Politik

Verzerrte Statistiken, verschleierte Tatsachen: Wie die deutschen Medien Schwedens Corona-Politik verunglimpfen

Lesezeit: 4 min
24.10.2020 08:07
Die Berichterstattung vieler deutschen Medien über Schwedens Umgang mit der Corona-Pandemie ist unzureichend und fehlerhaft. Das findet DWN-Gastautor Christian Kreiß.
Verzerrte Statistiken, verschleierte Tatsachen: Wie die deutschen Medien Schwedens Corona-Politik verunglimpfen
Corona vermag sie nicht zu stoppen: Schwedische Fußball-Fans. (Foto: dpa)

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Offene Universitäten, nie komplette Schulschließungen, niemals ein Lockdown. Darüber hinaus ein deutlich schwächerer Anstieg der Covid-Neuinfektionen als in den meisten anderen Ländern Europas, nur halb so hohe Infektionszahlen wie beim Höchststand im Juni und vor allem: Keine Panik vor steigenden Corona-Fallzahlen, keine Panik vor steigenden Todeszahlen wie in halb Europa und vielen anderen Ländern der Erde. Keine Wut, keine Aggression in der Bevölkerung, sondern vor allem Vertrauen und Toleranz. Gleichzeitig sehr viel schwächerer Wirtschaftsabsturz als in den allermeisten Industrieländern, die harte, staatlich verordnete Zwangs-Lockdowns durchführten, beispielsweise nur halb so starker Wirtschaftsabsturz wie in Deutschland. Zu schön, um wahr zu sein? Nein, Schweden, Mitte Oktober 2020.

Im Gegensatz dazu die Situation in Deutschland: Regelrechte Panikmache in vielen Medien, Aufforderungen zur Meldung von Corona-Verstößen plus einem entsprechenden Portal, Streit um Beherbergungsverbote, Kinder – selbst im Grundschulalter – mit Masken im Unterricht, teilweise Schulschließungen, weitgehend geschlossene Universitäten, Ankündigung eines möglichen neuen harten Lockdowns durch Politiker, Aggression und gereizte Stimmung im öffentlichen Leben, ein häufig gestörtes tägliches Miteinander, das häufig in ein Gegeneinander umschlägt.

Welcher Corona-Weg war und ist der klügere? Der schwedische oder der deutsche?

Berichterstattung in den deutschen Medien zu Schweden

Zunächst soll ein Blick auf die Berichterstattung über den schwedischen Corona-Weg in den deutschen Medien geworfen werden. Diese berichten über das Modell des skandinavischen Landes seit Monaten in äußerst kritischer Art und Weise. Nur einige wenige Beispiele dazu. Am 12. Mai titelte die Süddeutsche Zeitung: „Coronavirus in Schweden: Tödlicher Sonderweg.“ Am 24. August bestätigte die Süddeutsche Zeitung diese ihre Sichtweise in einem Essay des Leiters ihrer Wirtschaftsredaktion, Dr. Marc Beise, mit dem Titel: „Corona und Wirtschaft: Warum der Lockdown sinnvoll war.“ Schwedens Corona-Politik sei einfach nur falsch gewesen, habe viel zu viele Tote gekostet und dabei nicht einmal einen wirtschaftlichen Vorteil gebracht.

Der Spiegel titelte zunächst am 20. Juni: „Schwedens tödlicher Corona-Irrtum“; und dann am 25. Juni: „Warum Schweden so viele Covid-19-Tote hat … Die Eindämmung des Virus ist gescheitert.“ Diese Spiegel-Nachrichten kamen zu einem Zeitpunkt, als sich die Zahl der Covid-Toten in Schweden bereits auf ein Drittel reduziert hatte. Bei ntv lautete am 20. August die Überschrift: „Covid-19 treibt die Zahl. Schweden zählt meiste Tote seit 150 Jahren.“ Ebenfalls am 20. August schrieb die Bild-Zeitung: „Wegen Corona: Schweden hat die meisten Todesfälle seit 150 Jahren […] In der ersten Hälfte dieses Jahres verzeichnete Schweden so viele Todesfälle wie seit 150 Jahren nicht. Bis Ende Juni starben rund 4500 Menschen an Covid-19.“

Der Hintergrund: Die beiden letztgenannten Medien (sowie zahlreiche andere) haben einfach eine Reuters-Meldung vom Vortag mit der Überschrift „Schweden registriert höchste Anzahl an Toten seit 150 Jahren in den ersten sechs Monaten von 2020“ abgeschrieben und dabei den Hinweis auf die stark gestiegene schwedische Bevölkerung in den letzten 150 Jahren – aus welchen Gründen auch immer – ignoriert.

