Deutschlands Arbeitsmarkt kämpft schon lange mit einem vermeintlichen Fachkräftemangel. Indessen bedroht eine neue Disruption den Wohlstand des Landes: ein massiver Stellenabbau in den Kernindustrien Deutschlands. Zwischen 30 und 50 Prozent aller deutschen Unternehmen möchten Jobs abbauen, insbesondere in der Industrie. Etwa beabsichtigt ThyssenKrupp bis zum Jahr 2030 rund 11.000 Stellen zu streichen. Ähnliche Maßnahmen ergreifen Konzerne wie Volkswagen, Ford, Miele und Bosch.
Die vormals wichtigsten Branchen Deutschlands, die Kfz-Industrie, der Maschinenbau, die Metall- und die Chemieindustrie, sehen sich seit mehreren Jahren mit Exporteinbußen konfrontiert. Der wachsende Konkurrenzdruck ausländischer Anbieter, horrende Energie- und Personalkosten sowie ein Brain-Drain in die USA zulasten Deutschlands sind nur einige Gründe dafür. KI und Robotik, aber auch klassische technische Veränderungen treiben den Wandel voran, so schwindet der Bedarf an Kfz-Mechatronikern, da Elektroautos deutlich einfacher zu bauen und zu reparieren sind als klassische Verbrenner.
Ein Wermutstropfen: Durch den drastischen Stellenabbau seit Beginn des Ukrainekriegs entschärfte sich die Fachkräftelücke in Deutschland. Die Zahl offener Arbeitsstellen erreichte im Jahr 2022 mit knapp 845.000 ihren Zenit, sank dann aber rapide und stagniert jetzt bei 632.000 (Stand 2024). Und schon jetzt gibt es mit knapp 2,8 Millionen erwerbslosen Personen mehr Arbeitslose als zu besetzende Stellen im gesamten Bundesgebiet, je nach Bundesland kommen bis zu sechs Personen auf eine unbesetzte Stelle. Warum, fragen sich manche Unternehmer zurecht, sollten die entlassenen Arbeitnehmer nicht einfach umgeschult und in neue Stellen eingesetzt werden?
Wenn Mechaniker zu Altenpflegern geschult werden sollen: Deutschlands schwieriger Weg zum Dienstleistungsstaat
Trotz der scheinbar günstigen Konstellation vieler Arbeitsloser auf relativ wenige offene Stellen wird von einer Transformationskrise der deutschen Wirtschaft gesprochen. So stagniert die Zahl unbesetzter Stellen in den neuen Kernbranchen der deutschen Volkswirtschaft. Viele Entlassene schaffen nicht die Neuorientierung in ein völlig neues Berufsfeld.
Fachkräfte werden besonders in Handwerksberufen und im MINT-Bereich, aber auch in der Produktion und Fertigung, im Bau und der Gebäudetechnik sowie der Lehre und Erziehung und Alten- und Krankenpflege gesucht. Auch Berufe zur Bewältigung der Energiewende gewinnen an Bedeutung. Im Jahr 2024 blieben etwa in der Bauelektrik, einem Schlüsselberuf für die Energiewende, 18.343 Stellen unbesetzt, in der elektrischen Betriebstechnik tat sich eine Lücke von 14.218 unbesetzten Stellen auf.
Besonders groß ist laut dem Statistischen Bundesamt der Bedarf an Pflegekräften: Bis zum Jahr 2049 würden bis zu 2,15 Millionen Pflegefachkräfte gebraucht werden. Würde sich der Trend an Neueinstellungen von heute fortsetzen, entstünde ein Minus von 280.000 Pflegekräften.
Roboter als Hilfe, nicht als Ersatz: Warum nicht mehr vom „Ende der Arbeit“ gesprochen wird
Derzeit profitiert die globale Wirtschaft von einem Boom der künstlichen Intelligenz (KI), der bald auch den Erfolgszug der Robotik loslösen könnte. Optimistische Stimmen sehen in der bevorstehenden Automatisierungswelle das „Ende der Arbeit“, wie es im gleichnamigen Buch von 1995 des Ökonomen Jeremy Rifkin beschrieben wurde. Nur tritt dieses Ende der Arbeit bislang nicht ein.
