Nach dem mutmaßlich islamistischen Messeranschlag von Solingen hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Gespräche mit den Ländern und der Union als größter Oppositionskraft über die möglichen Konsequenzen angekündigt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) werde "sehr zügig jeweils einen Vertreter des Vorsitzes und Co-Vorsitzes der Ministerpräsidentenkonferenz, Vertreter der größten Oppositionspartei und involvierte Bundesressorts zu vertraulichen und zielgerichteten Gesprächen über diese Frage einladen", sagte Scholz nach einem Treffen mit dem britischen Premierminister Keir Starmer in Berlin.
Abschiebung, Terrorbekämpfung, Waffenrecht
Bei den Gesprächen solle es um die Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsländer, die Bekämpfung des islamistischen Terrors und das Waffenrecht gehen. Dabei sollten auch Vorschläge von Ländern und Union berücksichtigt werden. Den Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) hat derzeit Hessen mit dem CDU-Ministerpräsidenten Boris Rhein. Niedersachsen mit Regierungschef Stephan Weil hat den Co-Vorsitz für die von der SPD geführten Länder.
Am 1. Oktober übernimmt Sachsen den MPK-Vorsitz, wo derzeit CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer die Regierung führt. Nächsten Sonntag wird dort allerdings gewählt. In den Umfragen liefert sich die AfD mit der CDU ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den Rang der stärksten Partei.
Arbeitsgruppe mit Faeser, Habeck, Buschmann
Scholz reagiert mit der Gründung der Arbeitsgruppe auf einen Vorstoß von CDU-Chef Friedrich Merz, mit dem er am Dienstag über die Folgen der Messerattacke von Solingen mit drei Toten und acht Verletzten gesprochen hatte. Der Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte sich allerdings nur für die Benennung von jeweils einem Beauftragten von Regierung und Union ausgesprochen, die eine Zusammenarbeit bei Gesetzesänderungen vorbereiten sollten.
Nun wird die Gruppe deutlich größer. Vor allem werden die Länder eingebunden. Mit denen hatte sich Scholz schon im vergangenen Herbst auf Maßnahmen gegen irreguläre Migration verständigt. Aus der Bundesregierung sollen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) dabei sein. Es sind also alle drei Ampel-Parteien personell vertreten.
Aus dem Plan von Merz, nur mit der SPD zu verhandeln, wird also nichts. Der CDU/CSU-Fraktionschef hatte bereits am Dienstag seinen Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei als Vertreter für mögliche Gespräche benannt. Wann die erste Sitzung der Gruppe stattfinden soll, blieb zunächst offen.
Maßnahmenpaket "in der Schlussredaktion"
Möglicherweise schon davor will die Regierung "zeitnah" ein erstes Maßnahmenpaket vorlegen. «Seit dem Samstag laufen die Gespräche innerhalb der Regierung und man befindet sich jetzt in der Schlussredaktion», sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Er rechne «sehr zeitnah» mit Ergebnissen.
Unter anderem soll es dabei um die weitere Beschleunigung der Rückführung abgelehnter Asylbewerber gehen. Scholz hatte bereits im vergangenen Jahr Abschiebungen "in großem Stil" angekündigt. Obwohl die Zahl der Abschiebungen im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahr um mehr als ein Viertel zugenommen habe, sei das längst noch nicht genug, betonte der Kanzler. "Deshalb wird die Bundesregierung ihre Bemühungen fortsetzen, die irreguläre Migration weiter zu begrenzen. Dazu gehören auch neue gesetzliche Maßnahmen, die wir in der Bundesregierung seit dem Wochenende intensiv miteinander abstimmen."
Lindner: "Es darf keine Denkverbote geben"
Die FDP zeigt sich offen für Vorschläge der Union zur Migrationspolitik. Parteichef Christian Lindner sagte in Berlin, die Regierung arbeite an Kontrolle und Konsequenz bei der Migration und werde dazu weitere Maßnahmen beschließen. "Wenn sich die CDU nach der Ära Merkel ihrer Verantwortung stellt, sollten wir deren Vorschläge offen und konstruktiv beraten. Es darf keine Denkverbote geben." Aus Sicht der FDP sei schon lange klar, dass man einen neuen Realismus in der Einwanderungspolitik brauche.
Grünen-Chef Omid Nouripour zweifelt hingegen an deren Umsetzbarkeit. Die Union habe sehr viele Vorschläge gemacht, sagte er im Deutschlandfunk. Er habe aber mehr Fragen als vorher. "Wir sind gesprächsbereit", betonte Nouripour. Er wolle aber besser verstehen, was die Union wolle.
Für Habeck nur "Rhetorik des Spaltens"
Merz hatte Scholz angeboten, Gesetze notfalls auch ohne die Ampel-Partner Grüne und FDP im Bundestag durchzusetzen. Vizekanzler Robert Habeck warf dem Unionsfraktionschef daraufhin eine "Rhetorik des Spaltens" vor. Der Grünen-Politiker sagte in einem Interview, Gespräche vorzuschlagen, aber gleich zu sagen, mit wem man nicht reden wolle, sei ein "Stück weit verräterisch".
Zu den Forderungen des CDU-Chefs gehören ein "faktischer Aufnahmestopp" für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan und die Möglichkeit, abgelehnte Asylbewerber wieder in diese beiden Länder abzuschieben. Weiterhin soll, wer als Flüchtling aus Deutschland in sein Heimatland reist, in Deutschland umgehend jeden Aufenthaltsstatus verlieren. Es soll dauerhafte Kontrollen an den EU-Außengrenzen geben und mehr Kompetenzen für die Bundespolizei. Auch bringt Merz die Erklärung einer "nationale Notlage" ins Spiel, um EU-Recht auszuhebeln und Migranten zurückweisen zu können, die zuerst in ein anderes EU-Land eingereist sind.
