Politik

„Zentralbanken sprengen“: Ökonom mischt Argentinien auf

Das einst reiche Argentinien ist in einer tiefen Krise: Die Inflation ist auf fast 140 Prozent geklettert, 40 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze. Javier Milei, ein ultraliberaler Ökonom verspricht einfache Lösungen für komplexe Probleme – und kommt damit gut an. Am Sonntag sind Wahlen.
21.10.2023 09:58
Aktualisiert: 21.10.2023 09:58
Lesezeit: 3 min
„Zentralbanken sprengen“: Ökonom mischt Argentinien auf
Der libertäre Populist Javier Milei geht als Favorit in die erste Runde der Präsidentenwahl in Argentinien. Seine Wahlkampf-Auftritte gestaltet er dabei ziemlich exzentrisch, etwa mit Kettensägen. (Foto: dpa) Foto: Natacha Pisarenko

Leise Töne sind Javier Mileis Sache nicht. Bei Wahlkampfauftritten wettert der selbst ernannte „Anarchokapitalist“ mit dem wilden Haarschopf gegen die politische Kaste, kündigt an, die Zentralbank in die Luft zu sprengen, und schwenkt eine laufende Kettensäge – als Symbol für den sozialpolitischen Kahlschlag, den er im Falle seines Wahlsiegs plant.

Der libertäre Populist geht als Favorit in die erste Runde der Präsidentenwahl in Argentinien. Der Kandidat der Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) tritt am Sonntag gegen den amtierenden Wirtschaftsminister Sergio Massa von der linken Unión por la Patria (Union für das Vaterland) und die frühere Innenministerin Patricia Bullrich vom konservativen Oppositionsbündnis Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel) an.

Es ist die Wut und die Enttäuschung vieler Argentinier, die den Außenseiter Milei in die erste Reihe der Politik gespült hat. Die Inflationsrate liegt bei 138 Prozent, rund 40 Prozent der Menschen in dem einst reichen Land leben unter der Armutsgrenze. Argentinien leidet unter einem aufgeblähten Staatsapparat, geringer Produktivität der Industrie und einer großen Schattenwirtschaft, die dem Staat viele Steuereinnahmen entzieht. Die Landeswährung Peso verliert gegenüber dem US-Dollar immer weiter an Wert, der Schuldenberg wächst ständig.

Einfache Lösungen, komplexe Probleme

Der Wirtschaftswissenschaftler Milei verspricht einfache Lösungen für die komplexen Probleme. Er will die meisten Ministerien abschaffen, den US-Dollar als offizielles Zahlungsmittel einführen, die Sozialprogramme radikal zusammenstreichen und Staatsbetriebe privatisieren. „Gebt mir 20 Jahre und wir können wie Deutschland dastehen. Gebt mir 35 Jahre und es geht uns wie den USA“, versprach er in einer TV-Debatte.

Das Enfant terrible der argentinischen Politik will außerdem den Waffenbesitz liberalisieren, ist gegen das Recht auf Abtreibung, glaubt nicht an den menschengemachten Klimawandel und schimpft den argentinischen Papst Franziskus einen Kommunisten. Zwar bedient er sich wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump und der frühere brasilianische Staatschef Jair Bolsonaro einer Anti-System-Rhetorik, allerdings verzichtet er im Gegensatz zu seinen Vorbildern auf rechtsradikale Ausfälle.

Vor allem bei jungen Leuten kommt Milei gut an – und die dürfen in Argentinien schon ab 16 Jahren wählen. Viele kennen nur ein Leben im Krisenmodus, können wegen der hohen Inflation nicht sparen oder Pläne für die Zukunft machen. „Die heftige politische Auseinandersetzung paart sich mit der existenziellen Angst der Menschen“, sagt die Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Argentinien, Susanne Käss.

Haushaltsloch vergrößert sich

Wirtschaftsminister Massa greift unterdessen tief in die Staatskasse, um die Wähler bei Laune zu halten. Massenhafte Neueinstellungen im öffentlichen Dienst, höhere Freibeträge bei der Einkommensteuer, Erleichterungen für Selbstständige sowie Einmalzahlungen für Angestellte und Pensionäre reißen allerdings ein noch größeres Loch in den Haushalt und dürften eine schwere Hypothek für die nächste Regierung werden. Finanziert werden die Wohltaten mit der Notenpresse.

