Politik

Ohne die USA und versus China: Europa muss neue Schwerpunkte setzen - und Deutschland muss (mit)ziehen!

Lesezeit: 5 min
10.06.2024 10:00
Die Europa-Wahlen sind vorerst in Sack und Tüten. Die Verschiebungen in der Zusammensetzung des EU-Parlaments waren so absehbar und von den Auguren auch erwartet worden. Nun kommt es darauf an, welche neuen Schwerpunkte die künftige EU-Kommission setzt - im Akkord mit dem European Council, dem europäischen Rat der amtierenden Staats- und Regierungschefs. Eine Analyse des stellvertretenden DWN-Chefredakteurs Peter Schubert.
Ohne die USA und versus China: Europa muss neue Schwerpunkte setzen - und Deutschland muss (mit)ziehen!
Das Gebäude des Europäischen Parlaments: Europa und Deutschland stehen nach der Europawahl vor großen Aufgaben (Foto: dpa).

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Die Rolle Emmanuel Macrons hat sich tatsächlich verringert - daran konnte selbst Joe Bidens lange Frankreich-Reise zum D-Day-Jubiläum nichts ändern. Es dürfte nun entscheidend werden, ob Marine Le Pen in Frankreich und Georgia Meloni in Italien sich verbünden - oder ob Ursula von der Leyen (CDU) es noch mal schafft, die breite Mitte der Europäer hinter sich und der EVP-Fraktion zu versammeln.

Parteibündnis mit von der Leyen gewinnt Europawahl

Das Problem der Europa-Wahlen ist eigentlich in allen Mitgliedsstaaten dasselbe. Das Interesse ist trotz aller Beschwörungen über vermeintliche Schlüsselwahlen eher gering - mehr als 60 Prozent kommen selbst in bewegten Zeiten wie diesen nicht an die Wahlurnen. Die Bürger sind seltsam uninspiriert, ja man könnte sagen, gleichgültig - wie man am Wahltag in eigentlich allen europäischen Metropolen sehen konnte. Abgestimmt wurde zumeist über die nationale Regierungsarbeit, als wäre die Europawahl eine Art „Midterm Election“ zur Abrechnung über die gebrochenen Versprechen. In Frankreich war es allemal so: Macron hat seine Autorität eingebüßt, Frankreich zahlenmäßig einen deutlichen Rechtsruck erlebt. In den Niederlanden ging es indes um Geert Wilders, der die Regierungsbildung beaufsichtigt, und der ein finales Plazet benötigte.

In Deutschland war es eine Abstimmung über die Ampel. Die Grünen sind geradezu eingebrochen. Ihre langgehegten großen Hoffnungen, zunehmend eine Führungsrolle im Lande und in Europa einzunehmen, sind wie zerstoben. Die Umweltprobleme in aller Welt sind zwar real, aber der angestoßene „Green Deal“ in Europa überfordert die Wähler völlig. Selbst die Deutschen, immer irgendwie die politische Korrektheit im Spiegelbild, stellen die Regierungsarbeit und Kompromissfähigkeit der grünen Minister ganz offenkundig in Frage. Sie haben das Gefühl, dass es derzeit wichtigere Themen und Probleme zu lösen gibt, als die gesellschaftliche Vielfalt zu schützen.

In veränderten Zeiten, in denen die Wirtschaft einbricht und die Sicherheitsanstrengungen neue Bedeutungen erfordern, kann es nicht mehr darum gehen, das Füllhorn der Steuergelder auszuschütten, um die fundamentalistischen Idealisten in den eigenen Reihen glücklich zu machen. Es ist wieder mal der Joschka-Fischer-Moment gekommen, als die grüne Basis auf dem sogenannten Kosovo-Parteitag vor 25 Jahren frustriert erkennen musste, dass Pazifismus die Probleme auf dem Balkan nicht löst. Genauso wie jetzt wieder, wo es in einer sich zunehmend polarisierenden Welt darum gehen muss, die Verteidigungsanstrengungen zu erhöhen, statt eine neuerliche europäische „Appeasement-Politik" (diesmal auf Kosten der Ukraine) zu betreiben.

Und deshalb hat auch die SPD die Wahl so deutlich verloren - nochmals im Ergebnis schlechter als schon beim dramatischen EU-Ergebnis von 2019. Und insbesondere Olaf Scholz, der wankelmütige Kanzler, der statt mit Führung voranzugehen, nur durch Bedenken ins europäische Hintertreffen gerät. So sehr sogar, dass große Teile Europas längst aufgegeben haben, weiterhin (und so wie früher üblich) auf den deutschen Motor zu hoffen. Es war sein Antlitz neben der farblosen Spitzenkandidatin Katarina Barley, das im Mittelpunkt der Kampagne unter der fragwürdigen Überschrift „Frieden sichern“ stand. Das hat ihm nicht mal mehr die friedensselige Basis geglaubt und ihr linkes Kreuz lieber gleich beim BSW, dem Bündnis Sahra Wagenknecht, gemacht.

Als Friedensengel holte diese mit dem Schüren von Kriegsängsten aus dem Stand fast sechs Prozent der Stimmen in Deutschland und pulverisierte ihre alte Linkspartei am Rande quasi im Alleingang. Dass sie bereitwillig Putins finsteres Spiel mitspielt, sei ihr aber gestattet. Immerhin wird man ihr nicht so ohne Weiteres jene Ausländerfeindlichkeit der AfD eines Björn Höcke oder eines Maximilian Krah zusprechen können. Dass die deutschen Rechtspopulisten tatsächlich trotz aller Warnungen (insbesondere im Osten) noch zugelegt haben, ist die bittere Realität hierzulande beim weit zerfaserten EU-Wahlergebnis in Deutschland.

