Politik

Auf dem Weg in den Dritten Weltkrieg

Lesezeit: 7 min
28.01.2023 08:45
Selenskyj kennt nur eine Lösung des Krieges: die vollständige Vertreibung russischer Truppen und die Rückeroberung der Krim. Doch ohne Verhandlungen könnte Russland sich in die Enge getrieben sehen – und damit auch den Einsatz von Nuklearwaffen erwägen.
Auf dem Weg in den Dritten Weltkrieg
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schließt Verhandlungen mit Russland kategorisch aus und kennt nur eine Lösung des Krieges: vollständige Vertreibung russischer Truppen und die Rückeroberung der Krim. (Foto: dpa)

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Für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gibt es nur eine Perspektive für den Krieg: Die vollständige Vertreibung der russischen Armee aus dem Land einschließlich der Rückeroberung der bereits 2014 annektierten Halbinsel Krim. Mit großem Geschick hat Selenskyj die Spitzen des Westens davon überzeugt, dass sich im Ukraine-Krieg entscheidet, ob die Demokratie oder die Diktatur auf dem Globus siegt. In der Folge erhält die Ukraine jede Unterstützung, seit dieser Woche auch Panzer aus den USA und aus Deutschland, womit der Westen, also die NATO und die EU noch tiefer in den Krieg hineingezogen werden.

In die Enge getrieben, wird die Atombombe für Russland zur Alternative

Es ist illusorisch, dass der russische Präsident Wladimir Putin eine Niederlage zugibt und seine Truppen abzieht. Der Kampf wird also auch von der anderen Seite unerbittlich weitergeführt. Mehr noch: Durch die immer bessere Ausrüstung der Ukraine mit westlicher Hochtechnologie wird die Lage der russischen Armee immer schlechter. In die Enge gedrängt wird Russland immer aggressiver und so hat auch Putins Sprachrohr, der amtierende Vorsitzende des Staatsrats, Dmtri Medwedew, einen Atomschlag gegen westliche Hauptstädte angekündigt, wenn Russland selbst angegriffen wird. Achtung: Die bisher eroberten, ukrainischen Gebiete gelten für Moskau bereits als russisches Gebiet.

Die Welt steht bereits am Rande eines Weltkriegs und Selenskyj will nicht verhandeln

Somit steht die Welt schon jetzt am Rande des Dritten Weltkriegs und es ist kein Ausweg in Sicht. Der US-amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin sieht die Gefahr und drängt Selenskyj zu Verhandlungen. Doch in Kiew will man davon nichts hören. Bei der kürzlich auf dem US-Stützpunkt Ramstein in Deutschland abgehaltenen Sitzung der Länder, die die die Ukraine unterstützen, wurde auch klargemacht, dass es zwar Hilfe, aber keine unbegrenzten Waffenlieferungen geben kann. Zur Illustration: Die USA liefern zwar die Mehrfachraketenwerfer Himars, allerdings mit eingeschränkter Reichweite, damit die ukrainische Armee nicht auf russisches Territorium schießen kann.

Mit halben Maßnahmen stolpernd in die Katastrophe

Der Kommentar des ukrainischen Verteidigungsministers: Ramstein war eine Enttäuschung. Die ukrainischen Politiker befinden sich durch die bisherigen, militärischen Erfolge in einer Art Siegesrausch und viele, westliche Politiker applaudieren. So hat es auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz schwer, wenn er den Kriegstreibern widerspricht und bei den Waffenlieferungen auf die Bremse tritt. Der Druck war aber zuletzt doch so groß, dass Scholz der Lieferung von 14 Leopard-Panzern zugestimmt hat. Das ist zwar eine kleine Zahl, die Lieferung erfolgt auch erst in drei Monaten, doch bedeutet die Aktion ein Signal, dass in Kiew mit Freude und in Moskau mit Entsetzen aufgenommen wurde. Abgestimmt zwischen Austen und Scholz agieren die USA ähnlich und liefern, auch in drei Monaten, 31 Panzer.

Mit dieser Anzahl von Panzern kann man den Krieg nicht gewinnen. Hier wird nach dem Motto „wasch‘ mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ agiert. Aber es sind nun einmal weitere Schritte in eine Eskalation und so stolpert man Schritt für Schritt in einen Weltkrieg. Schon ist von mehr Panzern die Rede, obwohl vor wenigen Wochen Panzer kein Thema waren. Kampfflugzeuge sind immer noch ausgeschlossen, aber wie lange noch?

Polen ist der engste Verbündete der Ukraine und der Anwalt des Landes im Westen

Eine entscheidende Rolle spielt Polen, das seit Monaten eine enge Zusammenarbeit mit der Ukraine pflegt. In beiden Ländern ist der Wunsch nach Rache für die Unterdrückung durch Russland in der Sowjetzeit stark vertreten. In der Ukraine ist die von Stalin ausgelöste Hungersnot mit Millionen Toden in den dreißiger Jahren als „Holodomor“ unvergessen. Polen kam bei der Aufteilung der Welt nach 1945 in die russische Einflusssphäre, allerdings mit der Zusicherung, eine freie Demokratie zu werden. Das Gegenteil geschah, das Land wurde ein Teil des Sowjetimperiums. Die historische Dimension ist aber noch großer.

