Politik

Warum sich Ungarn „Viktor Donald Scholz“ wünscht - und eine Zeitmaschine

Ungarn hat im Sommer die EU-Ratspräsidentschaft übernommen – ist jedoch ausgegrenzt und weitgehend isoliert. Nicht erst seit dem unerbittlichen Kurs Viktor Orbáns in Migrationsfragen ist die Beziehung zu Deutschland zerrüttet. Es scheinen tief verletzte Gefühle im Spiel zu sein.
03.12.2024 16:01
Lesezeit: 5 min
Warum sich Ungarn „Viktor Donald Scholz“ wünscht - und eine Zeitmaschine
Möchte die Zeit zurückdrehen in Europa: der Botschafter Ungarns in Berlin: Dr. Péter Györkös. (Foto: Ungarische Botschaft)

Die Zeit der EU-Präsidentschaft geht zu Ende. Die ungarische Botschaft hat Journalisten zu einem Austausch mit Dr. Péter Györkös, dem Statthalter Viktor Orbáns, in die Berliner Vertretung Unter den Linden geladen. Nicht ganz von ungefähr befindet sich diese vis-à-vis der russischen Botschaft – und das augenscheinlich nicht nur in räumlicher Nähe.

Ungarn erwartet, dass sich Europa „Schritt für Schritt“ bewegt – back in time

Györkös, ein ausgewiesener Deutschland-Kenner und Zeitzeuge des Mauerfalls in Berlin, ließ in dem offenen Gespräch keinen Zweifel daran, dass sich sein Ministerpräsident ein anderes Deutschland wünscht – und ein Zurück in eine andere Europäische Union. Er gab sich freilich davon überzeugt, dass in Europa allmählich „die Mehrheit Schritt für Schritt in eine andere Richtung geht“.

Man könnte sagen, das Gespräch mit Györkös verlief überraschend undiplomatisch. Auf Höflichkeiten oder gar Nettigkeiten wurde gleich nach dem Auftaktgeplänkel verzichtet. Ein Fragenkatalog des Deutschen Journalistenverbandes wurde vom Botschafter von vornherein übergangen. Er stellte zunächst einmal fest, wie wohltuend die „journalistische Meinungsvielfalt in Budapest“ sei im Vergleich zum „Mainstream der Medien in Deutschland“. Die FDP würde es vermutlich ein offenes Feldgefecht nennen. Györkös stellte die Position seines Ministerpräsidenten unmissverständlich dar. Es komme Orbán „nicht darauf an, was über ihn in den Zeitungen geschrieben wird“. Györkös selbst offenkundig auch nicht!

So fragte man sich schnell, was die Einladung in die ungarische Botschaft eigentlich sollte. Györkös verstörte mit seinen Erklärungen. Etwa, „wie schwer die ungarische Sprache“ sei. Und dass dies vermutlich erkläre, warum so viel Falsches in unseren Zeitungen stehe, vor allem in der „Bayern-Prawda“ – sprich: der „Süddeutschen Zeitung“. Nur die Sache mit „Viktor Donald Trump“ und seiner Kreml-Reise führe seiner Meinung nach in die richtige Richtung – zurück in der Zeit.

„Sputnik“ als Impfstoff war klasse und alle anderen in der EU sind Geisterfahrer

Und so ging es munter weiter. Wie gut den Ungarn „Sputnik“, der russische Impfstoff bekommen sei. Dass die „Lufthoheit über dem Kinderbett“ nicht der Staat haben dürfe, sondern allein die Eltern. Dass die Ungarn andere Werte hätten, keine Schwulen-Ehe hinnehmen wollen, und dass die andere Vorstellungen über das Miteinander in Europa „von den anderen Mitgliedern in der Europäischen Union akzeptiert werden müssen“.

Auch Belehrungen mochte sich der Botschafter nicht verkneifen: „Rechts zu sein ist kein Schimpfwort. Deswegen ist man nicht gleich ein Nazi.“ Stimmt natürlich, kommt nur darauf an, wer das und vorträgt (und vor allem wo). Frau Le Pen? Frau Meloni? Die AfD in Deutschland oder ungarische Besserwisser, die im Stile der unseligen Pfeilkreuzler die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit in unseligen Zeiten vor 1945 endlich hinter sich lassen möchten.

