrag zum Weltfrieden ist

In Schweden, Finnland und Österreich sollte man sich außerdem daran erinnern, dass man EU-Mitglied ist und als solches einen Vertrag unterschrieben hat. Artikel 42 hat man jedoch offensichtlich nicht gelesen, obwohl er bereits 13 Jahre in Kraft ist. Er besagt, dass die EU eine Verteidigungsunion ist, dass jedes Mitglied über schlagkräftige Streitkräfte zu verfügen hat und diese der EU im Bedarfsfall für gemeinsame Aktionen zur Verfügung stellen muss. Der amtierende Vorsitzende des EU-Rats der Regierungen, der kürzlich wiedergewählte französische Präsident Emmanuel Macron, ist gerade mit Feuereifer bemüht, den bisher kaum beachteten Artikel 42 mit Leben zu füllen und die Weichen für eine europäische Armee zu stellen.

Im Grund genommen ist es mit der Neutralität also sowie gar nicht so weit her. Befürworter des NATO-Beitritts könnten daher argumentieren, ein NATO-Beitritt bedeute gar nicht die Aufgabe der Neutralität - sie sei ja eh nicht mehr gegeben. In gewisser Weise haben sie damit sogar Recht. Es gibt allerdings ein Aber, ein großes Aber.

Man könnte nämlich auch den umgekehrten Weg gehen und die eigene Neutralität wieder festigen, indem man eine offizielle Klarstellung des Artikels 42 erwirkt und darüber hinaus ausdrücklich erklärt, innerhalb der EU neutral zu bleiben und an keinen militärischen Aktionen mehr teilzunehmen. Stattdessen werde man sich ausschließlich auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der Union beschränken.

Neutralität wird gelegentlich als Feigheit ausgelegt, man könnte auch sagen, als solche diffamiert. Nicht ausreichend gewürdigt wird der Umstand, dass jedes neutrale Land eine Zone auf dem Globus schafft, wo kein Krieg stattfindet, und auf diese Weise einen Beitrag zum ohnehin ständig gefährdeten Weltfrieden leistet.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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