  • Polen war fast zwei Jahrhunderte aufgeteilt zwischen Russland, Preußen und Österreich, wobei die Zaren besonders diktatorisch regierten. Am Ende des Ersten Weltkriegs und im Gefolge der bolschewikischen Revolution waren alle drei Besatzer geschwächt und es gelang Josef Pilsudski 1918 einen unabhängigen Staat Polen zu gründen. Russland bekämpfte Polen. Das Land verteidigte sich, unterstützt vom ukrainischen Präsidenten Symon Petljura, doch erlitten die beiden Armeen hohe Verluste. Im August 1920 konnte allerdings Pilsudski vor Warschau die Rote Armee vernichtend schlagen. Bis heute ist die Erinnerung an das „Wunder an der Weichsel“ wach und erst 2020 wurde ein Pilsudski-Museum vom polnischen Präsidenten Andrzej Duda mit einer patriotisch-emotionalen Rede eröffnet.

Die polnische Politik wird wesentlich von der Erinnerung an Pilsudski und dem Bestreben bestimmt, sich an Russland zu rächen. In diesem Sinne wird die Ukraine nach Kräften unterstützt. Dabei war nicht nur der symbolträchtige Auftritt des polnischen Präsidenten Duda im Ukrainischen Parlament im Mai 2022 von Bedeutung. Die Bilder zeigen die beiden Präsidenten Duda und Selenskyj in herzlicher Umarmung.

Polen ist als Mitglied der NATO und der EU gut platziert, um die Spitzen der westlichen Politik immer wieder zur Lieferung von Waffen an die Ukraine zu drängen. Polen selbst hat aus eigenen Beständen Panzer bereitgestellt, die die Armee noch aus der sowjetischen Zeit besaß und die auch die ukrainischen Soldaten kennen und bedienen können. Polen ersetzt die abgegebenen Panzer durch neue, weit stärkere und hat nun von den Erzeugerländern, Deutschland und den USA, die Genehmigung erhalten, auch neue an die Ukraine abgeben zu können.

Die sonderbaren Aspekte der so genannten Friedensordnung nach 1945

Die westliche Friedensordnung beruht auf der Bereitschaft, vergangene Konfrontationen zu vergessen und die nach 1945 entstandenen Grenzen zu akzeptieren. Das prominenteste Beispiel für die Umsetzung dieses Prinzips ist die deutsch-französische Freundschaft, die nun schon 60 Jahre hält und erst vor wenigen Tagen neu besiegelt wurde. In Polen und in der Ukraine ist man zu dieser Politik nicht bereit. So war es auch nicht möglich, die Ukraine zu überzeugen, doch ein neutraler Staat zu werden und gleichermaßen mit Moskau und mit dem Westen in Frieden zu leben. Das ständige Bemühen um einen Beitritt zur NATO und zur EU wurde in Russland ständig als Provokation empfunden, die letztlich den Krieg ausgelöst hat. Man kann davon ausgehen, dass Putin eine neutrale, moskaufreundliche Ukraine nicht überfallen hätte.

Man muss einen geradezu skurrilen Aspekt der vielzitierten Friedensordnung nach 1945 beachten. Russland konnte bei den Friedensgesprächen im Februar 1945 zwischen US-Präsident Franklin D. Roosevelt, dem britischen Premierminister Winston Churchill und dem sowjetischen Diktator Josef Stalin in Jalta, drei Monate vor Ende des Weltkriegs, Osteuropa als sein Gebiet deklarieren. Das war zwar kein Vertrag im üblichen Sinn, aber die Feststellung, dass die Rote Armee zu diesem Zeitpunkt im Krieg gegen Hitler-Deutschland bis an die Oder vorgedrungen war und diese Position nicht mehr räumen werde. Roosevelt interessierte das Thema weniger, ihm war zu diesem Zeitpunkt vor allem wichtig, dass Russland an dem sich abzeichnenden Krieg gegen Japan teilnehmen werde. Churchill erkannte die katastrophalen Folgen von Stalins Schachzug für Europa, konnte sich aber nicht durchsetzen.

Somit kann Putin paradoxer Weise sogar argumentieren, dass nicht nur die Ukraine zu seinem „Reich“ gehört, sondern auch alle Länder des ehemaligen Sowjetimperiums, die heute Mitglieder der NATO sind. Dementsprechend wird von Moskau nicht nur die Unterwerfung der Ukraine verlangt, sondern auch die Beseitigung der von der NATO an der Ostgrenze der EU errichteten Raketenbasen gefordert. Dieser in erster Linie von Polen verlangte westliche Verteidigungsgürtel erstreckt sich von den Baltischen Ländern über Polen, Tschechien, Ungarn bis nach Bulgarien.

