Weltwirtschaft

Alle Prognosen übertroffen: Russlands Wirtschaft brummt

Lesezeit: 4 min
27.08.2022 12:01  Aktualisiert: 27.08.2022 12:01
Alle Experten sagten für Russland eine schwere Wirtschaftskrise voraus, als das Land den Ukraine-Krieg begann. Doch tatsächlich brummt die russische Wirtschaft.

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Als Russland vor einem halben Jahr in die Ukraine einmarschierte, reagierte die Wirtschaft des Landes mit einem starken Einbruch. Der Rubel verlor mehr als ein Viertel seines Wertes gegenüber dem Dollar. Der Aktienmarkt stürzte ab und zwang die russischen Aufsichtsbehörden, den Handel auszusetzen. Hunderte westliche Unternehmen mussten sich aus Russland zurückziehen, weil der Westen Sanktionen verhängte.

Innerhalb von nur einem Monat senkten die Analysten ihre Prognosen für das diesjährige russische Bruttoinlandsprodukt von einem Wachstum um 2,5 Prozent auf einen Rückgang um fast 10 Prozent. Die US-Regierung zitierte sogar Prognosen, denen zufolge das russische BIP in diesem Jahr um bis zu 15 Prozent schrumpfen sollte, was die wirtschaftlichen Gewinne der letzten 15 Jahre zunichte machen würde.

Dass der Ukraine-Krieg die russische Wirtschaft belastet, ist unumstritten. Die massiven Zinserhöhungen im Frühjahr haben zwar den kollabierenden Rubel erfolgreich stabilisiert. Doch zusammen mit dem Exodus ausländischer Unternehmen haben sie Russland in die Rezession getrieben. Im zweiten Quartal sank das BIP nach offiziellen Angaben im Vergleich zum Vorjahr um 4 Prozent.

Viele der 300 russischen Städte mit nur einem Wirtschaftszweig befinden sich in einer regelrechten Depression. Im ersten Quartal 2022 zogen ausländische Investoren Direktinvestitionen im Wert von 15 Milliarden Dollar aus Russland ab. Dies war der mit Abstand schlechteste jemals gemessene Wert. Im Mai 2022 waren die russischen Überweisungen nach Georgien in Dollar ausgedrückt zehnmal höher als im Jahr zuvor, was auf eine Kapitalflucht hindeutet.

Russische Wirtschaft hat alle Prognosen übertroffen

Eine Analyse des Economist deutet jedoch darauf hin, dass die russische Wirtschaft besser dasteht, als selbst die optimistischsten Prognosen vorausgesagt haben. Ein entscheidender Grund für die relativ gute Lage besteht darin, dass der Export von Erdöl, Gas und Kohle zu einem Rekordüberschuss in der russischen Leistungsbilanz geführt hat.

Der von der Bank Goldman Sachs veröffentlichte Leistungsindikator, der ein Echtzeitmaß für das Wirtschaftswachstum darstellt, ist im März und April drastisch zurückgegangen, wenn auch nicht in dem gleichen Ausmaß wie währende der globalen Finanzkrise 2007-09 oder gar der Invasion in der Ukraine im Jahr 2014. Doch in den folgenden Monaten hat sich der Indikator wieder erholt.

Auch andere Indikatoren zeigen zwar eine Rezession, aber eben keine tiefe Rezession. Im Juni lag die Industrieproduktion nur 1,8 Prozent unter dem Vorjahreswert, wie aus einem von JPMorgan Chase veröffentlichten Papier hervorgeht. Ein Index für das Wachstum des Dienstleistungssektors, der durch Umfragen bei Managern erstellt wird, zeigt einen geringeren Rückgang als in früheren Krisenzeiten.

Auch ist der Stromverbrauch in Russland nach dem anfänglichen Rückgang längst wieder angestiegen. Und die Zahl der Bahnverladungen, ein Indikator für die Nachfrage nach Gütern, hält sich ebenso.

Gleichzeitig lässt die Inflation in Russland wieder nach. Von Anfang 2022 bis Ende Mai waren die Verbraucherpreise noch um etwa 10 Prozent gestiegen. Denn der Rubelverfall verteuerte die Importe, und der Rückzug westlicher Unternehmen verringerte das Angebot.

Inflation eingedämmt, Arbeitsmarkt stabil

Doch inzwischen sinken die Preise wieder, wie das staatliche Statistikamts Rosstat berichtet. Auch Analysen der Beratungsfirma State Street Global Markets und des Datenunternehmens PriceStats, die auf russischen Online-Preisen beruhen, zeigen einen Rückgang der Verbraucherpreise.

Der stärkere Rubel hat die Importkosten wieder gesenkt, die Inflationserwartungen der Russen sind gesunken. Ein Datensatz der Cleveland Federal Reserve, des Beratungsunternehmens Morning Consult und von Raphael Schoenle von der Brandeis University zeigt, dass die für das nächste Jahr erwartete Inflation von 17,6 Prozent im März auf 11 Prozent im Juli gesunken ist.

