Politik

Lagebericht Ukraine: Im Stellvertreterkrieg erhöhen beide Seiten den Einsatz

Der Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland nimmt in Europa immer gefährlichere Dimensionen an. Russland stößt mit Gewalt im Osten des Landes vor, die US-Regierung und die Europäer liefern immer mehr Waffen.
16.06.2022 10:00
Aktualisiert: 16.06.2022 10:20
Lesezeit: 3 min

Die USA haben weitere militärische und humanitäre Hilfe für die Ukraine angekündigt. Präsident Joe Biden erklärte am Mittwoch, er habe seinem ukrainischen Kollegen Wolodymyr Selenskyj in einem Telefonat ein Sicherheitspaket mit einem Umfang von mehr als einer Milliarde Dollar in Aussicht gestellt. Es enthalte zusätzliche Artillerie sowie Waffensysteme zur Küstenverteidigung und Munition. Die Hilfe solle die Ukraine bei ihrem Kampf im Donbass unterstützen. Zudem würden weitere 225 Millionen Dollar an humanitären Hilfen für die Menschen im Land bereitgestellt. Die Ukraine hat den Westen wiederholt aufgefordert, möglichst schnell Waffen zu liefern angesichts schwerer Kämpfe im Osten des Landes.

Früheren Angaben von Insidern zufolge ist die neue Militärhilfe in zwei Paketen aufgeteilt. Eins stamme überwiegend aus US-Beständen und umfasse insbesondere Munition für Raketenwerfer und Artilleriegeschütze im Wert von mehr als 350 Millionen Dollar. In dem zweiten Paket von etwa 650 Millionen Dollar dürften dann etwa "Harpoon" Anti–Schiffs-Raketen sowie Nachtsichtgeräte enthalten sein. Dies werde über ein spezielles, vom Kongress autorisiertes Programm für die Ukraine finanziert. Es wäre das erste Mal, dass die USA eine Lieferung der "Harpoon" erwägen. Die von Boeing hergestellten Raketen kosten Experten zufolge etwa 1,5 Million Dollar pro Stück.

Melnyk stellt Forderungen auf

Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk fordert Bundeskanzler Olaf Scholz dazu auf, beim heutigen Besuch in Kiew weiterreichende Waffenlieferungen zuzusagen. Man erwarte in Kiew in erster Linie, dass Scholz endlich grünes Licht für die erbetenen 88 Leopard-1-Kampfpanzer und 100 Marder-Schützenpanzer gebe, die der Konzern Rheinmetall sofort liefern könne, sagt Melnyk der "Rheinischen Post". Zudem müsse Scholz schwere Waffen aus den Beständen der Bundeswehr freigeben.

"Nichts steht im Weg, dass Deutschland einen erheblichen Teil von eigenen 800 Transportpanzern Fuchs, 325 Leopard-2-Panzern oder 380 Marder-Panzern der ukrainischen Armee zur Verfügung stellt, um die russischen Truppen zu zerschlagen." Mittelfristig benötige die Ukraine zudem deutsche U-Boote, Korvetten sowie Patrouillen- und Kampfboote, um die lange Schwarzmeerküste zu verteidigen und russische Überlegenheit auf See zu eliminieren. Damit würde auch die Schifffahrtsfreiheit und Ernährungssicherheit garantiert.

Drei Mehrfachraketenwerfer, die Deutschland der Ukraine zugesagt hat, können im Juli oder August geliefert werden, sagt Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht. "Das Training an diesen Mehrfachraketenwerfern kann Ende Juni beginnen, was bedeutet, dass sie Ende Juli oder Anfang August ausgeliefert werden können", erklärt sie vor einem Treffen mit ihren Amtskollegen aus den Nato-Mitgliedsländern in Brüssel.

Vor der für Donnerstag angesetzten Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem italienischen Regierungschef Mario Draghi nach Kiew sprechen sich die FDP-Sicherheitspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann und der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter (Grüne), für die weitere Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine aus. "Wir müssen bereit sein, jetzt und in Zukunft auch schwere Waffen zu liefern und sollten uns bereits heute damit beschäftigen, was militärisch in den kommenden Monaten geschehen könnte. Jeder Tag zählt", sagt die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).

Lesen Sie dazu: Vorsitzende des Verteidigungsausschusses fordert systematischen Aufbau von Feindbildern

"Eine klare Unterstützung des EU-Kandidatenstatus wäre wünschenswert. Wenn dies von Deutschland, Frankreich und Italien gemeinsam artikuliert wird, wäre das ein starkes Signal", sagt Hofreiter dem RND. "Angesichts des brutalen Vorgehens Russlands benötigt die Ukraine außerdem weitere militärische Unterstützung. Auch dafür sollte es möglichst konkrete Zusagen geben."

