Viele Studenten wollen Deutschland verlassen. 20 Prozent von denen, die ein Jahr vor ihrem höchsten angestrebten Abschluss stehen, wollen nicht im Land bleiben. Das ergab eine repräsentative Umfrage unter mehr als 10.000 Studenten von Forschern der Universität Maastricht im Auftrag des Personaldienstleisters Jobvalley.
Es drohe „ein enormer Verlust an Fachkräften“, heißt es in einer Pressemitteilung zur Umfrage. „Wir laufen Gefahr, über 300.000 – hierzulande top ausgebildete – Arbeitskräfte zu verlieren“, erklärte Jobvalley-Chef Clemens Weitz. „Deutschland steht unter Druck und muss sich im internationalen Vergleich zu Arbeits- und Lebensbedingungen behaupten.“
Auch die Zahl der deutschen Auswanderer, die das Land dauerhaft verlassen, ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Seit dem Jahr 2005 wandern jedes Jahr mehr deutsche Staatsbürger aus, als aus dem Ausland zurückkehren. Im Schnitt waren es 47.000 Auswanderer pro Jahr beziehungsweise insgesamt knapp 900.000 Staatsbürger. Zwischen 2016 und 2023 lag die Zahl sogar bei 74.000 pro Jahr.
Die Auswanderer sind überdurchschnittlich qualifiziert. 76 Prozent haben laut einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung aus dem Jahr 2019 einen Hochschulabschluss (Gesamtbevölkerung: 25 Prozent). Im Schnitt sind sie relativ jung (36,6 Jahre) und verdienen ein Jahr nach Wegzug netto und kaufkraftbereinigt 1200 Euro mehr pro Monat.
Experte sieht keinen Brain Drain
Wido Geis-Thöne, Senior Economist für Familienpolitik und Migrationsfragen am wirtschaftsfinanzierten IW Köln, geht dennoch nicht von einem Brain Drain aus. Er untersuchte bereits in einer Studie aus dem Jahr 2022, ob Deutschland unter einer Talentflucht leidet. Laut Weis-Thöne lässt sich allein aus den Abwanderungszahlen nicht ableiten, ob ein Brain Drain stattfindet oder nicht.
Gerade im hochqualifizierten Bereich gebe es Formen der zirkulären Migration, also zeitlich begrenzte Auslandsaufenthalte, etwa an einer Hochschule oder innerhalb eines multinationalen Unternehmens. Diese seien für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes „eher positiv“.
„Entscheidend ist vielmehr, ob bei spezifischen Gruppen gut ausgebildeter Fachkräfte deutlich mehr Personen das Land verlassen, als insbesondere auch im Kontext zirkulärer Migrationsformen zuwandern“, erklärt Geis-Thöne gegenüber DWN per Email. „Mit den verfügbaren Daten lässt sich das leider nicht feststellen.“
Jedoch würden die Arbeitsmarktstatistiken „klar“ darauf hindeuten, dass Deutschland in wichtigen Bereichen des Ingenieurwesens und der Informatik aktuell per Saldo noch Fachkräfte aus dem Ausland gewinnen würde. Geis-Thöne verweist etwa auf die „sehr dynamische Entwicklung“ bei Indern, die häufig im hochqualifizierten IT-Bereich tätig seien.
Auswanderungsstatistik ist verzerrt
Der Ökonom gibt außerdem zu bedenken, dass die Auswandererstatistik verzerrt sein könnte. Bei einer Auswanderung sollen Deutsche nämlich ihren Wohnsitz in Deutschland beim Einwohnermeldeamt abmelden, was aber nicht alle Auswanderer tun würden.
Werde nach einiger Zeit festgestellt, dass ein Auswanderer nicht mehr an der aktuellen Meldeadresse wohne, erfolge eine sogenannte Abmeldung auf Amtswegen. Bis in die 2010er-Jahre wurden Abmeldungen auf Amtswegen nicht in die Wanderungsstatistik aufgenommen, aber inzwischen sei das der Fall, um die Statistik mit anderen Ländern zu harmonisieren.
Dass daher die Auswanderungszahlen höher seien als früher, sei „ein statistisches Artefakt“. Etwa würden nun auch sämtliche Personen, die obdachlos würden, als Auswanderer gezählt, erklärt Geis-Thöne.