Da Russland über reichlich Gas verfügt, droht auch kein Inflationsschub durch höhere Energiepreise wie in Europa. Und die sinkenden Preise sind nicht das Einzige, was den Haushalten in Russland hilft.

Es gibt kaum Anzeichen für einen stärkeren Einbruch auf dem russischen Arbeitsmarkt. Zwar ist die offizielle Arbeitslosenquote irreführend, die im Juni mit 3,9 Prozent einen historischen Tiefstand erreichte. Denn tatsächlich haben viele Unternehmen Mitarbeiter schlicht freigestellt, um Entlassungen zu vermeiden.

Doch Daten der russischen Jobbörse HeadHunter deuten darauf hin, dass das Verhältnis von Arbeitssuchenden zu freien Stellen in der gesamten Wirtschaft von 3,8 im Januar auf 5,9 im Mai gestiegen und dann wieder etwas zurückgegangen ist. Und Daten der Sberbank, des größten russischen Kreditinstituts, zeigen sogar einen starken Anstieg der durchschnittlichen Reallöhne seit dem Frühjahr.

Auch weil der Arbeitsmarkt stabil ist, können die Menschen weiterhin Geld ausgeben. Die Daten der Sberbank deuten darauf hin, dass die realen Verbraucherausgaben im Juli im Vergleich zum Jahresbeginn so gut wie unverändert waren. Die Importe gingen im Frühjahr zurück, zum Teil weil viele westliche Unternehmen ihre Lieferungen einstellten. Der Rückgang war jedoch im Vergleich zu den jüngsten Rezessionen nicht gravierend, und die Einfuhren erholen sich jetzt schnell wieder.

Drei Gründe, warum Russland alle Prognosen übertrifft

Der erste Grund ist die Politik. Präsident Wladimir Putin hat das Wirtschaftsmanagement an Leute delegiert, die tatsächlich davon etwas verstehen. Die russische Zentralbank ist offenbar voll von hochqualifizierten Experten, die schnell gehandelt haben, um einen wirtschaftlichen Zusammenbruch zu verhindern. Die Verdoppelung der Zinssätze im Februar in Verbindung mit Kapitalverkehrskontrollen stützte den Rubel und half, die Inflation zu senken. Die Öffentlichkeit weiß auch, dass Notenbankchefin Elvira Nabiullina es ernst meint mit der Eindämmung der Preise.

Der zweite Grund hängt mit der jüngsten Wirtschaftsgeschichte zusammen. Verteidigungsminister Sergej Schoigu könnte im Februar Recht gehabt haben, als er der britischen Regierung sagte, dass die Russen "wie niemand sonst leiden können". Nach 1998, 2008, 2014 und 2020 ist dies die fünfte russische Wirtschaftskrise innerhalb von 25 Jahren. Die Russen haben gelernt, sich an Krisen anzupassen, anstatt in Panik zu geraten oder zu revoltieren.

Zudem haben erhebliche Teile der russischen Wirtschaft sich längst vom Westen entfernt. Das geht zwar mit einem geringeren Wachstum einher, hat aber die jüngsten Sanktionen weniger schmerzhaft gemacht. Im Jahr 2019 belief sich der Bestand an ausländischen Direktinvestitionen im Land auf etwa 30 Prozent des BIP, verglichen mit dem weltweiten Durchschnitt von 49 Prozent.

Vor dem Krieg arbeiteten nur etwa 0,3 Prozent der Russen mit einem Arbeitsplatz für ein amerikanisches Unternehmen, verglichen mit mehr als 2 Prozent in der gesamten reichen Welt. Zudem benötigt Russland relativ wenige ausländische Rohstofflieferungen.

Der dritte Grund bezieht sich auf die Kohlenwasserstoffe. Einem aktuellen Bericht der Internationalen Energieagentur (IEA) zufolge haben sich die Sanktionen nur begrenzt auf die russische Ölproduktion ausgewirkt. Seit der Invasion hat Russland fossile Brennstoffe im Wert von etwa 85 Milliarden Dollar an die EU verkauft.

Wofür Russland die so angesammelten Devisen ausgibt, ist angesichts der Sanktionen gegen die Regierung ein Rätsel. Es besteht jedoch kaum ein Zweifel daran, dass diese Verkäufe Russland helfen, weiterhin Güter aus dem Ausland zu importieren.

Der russischen Notenbank zufolge benötigt Russland zwar kaum ausländische Rohstoffe, braucht aber dringend ausländische Maschinen. Irgendwann könnten die Sanktionen des Westens also doch noch ihren Tribut fordern. Denn ohne ausländische Maschinen kann Russland mit der Zeit nur minderwertigere Waren zu höheren Kosten produzieren.


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