Politik

Quereinsteiger und Kurzschulungen gegen die Kita-Personalnot

Für viele Kinder beginnt das neue Kita-Jahr. Hunderttausende Plätze, Zehntausende Fachkräfte fehlen. Quereinsteiger und Schnellqualifikationen kommen ins Spiel – mit Folgen für die Bildungsqualität?
29.07.2024 07:02
Aktualisiert: 29.07.2024 09:00
Lesezeit: 3 min
Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..
Quereinsteiger und Kurzschulungen gegen die Kita-Personalnot
Warnstreik der Gewerkschaft Verdi von kommunalen Kitas mit einem Banner mit der Aufschrift „SOS Kita. Gemeinsam stark für gute Kitas!“. (Foto: dpa) Foto: Fabian Sommer

Am Zaun der Kita hängt ein auffällig großes Banner. Darauf bitten vier niedliche Kinder: „Superheld/In gesucht! Bewirb dich hier“ Wie diese Einrichtung im Rheinland suchen viele Kindertagesstätten in Deutschland dringend Personal. Kommunen schaffen mit massiven Anstrengungen mehr Plätze, Kita-Träger und Politik versuchen, Lücken auch mit kurzfristigen Lösungen zu stopfen. Experten sorgen sich um die Qualität der Bildung für die Jüngsten, wenn in den nächsten Tagen – in vielen Bundesländern am 1. August – das neue Kita-Jahr beginnt.

Abstriche bei der Qualifikation aus Personalnot?

In fast allen westlichen Bundesländern würden Zugangsvoraussetzungen gesenkt, um schnell Personal – Quereinsteiger, Menschen ohne pädagogische Erfahrung – zu gewinnen, beobachtet Bildungsforscherin Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung. „Es gibt einen Trend zu niedrigeren Anforderungen.“ Beispiele: In Hessen könnten bis zu 25 Prozent des Personals mit lediglich einer 160-Stunden-Weiterbildung tätig werden. In Bayern seien Anforderungen an die Kitaleitung gesenkt und Schnellqualifizierungen eingeführt worden. Rasch wirkende Wege seien wegen der Personalnot derzeit „alternativlos“. Aber: „Das darf nicht schleichend zum Standard werde“, sagt Stein.

Die Konzepte und Quereinsteigermodelle der Länder fallen in den Ländern sehr unterschiedlich aus, berichtet auch Tina Friederich von der Katholischen Stiftungshochschule München. In Baden-Württemberg könnten einige Berufsgruppen – etwa Logopädinnen, Krankengymnasten oder Hebammen – „einfach so“ in die Kita einsteigen und dann einen berufsbegleitenden Kurs absolvieren. Mit Blick auf die Alltagshelfer in NRW gebe es ebenfalls Skepsis, denn: Ihre Assistenztätigkeit könne auch in den pädagogischen Bereich hineinreichen, das sei schwer zu trennen.

Beide Wissenschaftlerinnen sehen kritisch, dass Mecklenburg-Vorpommern vor einigen Jahren eine nur maximal dreijährige Ausbildung zur Fachkraft eingeführt hat. Das sei deutlich weniger umfangreich als eine Erzieherinnen-Ausbildung von mindestens vier Jahren und bedeute eine Niveau-Senkung.

Der Mangel an Personal und Plätzen enorm – im Westen stärker

Zuletzt fehlten bundesweit rund 430.000 Plätze, besonders für die Kleinsten unter drei Jahren reiche es nicht, sagt Stein. Die jüngsten Zahlen seien von 2023 und hätten sich seitdem nicht wesentlich verändert. Es brauche zusätzlich etwa 100.000 Fachkräfte, die allermeisten davon in Westdeutschland, allein fast 28.000 im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW. Dort stehen laut Düsseldorfer Familienministerium 764.225 Betreuungsplätze bereit, nach einem Plus von 53.000 Plätzen binnen fünf Jahren.

Anders sieht es in den ostdeutschen Bundesländern aus. Dort werden Stein zufolge zum Teil sogar schon Fachkräfte entlassen, unter anderem wegen sinkender Geburtenzahlen. Aber: „Es wäre wichtig, diese Kräfte im System zu halten. Es besteht die historisch einmalige Chance, dass sich in Ost und West die Personalschlüssel als Qualitätsmerkmal angleichen.“

Qualität der frühkindlichen Bildungsarbeit muss stärker in den Fokus

„Die Qualität gerät aus dem Blick. Dabei werden schon mehr als die Hälfte aller Kinder in Deutschland in Gruppen mit einem nicht kindgerechten Personalschlüssel betreut“, kritisiert Stein. Die ersten Jahre gelten als zentral für die gesamte Entwicklung eines Menschen. Gute Beziehungsarbeit und gute ganzheitliche Basisbildungsarbeit seien das A und O. „Was in den ersten Lebensjahren an Erfahrungen aufgebaut wird, bleibt ein Leben lang erhalten. Um jedes Kind da abzuholen, wo es steht, braucht es genügend Fachkräfte.“

