Wirtschaft

Nahost: Syrien nach Machtwechsel vor ungewisser Zukunft

Seit Beginn der Blitzoffensive der islamistischen Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) starben 910 Menschen. Können sich die verschiedenen Kräfte im Land über die Machtverteilung einigen? Oder kommt es zu Gewalt und Chaos sowie neuen Konflikten im Nahen Osten? Der Überblick.
09.12.2024 11:08
Aktualisiert: 09.12.2024 16:02
Lesezeit: 4 min

Nach dem blitzartigen Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad steht das Land vor einer ungewissen Zukunft. Die Flucht Assads und seiner Familie nach Russland bietet die Chance für einen Neubeginn nach Jahrzehnten Diktatur und fast 14 Jahren Bürgerkrieg mit Hunderttausenden Toten und Millionen Vertriebenen. Vieles hängt davon ab, ob sich die verschiedenen Rebellengruppen auf eine Verteilung der Macht einigen können – oder ob ein Machtvakuum zu neuer Gewalt führt und Syrien mit seinen ethnischen und religiösen Minderheiten im Chaos versinkt. Was in dem Land nach Assads Sturz folgt, könnte neue Konflikte in der Region auslösen.

UN-Sicherheitsrat berät über Syrien

Geir Pedersen, der Sondergesandte der Vereinten Nationen für Syrien, mahnte, „Blutvergießen zu vermeiden“. Er rief zum Dialog und zur Vorbereitung einer Übergangsregierung in dem Land auf, in dem bewaffnete Kräfte und ausländische Mächte seit langem um Einfluss ringen. Der UN-Sicherheitsrat in New York will auf Antrag Russlands heute hinter verschlossenen Türen über die Lage in Syrien beraten. Die Beratungen sollen am Abend deutscher Zeit stattfinden.

Russland gewährt Assad Asyl

Rebellen unter der Führung der islamistischen Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) hatten in der Nacht zum Sonntag die Kontrolle über die syrische Hauptstadt Damaskus übernommen und damit das Ende der mehr als zwei Jahrzehnte andauernden Herrschaft Assads eingeläutet. Seit Beginn der Großoffensive der Rebellen starben nach Angaben von Aktivisten 910 Menschen. Darunter seien 138 Zivilisten, auch mehrere Kinder, meldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Russland gewährte derweil Assad und seiner Familie laut Kreml-Angaben aus humanitären Gründen Asyl.

Gemischte Reaktionen in der Region

„Wir sehen eine große Veränderung in der Region. Die Türkei ist stärker geworden, Russland ist schwächer geworden, der Iran ist schwach geworden“, zitierte das „Wall Street Journal“ einen syrischen Oppositionspolitiker. „Aber es sind die Syrer, die jetzt eine große Rolle spielen werden, nicht wie früher“, sagte er.

Die Türkei rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, einen geordneten Übergang in Syrien zu unterstützen. Ankara trage maßgeblich die Verantwortung dafür, dass dieser Prozess zu mehr Stabilität und zu einer Rückkehr der Flüchtlinge führt, sagte Charles Lister, Direktor des Syrien-Programms am Middle East Institute, der Zeitung. Es müsse darum gehen, ein neues Syrien zu schaffen und zu verhindern, dass es zu einem neuen Bürgerkrieg kommt.

Syrien müsse sicher und stabil bleiben, zudem müssten Konflikte vermieden werden, die „zu Chaos führen“, sagte Jordaniens König Abullah II nach Angaben des Hofes. Er respektiere den „Willen und die Entscheidungen des syrischen Volks“. In Jordanien, das an Syrien grenzt, leben viele syrische Flüchtlinge. Ägyptens Außenministerium forderte einen umfassenden politischen Prozess, um eine „neue Phase innerer Harmonie“ und eines Friedens zu schaffen.

Das saudische Außenministerium teilte mit, das Königreich stehe den Syrern und deren Entscheidungen „in dieser entscheidenden Phase der syrischen Geschichte“ zur Seite. Die Einheit und der Zusammenhalt Syriens müsse geschützt werden, hieß es. Das Außenministerium in Katar rief dazu auf, „nationale Einrichtungen und die staatliche Einheit“ zu bewahren, um ein Abdriften des Landes ins Chaos zu verhindern. Auch Katar stehe „unerschütterlich“ hinter dem syrischen Volk und dessen Entscheidungen.

Biden: US-Soldaten bleiben in Syrien

Der scheidende US-Präsident Joe Biden kündigte unterdessen an, dass amerikanische Soldaten bis auf Weiteres in Syrien bleiben werden. Die USA ließen nicht zu, dass die Terrormiliz IS dort das Machtvakuum nutzen könne, um den eigenen Einfluss wieder auszubauen, sagte Biden. Er sieht den Sturz von Assad auch als Folge seiner eigenen Außenpolitik. „Die wichtigsten Unterstützer von Assad waren der Iran, die Hisbollah und Russland“. Zuletzt sei deren Unterstützung aber zusammengebrochen, „denn alle drei sind heute viel schwächer, als sie es bei meinem Amtsantritt waren“, sagte Biden.

Die US-Regierung werde Syriens Nachbarländer, darunter Jordanien, den Libanon, den Irak und Israel, unterstützen, falls in der Übergangsphase eine Bedrohung von Syrien ausgehen sollte, sagte Biden weiter. Er werde in den kommenden Tagen mit Staats- und Regierungschefs in der Region sprechen und ranghohe Beamte dorthin entsenden, so der US-Präsident. „Dies ist ein Moment erheblicher Risiken und Unsicherheit“. Es sei aber zugleich für die Syrer die beste Chance seit Generationen, ihre eigene Zukunft zu gestalten.