Ein Blick auf die Wirklichkeit

Nun ein Blick auf die Wirklichkeit. Schweden verzeichnete im ersten Halbjahr 2020 501 Sterbefälle pro 100.000 Einwohner. In vier der letzten zehn Jahre war die Sterblichkeit im ersten Halbjahr höher als 2020: 2010 gab es 504 Sterbefälle pro 100.000 Einwohner, 2012 515, 2013 512, 2015 504. Das Jahr 2020 bildet damit ziemlich genau den Median der letzten zehn Jahre, liegt also ziemlich genau in der Mitte. Betrachtet man die Sterbezahlen bis Ende August, so liegt das Jahr 2020 an sechster Stelle innerhalb der letzten elf Jahre seit 2010 und bildet damit exakt den Median. Von Übersterblichkeit oder gar einer Pandemie kann man da schwerlich sprechen, sonst hätte man innerhalb der letzten elf Jahre in Schweden mindestens sechs Mal eine Pandemie ausrufen müssen.

Zur oft gehörten Aussage „höchste Todeszahl in Schweden im ersten Halbjahr 2020 seit 150 Jahren“ zeigen die realen Zahlen folgendes: Im schlimmen Jahr 1869, als unter anderem wegen einer Hungerkrise die Sterblichkeit in Nordeuropa besonders hoch war, betrug die Anzahl der Sterbefälle je 100.000 Einwohner im ersten Halbjahr in Schweden über 1300. Im ersten Halbjahr 2020 belief sich die Sterblichkeit auf 501 Tote pro 100.000 Einwohner, betrug also weniger als 40 Prozent der Sterblichkeit des Jahres 1869. Die zahlreichen Medien – überraschenderweise auch das Schwedische Statistikamt, das ebenfalls den wichtigen Bezug wegließ -, die behaupteten, 2020 sei das schlimmste Todesjahr in Schweden seit 150 Jahren, informierten also äußerst irreführend, denn sie unterlassen den Bezug zur Größe der Bevölkerung, die sich in diesen 150 Jahren etwa verzweieinhalbfacht hat. So einfach schreibt man etwas Irreführendes, wenn man Statistiken nicht zu interpretieren vermag.

Die realen Zahlen zu Schweden zeigen also ziemlich genau das Gegenteil dessen, was viele deutsche Medien berichten: Es war und ist entgegen den deutschen Mediendarstellungen keine Pandemie und keine Übersterblichkeit in Schweden erkennbar, sondern eine ganz normale Sterblichkeit. Die oben angeführten deutschen Medien-Meldungen waren irreführend.

Warum wird über Schweden in den deutschen Medien derartig berichtet? Zum einen, weil man sich nicht die Mühe macht (vielleicht auch nicht über die Fähigkeiten verfügt), die Statistiken durchzuarbeiten. Zum anderen, weil man nicht zugeben mag, zu Beginn der Pandemie Fehler gemacht zu haben. Angenommen, der schwedische Corona-Weg würde sich doch als richtig herausstellen, dann würde man damit nicht nur zugeben, dass der deutsche Umgang mit Corona falsch war, nein, man müsste auch zugeben, dass man bei seiner Berichterstattung selbst Fehler gemacht hat.

Vergleich der Wirtschaftsentwicklung in Deutschland und Schweden

Werfen wir nur einen Blick auf die ökonomische Entwicklung in Schweden und Deutschland. Die deutsche Wirtschaft schrumpfte im zweiten Quartal 2020 um 11,3 Prozent, die schwedische um 7,7 Prozent. Im ersten Quartal 2020 ging die deutsche Wirtschaft gegenüber dem Vorjahr um 2,2 Prozent zurück, die schwedische wuchs um 0,7 Prozent (Stand 14.10.2020). Im ersten Halbjahr gab es in Deutschland also eine Wirtschaftsschrumpfung um 6,75 Prozent gegenüber dem Vorjahr, in Schweden um 3,5 Prozent. Die deutsche Wirtschaftsleistung schrumpfte also beinahe doppelt so stark wie die Schwedens. Das ist kein Zufall. Die staatlichen Maßnahmen und Zwangsschließungen waren in Schweden nicht annähernd so gravierend wie bei uns.