Es sei eine „Erosion“ bei der Qualifikation des Kita-Personals in den kommenden Jahren zu befürchten, fürchtet Friederich, die auch Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft für Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit (BAG-BEK) ist. „Die Schere wird weiter auseinandergehen, wenn es nicht gelingt, mehr qualifiziertes Personal zu gewinnen.“ Jungen und Mädchen, deren Familien eine Förderung aus unterschiedlichen Gründen daheim nicht leisten könnten, seien die Leidtragenden. „Hier wird man in den Kitas nicht mehr ausreichend gegensteuern und kompensieren können, was aber die Aufgabe einer guten Kita ist.“

Große Herausforderungen und Ruf nach Reformen

Die XS-Personaldecke führt oft dazu, dass Eltern mit kurzfristig gekürzten Öffnungszeiten oder tagelang geschlossener Kita ringen müssen. Die Belastung des Personals sei stark gestiegen, krankheitsbedingte Ausfälle die Folge, berichtet Stein. Der Landeselternbeirat NRW warnt davor, Öffnungszeiten wegen des Fachkräftemangels generell zu verringern. Damit wäre die Vereinbarkeit von Familie und Beruf infrage gestellt. „Kinder mit besonderen Förderbedarfen könnten zu den Verlierern im Falle reduzierter Öffnungszeiten gehören.“

Friederich beschreibt das Dilemma: Die Träger müssten den einklagbaren Elternanspruch auf einen Kitaplatz gewährleisten – Personallücken unbedingt schließen. Die Politik in den Ländern sehe sich gezwungen, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Dennoch sollten Mindeststandards für Quereinsteiger 200 Stunden Grundschulung sein – für Basiskenntnisse in Entwicklungspsychologie, Kinderschutz und pädagogischer Haltung. Danach solle die Person in der Kita nur gemeinsam mit einer Fachkraft tätig werden, sich berufsbegleitend weiter qualifizieren. In NRW sieht ein neues Modell „Qi“ 120 Unterrichtsstunden und dann für zwei Jahre berufsbegleitend Fortbildungen vor – danach kann eine verkürzte Kinderpflege-Ausbildung folgen.

Attraktivität und Einheitlichkeit des Berufs

Der Erzieherberuf müsse finanziell attraktiver werden und mehr Entwicklungsoptionen für Erzieherinnen eröffnen, sagt Stein. Außerdem brauche es bundeseinheitliche Standards für Qualifizierungen, die transparenter und unter den Bundesländern vergleichbar seien. Immer mehr Einstiegs- und Quereinstiegsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Anforderungen in den Ländern mache die Ausbildung auf Dauer immer weniger vergleichbar. „Das verschwimmt jetzt schon“, sagt Stein.

Auch die Wirtschaft müsse finanziell beitragen, fordert die BAG-BEK. Jeder Arbeitgeber solle zu einer angemessenen Abgabe für die unterfinanzierten Kitas verpflichtet werden. Die Wirtschaft profitiere schließlich direkt vom Angebot ausreichender Betreuungsplätze. „Wir müssen die Kita-Krise für Reformen des Systems Kita nutzen“, sagt Friederich.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Politik
Politik Sondergipfel in Katar: Forderung nach internationalem Waffenembargo gegen Israel
15.09.2025

Der Sondergipfel in Katar hat mit scharfer Kritik auf das israelische Vorgehen reagiert. Mehrere Staaten der Region erklärten ihre...

DWN
Politik
Politik UN-Kritik: Israel zielt auf Journalisten um eigene Gräueltaten zu vertuschen
15.09.2025

252 Reporter sind in gut zweieinhalb Jahren im Gazastreifen getötet worden. Diese Zahl sei kein Zufall, meinen Menschenrechtsexperten und...

DWN
Politik
Politik Elektroautos: Autofahrer revoltieren gegen Brüsseler Kurs
15.09.2025

Subventionen statt Innovation: Während China den Markt dominiert, setzt die EU auf Elektroautos um jeden Preis. Für Autofahrer und...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Apothekennetz schrumpft - Branche verlangt Reform
15.09.2025

In Deutschland schließen immer mehr Apotheken: Allein im ersten Halbjahr sank die Zahl der Standorte um 238 auf 16.803. Damit hat in den...

DWN
Technologie
Technologie Klage gegen Google: Streit um KI-Zusammenfassungen
15.09.2025

Der US-Medienkonzern Penske Media, zu dem Titel wie Rolling Stone und Hollywood Reporter gehören, hat Google wegen seiner neuen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Streit um Handel und Öl: China droht nach Trumps Vorstoß
15.09.2025

Nach den jüngsten Forderungen von Ex-US-Präsident Donald Trump an die Nato-Partner, hohe Zölle auf chinesische Waren zu erheben und den...

DWN
Finanzen
Finanzen Wall Street: Zeit für Gewinnmitnahmen und ein Dämpfer für Bitcoin
15.09.2025

Rekorde an der Wall Street, Warnungen vor Rezession und ein Rückschlag für Bitcoin: Anleger fragen sich, ob jetzt die Zeit für...

DWN
Politik
Politik Hybrider Krieg: Moskau intensiviert Angriffe auf Europa
15.09.2025

Russische Drohnen über Polen, Drohungen gegen die NATO: Moskau intensiviert seinen hybriden Krieg. Für Deutschland wächst der Druck,...