Die FDP hat weder großartig gewonnen noch verloren - Agnes Strack-Zimmermann, die liberale Spitzenkandidatin, hat gehörig genervt auf den Wahlplakaten ihre Partei mit Wagemut gerettet. Auf die FDP kommt es zwar in der derzeitigen Regierungskoalition entschieden an. Allerdings wohl nicht mehr in der künftigen politischen Landschaft. Sie reiht sich im Ergebnis ein zwischen Freien Bürgern und anderen Splitterparteien. Um die Aufgaben Deutschlands in Zukunft zu meistern, ist das zu wenig, wenn die FDP auch eine sehr wichtige Klientel repräsentiert.

Europa-Wahl, Ampel-Regierung - und jetzt?

Die Frage ist nun, wie es weitergehen soll. Bis zur Bundestagswahl 2025. Oder wird die neue Orientierung bereits im November 2024 fällig wird, wenn womöglich Donald Trump und die Republikaner wieder das Ruder in den USA übernehmen? Womöglich droht Deutschland in seiner Orientierungslosigkeit völlig unter die Räder der veränderten Großwetterlage zu geraten. Wahre Führung ist dann nämlich gefragt: Darüber könnte Scholz bereits (am Tag vor der Wahl im diskreten Dialog) mit Friedrich Merz, dem Oppositionsführer der CDU, gesprochen haben. Der ist bereit, zu übernehmen und die Dinge und anstehenden Aufgaben in gewohnter Partnerschaft mit dem bewährten Juniorpartner SPD zu regeln.

Die CDU hat gewonnen und repräsentiert mit ihm im Ergebnis das verlässliche Deutschland, das um die Bedeutung des europäischen Projektes weiß und das von Macron befürchtete Szenario („Europa könnte sterben“) verhindern wird. Das Patt zwischen den haushaltskonservativen Bewahrern aus der FDP und den irrlichternden Reformern bei den Grünen und auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie ist wohl nur so aufzulösen, bis wahrscheinlich ab Januar aus dem Nordwesten ein neuer eisiger Wind nach Europa rüberweht.

Die USA werden es nicht weiter dulden, dass sich die Deutschen unter Berufung ihrer besonderen Geschichte noch länger einen schlanken Fuß machen bei der Verteidigung Europas. Die USA wollen sich - nolens volens - auf den Pazifik konzentrieren, um China in Schach zu halten und die Demokratie in Taiwan zu schützen. Europas Aufgabe wird es derweil sein, Russland in Schach zu halten, ohne immer nur mit der Unterstützung des großen Bruders jenseits der Atlantiks zu hoffen.

Die Briten haben das längst begriffen, sie wissen von jeher besser, wie die Amerikaner ticken. Sie sind zwar aus aus der EU ausgeschieden, aber wenn es um die Zukunft und Sicherheit Europas geht, sind sie selbstverständlich „all in“. Für Europa sind damit, die neue Aufgaben hinreichend beschrieben. Gut möglich, dass sich dabei wenigstens neue Hubräume beim Freihandel ergeben.

Die USA wünschen sich zwar, dass Europa bei den Zoll-Barrieren gegen China mitzieht, sie werden aber dabei keine weitreichenden Forderungen stellen. Bedingung ist freilich, dass an der Ostfront der Nato-Flanke die Europäer die Verantwortung übernehmen. Unter Führung des Weimarer Dreiecks, das wäre ein Projekt, das Gleichgewicht der unterschiedlich europäischen Interessen auszubalancieren. Polen hat die neue Wetterlage viel früher verstanden als wir und hat bereits begonnen, die Rüstungsausgaben auf bis zu vier Prozent aufzustocken. Deutschland wird das erst noch begreifen müssen diesen Sommer - und vor allem in der Lage bleiben, das auch absehbar bezahlen zu können. Mit dem rot-gelb-grünen Reformbündnis, das so hoffnungsfroh gestartet ist, wird das nicht zu machen sein. Das ist nicht einmal ein krachendes Scheitern, sondern tatsächlich Folge einer geopolitisch instabilen Welt, die sich Deutschland lange Jahre lediglich schön gemalt hat.

Gerne hätte der deutsche Homo Politicus weiter die Welt bekehrt, lebens- und auch liebenswerter gemacht, finanziert dank seiner stattlichen Außenhandelsbilanz. Doch diese Zeiten sind vorbei, bis sich die deutsche Wirtschaft neu erfunden und aufgestellt hat. Bis dahin werden unsere Steuer-Euros nicht mehr in utopische Sozialversprechen und auch nicht in peruanische Radwege fließen können. Es geht jetzt erst einmal um die Stabilität des Fundaments.

Sicherheitsfragen und Welthandel

Europa hat gewählt! Nun gilt es, auf unserem belagerten Kontinent die Sicherheitsfragen zu lösen, sich gegen russische Aggressionen, Großmachts-Phantasien und auch gegen die schier endlose Migrations-Bewegung zu wappnen - und in Abstimmung mit den USA, den Welthandel neu zu verhandeln.

Die WHO wird da nicht mehr der Maßstab und schon gar nicht Schiedsrichter sein. Europa ist der größte Binnenmarkt der Welt. Der muss geschützt werden und in Wettbewerb nicht nur mit China, sondern zugleich auch mit den USA treten. Das ist die einzige Sprache, die sowohl Xi als auch Trump verstehen. Dann wird auch auch Wladimir Putin erkennen, dass er das Spiel verlieren wird. Der globale Süden wird das nicht gerne hören, aber der hat in Sachen Ukraine und Israel Positionen bezogen, die wir so nicht blindlings berücksichtigen dürfen.

                                                                            ***

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.


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