Was derzeit unter anderem diskutiert wird:
- Abschiebungen: Klingbeil sagte: «Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien möglich zu machen, ist ein Punkt, das muss mit hohem Druck jetzt umgesetzt werden.» Auch Merz verlangt das. Bisher scheitert es an der uneindeutigen Gefährdungslage in den Ländern und daran, dass es mit den dortigen Machthabern jeweils keine Beziehungen gibt. Zudem steht laut Informationen der «Bild» zur Diskussion, Abschiebungen zu beschleunigen. Die Schwelle für ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse solle gesenkt werden. So könnte etwa der Einsatz von Waffen als Begründung reichen. Dies wurde auch der dpa bestätigt.
- Leistungskürzungen, wenn Asylbewerber bereits in einem anderen EU-Staat registriert sind: Der FDP-Vorsitzende, Finanzminister Christian Lindner, sagte am Mittwochabend in der ARD-Sendung Maischberger: «Bei denjenigen, die als Dublin-Flüchtlinge ausreisen müssen, darf es null Euro nur noch vom deutschen Steuerzahler geben.»
- Verlust des Schutzstatus bei bestimmten Reisen ins Heimatland: Lindner bezog sich auf jene, die «Urlaub machen in dem Land, wo sie eigentlich bedroht sind» - sie sollten das Aufenthaltsrecht in Deutschland verlieren. Das will auch die CDU. Allerdings sollte das aus Lindners Sicht nicht gelten etwa bei Reisen zu Beerdigungen oder aus anderem wichtigem Grund. Bereits jetzt muss der Schutzstatus überprüft werden, wenn eine Heimatreise bekannt wird. Statistiken dazu gibt es nicht, aus einzelnen Landesregierungen verlautete aber, dass Reisen zu Urlaubszwecken kaum bekannt würden.
- Unbefristete Grenzkontrollen: Merz spricht sich dafür aus. Auch Kanzler Scholz will sie «so lange wie möglich», wie er am Dienstag sagte. Dabei geht es um die bereits bestehenden Kontrollstellen an den Grenzen zu Österreich, der Schweiz, zu Tschechien und Polen, die nur befristet möglich sind, aber immer wieder verlängert wurden. Die Grünen sind für mobile Kontrollen im Grenzgebiet. Bisher gilt aber: Wer Asyl beantragen will, darf in der Regel auch ins Land.
- Ausreisearrest: Die Union verlangt, straffällige oder gefährliche abgelehnte Asylbewerber unbefristet festzuhalten, bis sie abgeschoben werden können oder freiwillig ausreisen. Kritiker sehen rechtliche Hindernisse.
- Aufnahmestopp für Afghanen und Syrer: Hierbei ist es ähnlich - die Union verlangt ein entsprechendes Signal, Kritiker halten das für rechtswidrig.
- Mehr Befugnisse für Sicherheitsbehörden im Internet: Klingbeil sagte: «Die Behörden müssen mehr Möglichkeiten bekommen, die Radikalisierungsstrukturen islamistischer Terroristen auch im Netz zu durchleuchten.» Auch die Grünen-Innenpolitiker Konstantin von Notz und Irene Mihalic schlagen dies in einem Positionspapier vor, das dem ARD-Hauptstadtstudio und der dpa vorliegt. Der SPD-Innenpolitiker Sebastian Hartmann sieht dabei die FDP als «Bremse», wie er dem Fernsehsender Welt sagte, insbesondere beim Zugriff auf Verkehrsdaten der Telekommunikation, der europarechtskonform möglich sei: «Wir haben hier eine FDP, die aus einem falsch verstandenen Rechtsstaatsgedanken Sicherheitsbehörden geschwächt hat.»
- Bessere Vernetzung von Polizei und Nachrichtendiensten: Auch dafür sprechen sich Grünen-Fraktionsvize Notz und Parlamentsgeschäftsführerin Mihalic aus. Bei Union und SPD dürfte das gut ankommen.
- Schärferes Vorgehen gegen Hassprediger: Klingbeil forderte: «Hasspredigern auf Tiktok und anderen Netzwerken müssen wir den Saft abstellen. Die Provider und Internetplattformen haben die gesetzlichen Möglichkeiten und wenn sie sie nicht ausschöpfen, muss nachgeschärft werden.»
- Ausreichende Finanzen und mehr Personal für Sicherheitsbehörden: Diese Forderung erheben sowohl Klingbeil als auch die beiden Grünen. Notz und Mihalic wollen das Thema innere Sicherheit daher als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern im Grundgesetz verankern.
Der Anlass der Debatte
Beim mutmaßlich islamistischen Anschlag von Solingen hatte ein Angreifer am Freitagabend auf einem Stadtfest drei Menschen erstochen und acht weitere verletzt. Der mutmaßliche Täter, ein 26-jähriger Syrer, sitzt in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft ermittelt unter anderem wegen Mordes und Verdachts der Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat. Diese hatte die Tat für sich reklamiert und ein Video eines Maskierten veröffentlicht, bei dem es sich um den Täter handeln soll. Er hätte eigentlich im vergangenen Jahr nach Bulgarien abgeschoben werden sollen, was aber scheiterte. Mutmaßlicher Täter ist der 26-jährige Syrer Issa Al H., der in Untersuchungshaft sitzt. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen ihn unter anderem wegen Mordes und wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Diese hatte die Tat für sich reklamiert und auch ein Video eines maskierten Mannes veröffentlicht, bei dem es sich um den Täter handeln soll. Der mutmaßliche Täter hätte eigentlich im vergangenen Jahr nach Bulgarien abgeschoben werden sollen, was aber scheiterte.