Rifkin vermutete, dass bis zum Jahr 2020 nur noch 2 Prozent aller Erwerbstätigen in der Industrie arbeiten würden, die bis dahin weitgehend automatisiert wäre. Diese Prognose wurde deutlich falsifiziert: Heute arbeiten 23 Prozent aller Deutschen in der Industrie und dem verarbeitenden Sektor und werden dabei von Robotern und KI-Modellen eher unterstützt als ersetzt.
Schätzungen gehen indessen davon aus, dass in den nächsten 10 Jahren 5 Prozent aller Jobs gänzlich automatisiert werden. 50 Prozent aller Jobs würden aber durch KI maßgeblich verändert werden. Die disruptive Kraft der KI und Robotik bezöge sich demzufolge auf Gehälter und die Anforderungen an Arbeitskräfte, würde aber die menschlichen Arbeiter vorerst nicht ersetzen.
Einwanderung, Investitionen und Weiterentwicklung als Lösung?
Somit ist keine einfache Lösung in Sicht, es bleibt bei der komplizierten Gemengelage aus konjunkturellen und strukturellen Faktoren, die zum Paradox der hohen Erwerbslosigkeit bei gleichzeitig hohen Stellenausschreibungen geführt haben. Auch Prof. Dr. Enzo Weber, Leiter des Bereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“ am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und Professor an der Universität Regensburg, sieht die deutsche Wirtschaft in einer Schwächephase mit ungewissem Ausgang.
Die Gründe dafür seien vielfältig. Weber zitiert die Agenturen für Arbeit, die im IAB-Arbeitsmarktbarometer zur derzeitigen Lage am Arbeitsmarkt befragt wurden. Diese sehen in erster Linie die Konjunktur als Hauptgrund für die diversen Krisen, die Deutschlands Wirtschaft heimsuchen. Seit 2024 befinden auch bis zu 40 % der Befragten, dass auch Transformationsprobleme und regionale Besonderheiten immer wichtigere Gründe für Stellenabbau einerseits und Fachkräftemangel andererseits sind. Seit Herbst 2023 wird diesen beiden Kategorien eine immer wichtigere Rolle zugesprochen.
Die Covid-Pandemie und der Ukrainekrieg können somit nicht als alleinige Gründe für die Schwierigkeiten am deutschen Arbeitsmarkt betrachtet werden. Weber mutmaßt, der Arbeitsmarkt gerate immer mehr unter Druck. Die Konjunkturschwäche sei hartnäckig, strukturelle Probleme seien immer bedeutender. Eine längere Kurzarbeit, Teilzeitbeschäftigungen und sogar Homeoffice könnten den strukturellen Wandel verzögern. Doch aufhalten lasse sich vor allem der demographische Trend nicht. Selbst wenn Arbeitnehmer zur Weiterarbeit auch nach Erreichen des Renteneintrittsalters motiviert würden, könne der Trend zum Ausscheiden von Erwerbstätigen zulasten immer weniger Nachwuchskräfte nicht aufgehalten werden.
- Innerbetriebliche Weiterentwicklung sei daher essenziell. Die Wirtschaft muss erneuert werden, mittels Investitionen, Innovationen, Gründungen und der Skalierung neuer Geschäftsmodelle. Unter anderem sieht Weber in folgenden Bereichen Handlungsbedarf:
- Weiterentwicklungen statt Umschulungen. Technische Fähigkeiten in den Bereichen Chemie, Maschinenbau, Energie, Klima und Elektro seien in Deutschland traditionell stark vertreten, diese müssten weiterentwickelt werden, um Arbeitnehmer auf neue Aufgaben vorzubereiten.
- Fachkräftesicherung im In- und Ausland. Älteren Arbeitnehmern müssten attraktive Angebote zur Weiterarbeit gemacht werden, jüngere müssten niedrigschwellige Angebote zur Berufsausbildung erhalten. Die Fachkräfteeinwanderung müsste weiter vereinfacht und von bürokratischen Hürden befreit werden.