Institut für Weltwirtschaft: Milliarden-Loch bei Finanzhilfen für die Ukraine

Nach Berechnungen des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW) stocken die finanziellen Hilfen für die Ukraine. "Der Internationale Währungsfonds schätzt eine Finanzlücke von 5 Milliarden Euro pro Monat, seit Juni entspricht das also mehr als 15 Milliarden Euro an benötigten externen Finanzhilfen", sagte IfW-Forschungsdirektor Christoph Trebesch am Donnerstag. "Neben Waffen wird finanzielle Hilfe zunehmend dringlich für die Ukraine."

Laut IfW sind der Ukraine von den wichtigsten Gebern mittlerweile mehr als 30 Milliarden Euro an Hilfen versprochen worden, tatsächlich geflossen seien seit Februar allerdings nur rund sechs Milliarden Euro. Vor allem seitens der EU seien die zugesagten Mittel seit Mitte Mai deutlich gestiegen. Die USA seien aber mit Abstand weiter größter Geldgeber. Die Ukraine ist seit Jahren hoch verschuldet und von Kreditpaketen des Internationalen Währungsfonds abhängig.

"Der Krieg lässt die Steuereinnahmen einbrechen und verursacht zugleich enorme Kosten, etwa zur Bezahlung der Soldaten oder zur Reparatur essenzieller Infrastruktur", sagte Trebesch. Die ukrainische Zentralbank sei gezwungen, die Zinsen drastisch zu erhöhen, was die Wirtschaft noch mehr belaste. "Eine weitere Sorge ist, dass die Finanzhilfe aus der EU fast vollständig aus Krediten besteht, also einen Schuldenberg hinterlässt." Im Gegensatz dazu hätten die USA vor allem Zuschüsse zugesagt, die nicht zurückgezahlt werden müssten.

Nach Berechnungen des IfW ist auch die Differenz zwischen zugesagten und tatsächlich gelieferten Waffen teils sehr hoch. Die USA hätten vom Wert bereits rund zehnmal mehr Waffen in die Ukraine geliefert als Deutschland. "Deutschland hat große Zusagen gemacht, aber bisher kaum geliefert", sagte Trebesch. Nur ein Drittel der konkret zugesagten Militärhilfe sei angekommen.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Politik
Politik EU plant Ukraine-Hilfe: Kann Russlands eingefrorenes Vermögen helfen?
13.11.2025

Die Europäische Union steht vor einer heiklen Entscheidung: Sie will die Ukraine weiterhin finanziell unterstützen, sucht jedoch nach...

DWN
Politik
Politik Zollfreigrenze in der EU: Billigwaren künftig ab dem ersten Euro zollpflichtig
13.11.2025

Billige Online-Waren aus Asien könnten bald teurer werden. Die EU plant, die 150-Euro-Freigrenze für Sendungen aus Drittländern...

DWN
Politik
Politik EU-Politik: Fall der Brandmauer öffnet Tür für Konzernentlastungen
13.11.2025

Das EU-Parlament hat das Lieferkettengesetz deutlich abgeschwächt. Künftig sollen nur noch sehr große Unternehmen verpflichtet sein,...

DWN
Politik
Politik Wehrdienst-Reform: Union und SPD einigen sich auf Kompromiss
13.11.2025

Union und SPD haben ihren Streit über den Wehrdienst beigelegt – und ein Modell beschlossen, das auf Freiwilligkeit setzt, aber eine...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Google: Milliardenstreits um Marktmissbrauch
13.11.2025

Google steht erneut unter Druck: Die Preissuchmaschine Idealo verlangt Milliarden, weil der US-Konzern angeblich seit Jahren seine...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoin-Kurs aktuell: Stabilisierungsversuch nach Kursverlusten
13.11.2025

Nach der kräftigen Korrektur in den vergangenen Tagen zeigt sich der Bitcoin-Kurs aktuell moderat erholt – was steckt hinter dieser...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Gender Pay Gap in der EU: Was die neue Richtlinie wirklich fordert
13.11.2025

Die EU hat mit der Richtlinie 2023/970 zur Gehaltstransparenz die Gender Pay Gap im Fokus. Unternehmen stehen vor neuen Pflichten bei...

DWN
Finanzen
Finanzen Telekom-Aktie: US-Geschäft treibt Umsatz trotz schwachem Heimatmarkt
13.11.2025

Die Telekom-Aktie profitiert weiter vom starken US-Geschäft und einer angehobenen Jahresprognose. Während T-Mobile US kräftig wächst,...