Alles wirkte beinahe so, als habe Viktor Orbán eine Zeitmaschine bestellt, die ihn und sein Land zurück beamen soll. Nicht gleich ins Jahr 1956, als die russischen Panzer durch Budapest rollten, oder gar in die Vorkriegszeit, als alles noch familiär in bester Ordnung war und „die schwäbische Hausfrau“ und „der deutsche Ordnungssinn“ noch Vorbilder waren für die Ungarn. Aber doch mindestens in das Jahr 2004, als die EU eine andere war. Nämlich die, in die Ungarn seinerzeit eingetreten ist. Wegen der Subventionen?

Kontroverser Meinungsaustausch mit einer Orbán-Sprechpuppe

So wie die meisten der Journalisten bereits mit ihren Augen rollten und vermutlich innerlich fragten, wie es eigentlich die Staatschefs der anderen Länder mit dem Sonderling Orbán aushalten, verlief auch der kontroverse Meinungsaustausch mit seiner Berliner Sprechpuppe. Und so drängte sich immer mehr im Verlauf der 90-minütigen Diskussion die Frage auf: Wer wohl eigentlich als Erstes die Nerven verliert? Wann (und vor allem wie) kann die EU Ungarn vor die Tür setzen, die zwar vom Wirtschaftsraum Europa profitieren will, aber die Werte Europas und jegliche gesellschaftliche Veränderungen und Liberalisierung in der Union rundweg für sich ablehnt? Oder ob womöglich das südosteuropäische Land selbst absehbar die Tür von außen zuschlägt?

Doch so weit würde Ungarn vermutlich nie gehen, mit einem Haushalt, der nach den Angaben des Botschafters „zu 86 Prozent vom Export abhängt“ (also noch viel mehr als unsere Ausfuhren von in Spitzenzeiten gut 50 Prozent in Deutschland). In seiner Abhängigkeit von der deutschen Automobilindustrie und der „Vernetzung Ungarns mit dem süddeutschen Raum“. Auch den Nato-Luftraum werden ungarische Abfangjäger beim Air Policing natürlich pflichtschuldig weiter schützen.

Nur auf Empathie und klare Worte in Sachen Ukraine wird man wohl weiter verzichten müssen. „Doch, doch“, versichert Györkös, Viktor Orbán habe Putins Vorgehen „bereits mehrfach einen imperialistischen Angriffskrieg“ genannt, was nur in der deutschen Berichterstattung unter den Tisch gefallen sei – was nicht nur die Kollegin vom Deutschlandfunk fassungslos und konsterniert zurückließ. Orbán sehe sich bei seiner Einschätzung, der Krieg gegen Russland sei nicht zu gewinnen, inzwischen auch durch den Ausgang der Wahlen in Amerika bestärkt. Trump werde wie Orbán (und immer mehr andere in Europa) die Fakten zur Kenntnis nehmen und andere Prioritäten setzen als Vorgänger Joe Biden. Daran ließ Botschafter Györkös keinen Zweifel und erwähnte geradezu triumphal, dass Orbán ja seit Jahren schon freundschaftliche Kontakte zu Donald Trump pflege und ihn allein in diesem Jahr „schon zweimal in Mar-a-Lago besucht“ habe. „Beständig nur Mantras zu wiederholen“, so Györkös wörtlich, „dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren dürfe, das führt zu nichts“.

Wie Merkels „Sündenfall“ die Ungarn und Deutschland 2015 auseinander trieb

Bei so viel Polemik hatte man bereits fast wieder vergessen, wie sehr Györkös eigentlich „die Deutschen und ihre Traditionen zu schätzen gelernt“ habe – vor Angela Merkels „Sündenfall“ anno 2015. „Das waren ja damals nicht etwa ungarische Flüchtlinge“, erinnerte der Botschafter. Denn in Ungarn „gab es ja gar keine“. Sämtliche freundliche Hinweise auf das gute Verhältnis zu Deutschland – alles verklang an diesem Dienstagmorgen wie in einem entfernten Nebel. Soll man ich freuen? Dass deutsche Zuwanderer derzeit die katastrophale Demografie Ungarns zu retten versuchen (und dabei mitgeholfen haben, die Geburtenrate von Faktor 1.24 auf immerhin 1,65 zu erhöhen)?

Wo doch sonst strikt Migration in Ungarn abgelehnt wird und die Magyaren Europa unsolidarisch mit dem Problem allein lassen. „Ungarn will keine Einwanderungsgesellschaft sein“, sagte Györkös, noch mal zum Mitschreiben. Und, gut aufgepasst! Bei den deutschen Einwanderern „handelt es sich ja nicht um Migration, sondern um Freizügigkeit“. Auch seine Familie sei ja mal vor Urzeiten aus dem Raum Baden-Württemberg in Richtung Plattensee aufgebrochen und habe „die alten deutschen Tugenden der schwäbischen Hausfrau verinnerlicht“.