Laut der Statistik sind zwischen 2005 und 2015 nur 24.000 Deutsche Staatsbürger pro Jahr mehr ausgewandert, als aus dem Ausland zurückkehrten. Ab dem Jahr 2016, in dem die Statistik umgestellt wurde, waren es 74.000 pro Jahr (bis einschließlich 2023).
Weniger Einwanderung von EU-Bürgern
Dennoch ist der Trend auch bei EU-Einwanderern zu beobachten: Im Jahr 2014 wanderten noch knapp 400.000 EU-Bürger pro Jahr mehr ein, als auswanderten. Seit dem Jahr 2019 waren es nur noch etwa 150.000 pro Jahr, wie das BAMF im „Freizügigkeitsmonitoring: Jahresbericht 2023“ berichtet.
Zudem sind die 5,1 Millionen EU-Bürger, die im Jahr 2023 in Deutschland lebten, eher gering qualifiziert. 39 Prozent erledigten eine Tätigkeit auf Helferniveau, für die keine Ausbildung nötig ist. Bei Deutschen liegt der Helfer-Anteil bloß bei 12 Prozent. Der Anteil der Hochqualifizierten lag nur bei 15 Prozent (Deutsche: 31 Prozent).
Wido Geis-Thöne findet den starken Rückgang bei den EU-Einwanderern aber nicht überraschend. Die hohe Zuwanderung der 2010er-Jahre müsse man im Kontext der vollständigen Freizügigkeit betrachten, die den neuen EU-Ländern in den Jahren 2011, 2014 und 2015 gewährt worden sei.
Auch beim hohen Helfer-Anteil müsse man etwas vorsichtig sein, „da das Anspruchsniveau der Tätigkeiten nicht unbedingt dem Qualifikationsniveau der Personen entsprechen muss und wir auch noch viele EU-Ausländer in saisonalen Beschäftigungen haben, etwa in der Landwirtschaft“.
So bewerten Einwanderer Deutschland
Im Human Flight and Brain Drain Index liegt Deutschland auf Rang 161 von 175 Ländern weltweit. Der Index misst auf einer Skala von 0 bis 10, ob Politiker und Arbeitskräfte ein Land verlassen und berücksichtigt unter anderem das Qualifikationsniveau der Auswanderer. Je weiter unten ein Land in dem Index liegt, desto weniger leidet es unter einer Talentflucht.
Im Schnitt lagen die Länder im Jahr 2024 bei 4,98 Punkten, wobei Samoa mit 10 Punkten am meisten betroffen war, während Australien mit 0,3 Punkten am wenigsten unter einer Talentflucht litt. Deutschland erhielt 1,6 Punkte (Österreich: 1,6; USA: 1,4; Schweiz: 0,9).
In Umfragen unter Einwanderern schneidet Deutschland hingegen schwach ab. In dem Ranking Expat Insider 2024 lag die Bundesrepublik auf Rang 50 von 53 Ländern. Das war das schlechteste Ergebnis seit Beginn der Erhebung, die vom Auswanderer-Netzwerk Internations seit dem Jahr 2014 veröffentlicht wird.
Besonders bemängelten die Einwanderer die Bürokratie, mangelnde Digitalisierung, den angespannten Wohnungsmarkt, die schwere Sprache und die verschlossene Mentalität der Deutschen.
Die befragten Studenten in der Jobvalley-Umfrage nannten vor allem drei Gründe für ihren Auswanderungswunsch: Der generell unattraktive Standort, die belastende und komplizierte Bürokratie sowie bessere Jobchancen oder Gehälter im Ausland.
Auch Geis-Thöne hält es für möglich, dass Deutschland künftig in wichtigen Arbeitsmarktbereichen im Saldo keine Fachkräfte aus dem Ausland anziehen kann. „Nach wie vor haben die angelsächsischen Länder nämlich auch großes Interesse an international mobilen, gut ausgebildeten Fachkräften“, erklärt er und fügt an: „Dabei haben sie nicht nur den Vorteil der englischen Sprache, sondern vor dem Hintergrund einer geringeren Betroffenheit vom demografischen Wandel auch günstigere Entwicklungsperspektiven.“