Israel verlegt Truppen in Pufferzone

Israel verlegte derweil seine Streitkräfte in die Pufferzone auf den besetzten Golanhöhen und anderen Orten, darunter auch auf der syrischen Seite des Berges Hermon. „Seit gestern Abend sind wir an vier Fronten im Kampfeinsatz. Die Bodentruppen kämpfen an vier Fronten: gegen den Terrorismus in Judäa und Samaria, im Gazastreifen, im Libanon, und gestern Abend haben wir Truppen in syrisches Gebiet verlegt“, sagte Israels Generalstabschef Herzi Halevi. „Wir werden es keiner feindlichen Kraft erlauben, sich an unserer Grenze zu positionieren“, betonte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu.

Die israelische Luftwaffe flog laut Aktivisten nach dem Sturz Assads Angriffe im Raum der syrischen Hauptstadt Damaskus. Das Militär habe in der Nähe des Militärflughafens angegriffen, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Auch im Osten Syriens habe es Angriffe gegeben. Demnach wurden Waffenlager des syrischen Militärs und proiranischer Milizen getroffen. Zuvor hatte Israels Luftwaffe nach Medienberichten eine Chemiewaffenfabrik angegriffen aus Sorge, die Waffen könnten in die Hände von Rebellen fallen. Die israelische Armee äußerte sich dazu nicht.

Iran: Widerstand gegen Israel geht weiter

Der Iran betonte derweil, der Sturz Assads werde den Widerstand gegen Israel nicht stoppen. „Der Machtwechsel in Syrien könnte den weiteren Kurs der Widerstandsfront gegen das zionistische Regime (Israel) kurzfristig beeinträchtigen, aber definitiv nicht aufhalten“, sagte Außenminister Abbas Araghtschi. Der Widerstand gegen Israel sei „eine ideologische Mission und kein klassischer Krieg“ und gehe daher weiter, sagte er dem Staatssender Irib.

Kriegsforscher: Putins Glaubwürdigkeit beschädigt

Der plötzliche Sturz des von Russland unterstützten syrischen Machthabers Assad erschüttert nach Ansicht des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) auch die Glaubwürdigkeit von Kremlchef Wladimir Putin bei dessen Verbündeten. Putin habe autoritäre Machthaber in verschiedenen Ländern vor Protesten gegen ihre Herrschaft geschützt, um sein Ziel einer multipolaren Weltordnung mithilfe ausländischer Partner zu befördern und die Vormachtstellung der USA zu untergraben, schreibt das Institut in einer aktuellen Lageeinschätzung.

„Russlands Unfähigkeit oder bewusster Verzicht darauf, Assads Regime trotz des schnellen Vorrückens der Oppositionskräfte im ganzen Land zu stärken, wird auch Russlands Glaubwürdigkeit als verlässlicher und effektiver Sicherheitspartner in der ganzen Welt beschädigen“, heißt es in der Analyse.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Technologie
Technologie Arbeitsmarkt: Top-Berufe, die es vor 20 Jahren noch nicht gab
31.03.2025

Eine Studie von LinkedIn zeigt, wie Künstliche Intelligenz (KI) neue Jobs und Fähigkeiten schafft, Karrieren und Arbeitswelt verändert:...

DWN
Finanzen
Finanzen Commerzbank-Aktie: Kurs knickt nach Orcel-Aussage deutlich ein
31.03.2025

Die Commerzbank-Aktie muss nach einer starken Rallye einen Rückschlag hinnehmen. Unicredit-Chef Andrea Orcel hatte zuvor einen möglichen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft EU vor Herausforderungen: Handelskriege könnten die Wirtschaft belasten – der Ausweg heißt Binnenmarkt
31.03.2025

Die protektionistischen Maßnahmen der USA und mögliche Handelskonflikte belasten die EU-Wirtschaft. Experten wie Mario Draghi fordern...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Betonblock: Lego verklagt Hersteller von Anti-Terror-Betonklötzen
31.03.2025

Lego verklagt das niederländische Unternehmen Betonblock. Die Anti-Terror-Blöcke des Herstellers erinnerten zu sehr an die...

DWN
Technologie
Technologie Neue EU-Vorschriften: Plug-in-Hybriden drohen deutlich höhere CO2-Emissionen
31.03.2025

Mit der Einführung neuer, verschärfter Emissionsmessungen für Plug-in-Hybride (PHEVs) wird die Umweltbilanz dieser Fahrzeuge erheblich...

DWN
Politik
Politik Marine Le Pen wegen Veruntreuung zu Fußfesseln verurteilt - FN-Chef Bardella: "Hinrichtung der französischen Demokratie"
31.03.2025

Marine Le Pen wurde in Paris wegen der mutmaßlichen Scheinbeschäftigung von Mitarbeitern im Europaparlament schuldig gesprochen - das...

DWN
Technologie
Technologie Balkonkraftwerk mit Speicher: Für wen sich die Investition wirklich lohnt
31.03.2025

Balkonkraftwerk mit Speicher: eigenen Strom gewinnen, speichern und so Geld sparen. Doch so einfach ist es leider nicht, zumindest nicht...

DWN
Finanzen
Finanzen US-Börsen: Der Handelskrieg gefährdet die US-Ausnahmestellung
31.03.2025

Da Investitionen nach neuen Möglichkeiten abseits der zuletzt florierenden US-Finanzmärkte suchen, wird an der Wall Street diskutiert, ob...