- Von der Bundesregierung erhofft sich Weber eine antizipierbare Wirtschaftspolitik, die Unsicherheiten für Investitionen senkt und die Infrastruktur verlässlich ausbaut.
Warum auch Service-Roboter und Atomkraft zur Debatte stehen müssen
Webers Forderungen lassen genügend Interpretationsspielraum zu, um auf unterschiedliche Branchen übertragen zu werden. Doch der Wirtschaftsweise spricht einige Potenziale nicht an, die in anderen Ländern zur Lösung der Transformationskrise längst eingesetzt werden.
- Atomkraft, etwa durch modulare und günstig produzierbare Minireaktoren, wird von Weber nicht debattiert, könnte aber den Bedarf für Berufe für Energiewende mindern und gleichzeitig die horrenden Strompreise senken, die den Standort Deutschland fraglos unattraktiv machen. In unmittelbarer Nachbarschaft Deutschlands erfährt Atomkraft ein Comeback, so etwa in Italien, Großbritannien und Frankreich. Auch die CDU kündigte nach der Wahl an, der Kernkraft eine größere Rolle im deutschen Energiemix einzuräumen. Warum Deutschland an der Energiewende festhält, die maßgeblich von chinesischen Zulieferern abhängt und tausende Arbeitskräfte verschlingt, ist weder aus geopolitischer noch aus wirtschaftlicher Sicht verständlich.
- Auch Steuersenkungen und ein gleichzeitiger Bürokratieabbau werden bei Weber nicht diskutiert, obwohl beides dazu beitragen könnten, dass junge Arbeitnehmer sich lieber weiterentwickeln lassen, als auszuwandern oder sich in bequemere Teilzeitverhältnisse zurückzuziehen.
- Eine pauschale Öffnung der Grenzen für vermeintliche Fachkräfte konnte überdies den Fachkräftemangel nicht beseitigen, im Gegenteil. Seit über 60 Jahren wandern Menschen nach Deutschland ein, sie können den demografischen Wandel der Bundesrepublik aber mitnichten aufhalten oder umkehren. Trotz des unbestreitbaren Werts eingewanderter Arbeitskräfte lohnt es daher nicht, ihnen transformative Kräfte zuzusprechen, die sie schlichtweg nicht besitzen.
- Robotik und KI werden derweil pauschal als Hilfsmittel gewertet, die nicht das Potenzial besitzen, Arbeitskräfte langfristig zu ersetzen. Entsprechend leise ist der Ruf nach Investitionen in beide Gebiete — während Länder wie China, die USA und Japan erfolgreich zeigen, dass KI-gesteuerte Roboter sogar bis in den Dienstleistungssektor vordringen. Dort können Service-Roboter einen bedeutenden Beitrag zum Gastgewerbe und dem Gesundheitswesen leisten. Der Einsatz dieser Service-Roboter führt zu Mehreinnahmen von etwa 1,2 Milliarden Dollar in Japan und 9,7 Milliarden Dollar in den USA, stellt also einen wirtschaftlichen Gewinn und eine handfeste Entlastung für menschliche Arbeitskräfte dar.
Viele konjunkturelle und strukturelle Probleme haben Deutschlands Krise am Arbeitsmarkt verschärft. Diese zu lösen, wird mit Sicherheit ein schwieriges Unterfangen, allein die disruptive Kraft der Arbeit 4.0 ist noch längst nicht greifbar und wird die Arbeitswelt zudem lange in Atem halten. Doch viele Volkswirtschaften sehen sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert und verfolgen gänzlich andere Lösungsansätze. Es wäre auch in Deutschland hilfreich, festgefahrene Glaubenssätze zur Energieversorgung, zur Einwanderung oder zur Bürokratie zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verwerfen, anstatt auf eine schnelle Lösung mit mikroskopisch kleinen Veränderungen zu hoffen.