Leise Töne sind Javier Mileis Sache nicht. Bei Wahlkampfauftritten wettert der selbst ernannte „Anarchokapitalist“ mit dem wilden Haarschopf gegen die politische Kaste, kündigt an, die Zentralbank in die Luft zu sprengen, und schwenkt eine laufende Kettensäge – als Symbol für den sozialpolitischen Kahlschlag, den er im Falle seines Wahlsiegs plant.
Der libertäre Populist geht als Favorit in die erste Runde der Präsidentenwahl in Argentinien. Der Kandidat der Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) tritt am Sonntag gegen den amtierenden Wirtschaftsminister Sergio Massa von der linken Unión por la Patria (Union für das Vaterland) und die frühere Innenministerin Patricia Bullrich vom konservativen Oppositionsbündnis Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel) an.
Es ist die Wut und die Enttäuschung vieler Argentinier, die den Außenseiter Milei in die erste Reihe der Politik gespült hat. Die Inflationsrate liegt bei 138 Prozent, rund 40 Prozent der Menschen in dem einst reichen Land leben unter der Armutsgrenze. Argentinien leidet unter einem aufgeblähten Staatsapparat, geringer Produktivität der Industrie und einer großen Schattenwirtschaft, die dem Staat viele Steuereinnahmen entzieht. Die Landeswährung Peso verliert gegenüber dem US-Dollar immer weiter an Wert, der Schuldenberg wächst ständig.
Einfache Lösungen, komplexe Probleme
Der Wirtschaftswissenschaftler Milei verspricht einfache Lösungen für die komplexen Probleme. Er will die meisten Ministerien abschaffen, den US-Dollar als offizielles Zahlungsmittel einführen, die Sozialprogramme radikal zusammenstreichen und Staatsbetriebe privatisieren. „Gebt mir 20 Jahre und wir können wie Deutschland dastehen. Gebt mir 35 Jahre und es geht uns wie den USA“, versprach er in einer TV-Debatte.
Das Enfant terrible der argentinischen Politik will außerdem den Waffenbesitz liberalisieren, ist gegen das Recht auf Abtreibung, glaubt nicht an den menschengemachten Klimawandel und schimpft den argentinischen Papst Franziskus einen Kommunisten. Zwar bedient er sich wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump und der frühere brasilianische Staatschef Jair Bolsonaro einer Anti-System-Rhetorik, allerdings verzichtet er im Gegensatz zu seinen Vorbildern auf rechtsradikale Ausfälle.
Vor allem bei jungen Leuten kommt Milei gut an – und die dürfen in Argentinien schon ab 16 Jahren wählen. Viele kennen nur ein Leben im Krisenmodus, können wegen der hohen Inflation nicht sparen oder Pläne für die Zukunft machen. „Die heftige politische Auseinandersetzung paart sich mit der existenziellen Angst der Menschen“, sagt die Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Argentinien, Susanne Käss.
Haushaltsloch vergrößert sich
Wirtschaftsminister Massa greift unterdessen tief in die Staatskasse, um die Wähler bei Laune zu halten. Massenhafte Neueinstellungen im öffentlichen Dienst, höhere Freibeträge bei der Einkommensteuer, Erleichterungen für Selbstständige sowie Einmalzahlungen für Angestellte und Pensionäre reißen allerdings ein noch größeres Loch in den Haushalt und dürften eine schwere Hypothek für die nächste Regierung werden. Finanziert werden die Wohltaten mit der Notenpresse.
Die frühere Innenministerin Bullrich versucht sich unterdessen als vernünftige Alternative zu Milei zu positionieren, die Argentinien wieder auf Kurs bringt, die ausufernden Staatsausgaben in den Griff bekommt und hart gegen die zunehmende Kriminalität vorgeht. Ihr designierter Wirtschaftsminister hat einen umfangreichen Plan ausgearbeitet, um die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas wieder in die Spur zu setzen.
Sollte sich keiner der Kandidaten in der ersten Runde durchsetzen können, gehen die beiden stärksten Bewerber am 19. November in die Stichwahl. Das Ergebnis der zweite Runde wird dann maßgeblich von der Konstellation und möglichen Wählerwanderungen abhängen.
Sollte der marktliberale Milei wirklich zum Präsidenten gewählt werden, wäre das eine echte Kehrtwende für Argentinien, wo die linken Peronisten seit über 20 Jahren maßgeblichen den Ton angeben, der Staat massiv in die Wirtschaft eingreift, öffentliche Dienstleistungen stark subventioniert werden und in zahlreichen Provinzen mehr Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor beschäftigt sind als in der Privatwirtschaft.
Im Falle eines Wahlsiegs dürfte vor allem Mileis Kompromissfähigkeit getestet werden, denn allein wird er trotz seiner radikalen Rhetorik nicht weit kommen. „Wie viele politische Außenseiter hat Milei aber wenig für die Politik des Gebens und Nehmens und den Pluralismus in der Demokratie übrig“, schreibt Christopher Sabatini vom Forschungsinstitut Chatham House in einer Analyse.
Im Parlament wird Milei keine Mehrheit bekommen, sein Lager verfügt über keinerlei Provinzgouverneure, zudem fehlt ihm qualifiziertes Personal, um wichtige Schlüsselpositionen zu besetzen. „Dann wird sich zeigen, wie verrückt er wirklich ist“, sagt KAS-Expertin Käss. „Oder wie pragmatisch er sein kann.“ (dpa)