Doch so ein schönes Bonmot von Peter Györkös: Man solle doch, bitte schön, „nicht große Autorität immer gleich mit autoritärer Politik verwechseln“ – oder „autokratischen Zügen“, wie ein Kollege spitz einwarf. So bleibt nur die zunehmend verblassende Erinnerung, dass es maßgeblich die Ungarn waren, denen wir die Deutsche Einheit verdanken – wegen ihres besonders eigentümlichen Verhältnisses zu Zäunen anno 1989 und 2015. Wie aber jetzt auch bei Brandmauern – also dem Verhältnis zu rechten Parteien wie der AfD und den vermeintlichen Patrioten im EU-Parlament, jener maßgeblich von Orbán bestimmten Fraktion der ungarischen Fidesz-Partei. Wie sagten es die Briten so schön, als sie noch Teil des europäischen Straßennetzes waren: alles Geisterfahrer in Europa, nur wir nicht!

avtor1
Peter Schubert

Peter Schubert ist stellv. Chefredakteur und schreibt seit November 2023 bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Immobilienthemen. Er hat in Berlin Publizistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaften an der Freien Universität studiert, war lange Jahre im Axel-Springer-Verlag bei „Berliner Morgenpost“, „Die Welt“, „Welt am Sonntag“ sowie „Welt Kompakt“ tätig. 

Als Autor mit dem Konrad-Adenauer-Journalistenpreis ausgezeichnet und von der Bundes-Architektenkammer für seine Berichterstattung über den Hauptstadtbau prämiert, ist er als Mitbegründer des Netzwerks Recherche und der Gesellschaft Hackesche Höfe (und Herausgeber von Architekturbüchern) hervorgetreten. In den zurückliegenden Jahren berichtete er als USA-Korrespondent aus Los Angeles in Kalifornien und war in der Schweiz als Projektentwickler tätig.

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Du bist mir eine Marke! Der Erfolg von 130 Jahren Falke-Socken
14.03.2025

Franz-Peter Falke leitet das Familienunternehmen im Sauerland in vierter Generation. Zwischen Wahren der Tradition und Wappnen für die...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Betriebsbedingte Kündigung: Was gilt für Arbeitgeber und Arbeitnehmer?
14.03.2025

Die andauernde Wirtschaftskrise führt in Deutschland zu immer mehr Firmenpleiten und zunehmenden Stellenabbau bei Unternehmen. Damit...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Tesla: Trump-Zölle könnten dem E-Autobauer schaden
14.03.2025

Tesla-Chef Elon Musk gilt als Trump-Unterstützer – doch sein Unternehmen schlägt Alarm. Die Strafzölle der US-Regierung könnten nicht...

DWN
Politik
Politik 100 Milliarden für Klimaschutz: Einigung zwischen Union, SPD und Grünen
14.03.2025

Ein Milliarden-Paket für Verteidigung und Infrastruktur sorgt für politische Bewegung. Nach zähen Verhandlungen haben Union, SPD und...

DWN
Politik
Politik BSW: neues Wahlergebnis zählt 4.277 Zweitstimmen mehr - trotzdem kein Einzug in den Bundestag
14.03.2025

Das BSW scheitert final am Einzug in den Bundestag: 0,02 Prozent fehlten! Während sich an der Sitzverteilung nichts mehr ändert, treten...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Unser neues Magazin ist da: Gesund arbeiten und gesund leben? Die Balance auf der Kippe
14.03.2025

Unsere Arbeitswelt hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verändert. Digitalisierung, Globalisierung und die ständige...

DWN
Unternehmen
Unternehmen BMW-Aktie: Gewinn beim Hersteller BMW sackt ab - die ganz fetten Jahre sind vorbei
14.03.2025

Nach Jahren extremer Erträge geht es für die Autohersteller gerade abwärts. Doch selbst nach den aktuellen Einbrüchen verdienen...

DWN
Politik
Politik Grüne blockieren schwarz-rotes Finanzpaket – Streit um Europas Zukunft
14.03.2025

Die Grünen stellen sich gegen das Finanzpaket von Union und SPD. Fraktionschefin Katharina Dröge fordert, Verteidigungs- und...