Die frühere Innenministerin Bullrich versucht sich unterdessen als vernünftige Alternative zu Milei zu positionieren, die Argentinien wieder auf Kurs bringt, die ausufernden Staatsausgaben in den Griff bekommt und hart gegen die zunehmende Kriminalität vorgeht. Ihr designierter Wirtschaftsminister hat einen umfangreichen Plan ausgearbeitet, um die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas wieder in die Spur zu setzen.

Sollte sich keiner der Kandidaten in der ersten Runde durchsetzen können, gehen die beiden stärksten Bewerber am 19. November in die Stichwahl. Das Ergebnis der zweite Runde wird dann maßgeblich von der Konstellation und möglichen Wählerwanderungen abhängen.

Sollte der marktliberale Milei wirklich zum Präsidenten gewählt werden, wäre das eine echte Kehrtwende für Argentinien, wo die linken Peronisten seit über 20 Jahren maßgeblichen den Ton angeben, der Staat massiv in die Wirtschaft eingreift, öffentliche Dienstleistungen stark subventioniert werden und in zahlreichen Provinzen mehr Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor beschäftigt sind als in der Privatwirtschaft.

Im Falle eines Wahlsiegs dürfte vor allem Mileis Kompromissfähigkeit getestet werden, denn allein wird er trotz seiner radikalen Rhetorik nicht weit kommen. „Wie viele politische Außenseiter hat Milei aber wenig für die Politik des Gebens und Nehmens und den Pluralismus in der Demokratie übrig“, schreibt Christopher Sabatini vom Forschungsinstitut Chatham House in einer Analyse.

Im Parlament wird Milei keine Mehrheit bekommen, sein Lager verfügt über keinerlei Provinzgouverneure, zudem fehlt ihm qualifiziertes Personal, um wichtige Schlüsselpositionen zu besetzen. „Dann wird sich zeigen, wie verrückt er wirklich ist“, sagt KAS-Expertin Käss. „Oder wie pragmatisch er sein kann.“ (dpa)

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen MTS Money Transfer System – Sicherheit beginnt mit Eigentum.

In Zeiten wachsender Unsicherheit und wirtschaftlicher Instabilität werden glaubwürdige Werte wieder zum entscheidenden Erfolgsfaktor....

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Finanzen
Finanzen Altersrente berechnen: So hoch ist die Maximalrente in Deutschland - unerreichbar für die meisten
01.11.2025

Im Alter gilt, je mehr Rente, desto besser. Doch selbst mit extra Schichten oder einem hohen Einkommen ist der maximale Betrag an...

DWN
Finanzen
Finanzen Zehn S&P 500‑Aktien mit Aufholpotenzial: So bewerten Analysten Chancen und Risiken
01.11.2025

Zehn S&P 500‑Aktien, die Analysten trotz schwächerer Jahresperformance als chancenreich einstufen, werden auf Wachstum, Bewertung und...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Lithium und die Energiewende: Wie der Rohstoff Elektronik und E-Mobilität vorantreibt
01.11.2025

Lithium gilt als das Metall unserer Zeit. Smartphones, Laptops und Elektroautos kommen ohne es nicht aus. Die Nachfrage steigt rapide,...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deutsche Winzer unter Druck: Wie sich eine Branche neu erfinden muss
01.11.2025

Der deutsche Weinbau steckt in der tiefsten Krise seit Jahrzehnten. Sinkender Konsum, steigende Kosten und eine zunehmende...

DWN
Technologie
Technologie Wärmepumpen als Zeichen moderner Energieeffizienz: Wie KI ihre Leistung steigern wird
01.11.2025

Das Heizen wird künftig noch effizienter, kostengünstiger und komfortabler. Dank künstlicher Intelligenz werden Wärmepumpen in der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Fahrradverleih in Europa: Wie nachhaltige Mobilität jährlich 305 Millionen Euro bringt
01.11.2025

Fahrräder sind in vielen europäischen Städten längst Teil der urbanen Mobilität. Bikesharing bietet Vorteile über den reinen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Chip-Markt: Neues Öl oder neue Bombe?
01.11.2025

Chips sind das Rückgrat der KI-Revolution. Doch hinter Rekorden und Milliardendeals wächst das Risiko. Ein Blick in die...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Bäder für Kreuzfahrtschiffe: Wie Stengel mit Serienfertigung Maßstäbe setzt
31.10.2025

Ob für Disney Cruise Line oder Carnival Cruises: Mit Nasszellen für Kreuzfahrtschiffe zeigt die Stengel GmbH aus Ellwangen, wie ein...