Die NATO-Osterweiterung hat den Grundstein für den drohenden Weltkrieg gelegt

Der Zweite Weltkrieg war nicht zuletzt die Folge der Fehler nach dem Ersten Weltkrieg. Die Knebelung der Mittelmächte Deutschland und Österreich durch die Sieger legten den Keim für die nächste Auseinandersetzung. Und so sind derzeit der Ukraine-Krieg und die drohende Ausweitung des Konflikts eine Konsequenz der unglücklichen Vereinbarungen von Jalta 1945. Dieses Mal hätte die Welt das Glück gehabt, die Missgriffe des Jahres 1945 korrigieren zu können. Der Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1989 eröffnete die Möglichkeit, eine tatsächliche Friedensordnung zumindest für Europa zu installieren.

Diese Chance wurde auch in einer ersten Phase erkannt. Der damalige US-Präsident Bill Clinton war ursprünglich gegen eine NATO-Osterweiterung durch die Aufnahme der ehemaligen Staaten des von Moskau beherrschten Warschauer Pakts in die NATO. Er wollte vielmehr eine Partnerschaft mit Russland aufbauen. Auch damals waren aber die osteuropäischen Staaten vor allem interessiert, sich an Russland zu rächen. Die zahllosen Emigranten aus diesen Ländern in den USAmachten zudem Druck, dass vor allem Politik für die osteuropäischen Kleinstaaten gemacht werde. Clintons Wahlkampfmanager setzen sich für diese Anliegen ein und so wurden, auch aus innenpolitischen Rücksichten in den USA, 1999 Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO aufgenommen. Die anderen Länder folgten, nur die Ukraine nicht, die aber als befreundetes Land bezeichnet wurde und wird.

Angesichts des Ukraine-Kriegs sagt Clinton, dass er heute mehr als damals überzeugt ist, dass die NATO-Osterweiterung richtig war. Die russische Aggression zeige, dass seine ursprünglichen Vorstellungen unrealistisch waren. Hier sei Clinton widersprochen. Im Jahr 1999 befand sich Russland im Chaos, das Präsident Boris Jelzin und sein Finanzminister Jegor Gaida durch eine katastrophale Wirtschaftspolitik angerichtet hatten. Als Putin 2000 antrat und für Ordnung sorgte, war der jetzige Kriegstreiber noch an einer friedlichen Entwicklung interessiert, sah aber bereits damals die knapp vor seiner Amtsübernahme erfolgte NATO-Erweiterung kritisch. Nach Clinton forcierte George W. Bush ab 2001 die NATO-Osterweiterung und sorgte für weitere Aufnahmen. Von Clinton übernahm er die Idee einer engen NATO-Partnerschaft mit Russland.

Aus Moskauer Sicht bedeutete diese Politik die Herrschaft Washingtons bis tief nach Osteuropa und die ehemalige Weltmacht Russland als Anhängsel dieses Giganten. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe wäre nur ohne NATO möglich gewesen. Das Grundprinzip der russischen Verteidigungspolitik hat sich seit den Zaren nicht geändert: Die Staaten vor Russland sind zu beherrschen und als Schutzzone des Reichs zu führen. In diesem Sinne haben zumindest Weißrussland, die Ukraine und Georgien jedenfalls eng mit Moskau zu kooperieren. Der Nordosten Georgiens wurde bereits 2008 besetzt, jetzt geht es um die Ukraine und insbesondere um den Osten und Süden des Landes, das schon unter den Zaren Neurussland hieß.

Ein großzügiges Aufbauprogramm für Osteuropa war zu teuer. Der Krieg ist nicht billiger.

Sinnvoller als die NATO-Osterweiterung wäre ein großzügiges Aufbauprogramm für die osteuropäischen Staaten gewesen, die durch die kommunistische Staatswirtschaft 1989 total ruiniert waren und bis heute, über dreißig Jahre später, immer noch weit hinter dem Niveau der entwickelten Staaten zurückbleiben. Die nächste Chance hat der Westen 2004 und 2007 mit der Aufnahme der osteuropäischen Staaten in die EU vertan.

Mit dieser Aktion wurden die wirtschaftlich maroden Länder dem stupiden Regulierungswahn aus Brüssel unterworfen, der auch hoch entwickelte Industriestaaten in ihrer Entwicklung bremst. Für die neuen Mitglieder gab es gute Ratschläge, aber nur wenig Geld. Der immer wieder geäußerte Vorschlag, man möge doch nach dem Muster des Marshall-Plans für den Wiederaufbau Europas nach 1945 eine ähnliche Aktion in Osteuropa umsetzen, wurde wegen Geldmangels von der EU verworfen.

Der Westen hat auf das Militär statt auf die Wirtschaft gesetzt und nun hat die Welt ein militärisches Problem. Die „Lösung“ kostet schon jetzt viele Menschen das Leben und sie wird auch viel teurer werden als der großzügigste Marshall-Plan gekostet hätte.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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