Dazu kommt: Der deutsche Staat pumpt ungleich mehr schuldenfinanziertes Geld in die Wirtschaft als Schweden. Die Ratingagentur Fitch rechnet mit einem Anstieg der deutschen Staatschulden um 14 Prozentpunkte vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2020 und einem weiteren Anstieg des Schuldenberges 2021. In Schweden sollen die Staatschulden laut Fitch 2020 um 11 Prozentpunkte vom BIP steigen, aber 2021 bereits wieder sinken. Deutschland betreibt demnach deutlich mehr Konjunktur-Stimulation der Wirtschaft als Schweden.

Schuldenfinanzierte Staatsaugaben, sogenanntes „deficit spending“, bewirken normalerweise einen Anstieg des Sozialproduktes ungefähr in Höhe des Defizits, weil sie unmittelbar die Nachfrage ankurbeln. Obwohl also Deutschland eine deutlich stärkere schuldenfinanzierte Politik der Wirtschaftsankurbelung betreibt und pro Kopf deutlich mehr Geld in die Wirtschaft pumpt als Schweden, ist der Wirtschaftseinbruch fast doppelt so stark wie in dem skandinavischen Staat. In Wirklichkeit, unter Einbeziehung der Konjunkturpolitik, ist also die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland noch erheblich schlechter als die offiziellen Zahlen bisher ausweisen und viel schlechter als die Schwedens. In Wahrheit dürfte die deutsche Wirtschaft im ersten Halbjahr 2020 mehr als doppelt so stark abgestürzt sein wie die schwedische.

Fazit

Angesichts der derzeitigen Haltung zu Corona in Deutschland wäre ein Blick auf Schweden mehr als hilfreich. Der schwedische Umgang mit Corona ist der deutschen deutlich überlegen. Die deutsche Corona-Politik ist, verglichen mit der schwedischen, eine Sackgassen-Politik. Die Berichterstattung zu Corona in vielen deutschen Massenmedien ist teilweise verantwortungslos. Ich kann darauf nur erwidern: Lasst uns von Schweden lernen!

                                                                            ***

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD), Gewerkschaftsmitglied bei ver.di. Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de


Mehr zum Thema:  

DWN
Finanzen
Finanzen Bundesbank: Konjunkturflaute, Handelskonflikte, leere Büroimmobilien - Banken stehen vor akuten Herausforderungen
21.11.2024

Eigentlich stehen Deutschlands Finanzinstitute in Summe noch ganz gut da – so das Fazit der Bundesbank. Doch der Blick nach vorn ist...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoin-Prognose: Kryptowährung mit neuem Rekordhoch - geht es jetzt Richtung 100.000 US-Dollar?
21.11.2024

Neues Bitcoin-Rekordhoch am Mittwoch - und am Donnerstag legt die wichtigste Kryptowährung direkt nach. Seit dem Sieg von Donald Trump bei...

DWN
Panorama
Panorama Merkel-Buch „Freiheit“: Wie die Ex-Kanzlerin ihre politischen Memoiren schönschreibt
21.11.2024

Biden geht, Trump kommt! Wer auf Scholz folgt, ist zwar noch unklar. Dafür steht das Polit-Comeback des Jahres auf der Tagesordnung: Ab...

DWN
Politik
Politik Solidaritätszuschlag: Kippt das Bundesverfassungsgericht die „Reichensteuer“? Unternehmen könnten Milliarden sparen!
21.11.2024

Den umstrittenen Solidaritätszuschlag müssen seit 2021 immer noch Besserverdiener und Unternehmen zahlen. Ob das verfassungswidrig ist,...

DWN
Finanzen
Finanzen Von Dividenden leben? So erzielen Sie ein passives Einkommen an der Börse
21.11.2024

Dividenden-ETFs schütten jedes Jahr drei bis vier Prozent der angelegten Summe aus. Wäre das auch was für Ihre Anlagestrategie?...

DWN
Politik
Politik Weltstrafgericht erlässt auch Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant - wegen Kriegsverbrechen im Gaza-Streifen
21.11.2024

Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, den früheren...

DWN
Politik
Politik US-Staatsapparat: Tech-Milliardär Elon Musk setzt auf Technologie statt Personal - Unterstützung bekommt er von Trump
21.11.2024

Elon Musk soll dem künftigen US-Präsidenten Trump dabei helfen, Behördenausgaben zu kürzen und Bürokratie abzubauen. Er gibt einen...

DWN
Politik
Politik Neue EU-Kommission: Nach heftigen Streit auf „umstrittenes“ Personal geeinigt
21.11.2024

Nach erbittertem Streit haben sich die Fraktionen im EU-Parlament auf die künftige Besetzung der Europäischen Kommission geeinigt. Warum...