Weltwirtschaft

Fehlerhaftes ökonomisches Modell genutzt: Optimistische Prognose der Bundesbank erweist sich als falsch

Lesezeit: 5 min
27.06.2021 13:06
DWN-Autor Christian Kreiß geht mit den etablierten Ökonomen, allen voran denen der Bundesbank, hart ins Gericht: Ihre Aufschwungs-Prognosen würden auf falschen Prämissen basieren und seien viel zu optimistisch.

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Im jüngsten Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom 21. Juni heißt es: „Die deutsche Wirtschaft überwindet die pandemiebedingte Krise und steht am Beginn eines starken Aufschwungs. […] Verglichen mit der Vorausschätzung vom Dezember 2020 wird für den gesamten Projektionszeitraum ein beträchtlich höheres BIP erwartet.“ 2021 werde die deutsche Wirtschaft um knapp vier, 2022 um gut fünf Prozent wachsen. Dabei erschienen „die Risiken für das Wirtschaftswachstum aus heutiger Sicht ausgeglichen“.[1]

Ähnlich optimistische Prognosen geben die meisten der anderen Mainstream-Volkswirte ab, beispielsweise vom Wall Street Journal befragte Ökonomen[2] sowie Volkswirte der Weltbank[3]. Der Tenor ist immer der gleiche: Die Weltökonomie wird das Vor-Lockdown-Niveau schon bald überschreiten, dann folgt weiteres starkes Wachstum wegen der zurückgestauten Nachfrage – und am Ende ist alles ist wieder gut beziehungsweise noch viel besser als jemals zuvor.

Bereits beim Heraufziehen der Finanzkrise 2007 haben jedoch praktisch alle etablierten Ökonomen versagt. Beispielsweise waren alle Ökonomie- und Finanz-Zeitschriften sowie die EZB voll des Lobes für die soliden Finanzen Spaniens, was im Nachhinein geradezu grotesk anmutet. Das Land wurde noch 2007 als Musterschüler des Euroraumes gelobt, an dessen vorbildlichem Verhalten sich andere Länder ein Vorbild nehmen sollten. Dabei war bereits deutlich vor 2007 längst abzusehen, dass Spanien vor einer schweren Immobilien- und Finanzkrise stand.[4] Warum konnten die Heerscharen der vorzüglich ausgebildeten Volkswirte und Analysten das damals nicht sehen?[5] Und was haben sie daraus gelernt – beziehungsweise: haben sie daraus überhaupt etwas gelernt? Anscheinend nicht viel, wenn man sich vor Augen hält, dass die Prognosen heute wieder ähnlich optimistisch ausfallen wie 2006. Da stellt sich die Frage: Wiederholt sich das gleiche Blindheits-Schema? Ich glaube: ja.

Ich möchte mich im Folgenden auf die Analysen und Prognosen der renommierten Deutschen Bundesbank beziehen. Liest man die im jüngsten Monatsbericht erschienene gründliche, fundierte Analyse mit dem Titel „Perspektiven der deutschen Wirtschaft für die Jahre 2021 bis 2023“, so kommt man zu dem Ergebnis: Alles gut. Zwar weist die Bundesbank auf etwaige Risiken hin: Es sei mit „Überraschungen zu rechnen“, es könnte zu mehr Insolvenzen als erwartet kommen oder „zu Verwerfungen an den Finanzmärkten mit negativen realwirtschaftlichen Rückkopplungen“. Aber alles in allem seien die Simulationsergebnisse des zu Grunde liegenden makroökonomischen Modells doch eher „vorsichtig“, und man habe „keine Alternativszenarien mit unterschiedlichen Annahmen bezüglich der Pandemieentwicklung mehr erstellt“. Kurz: „In der Gesamtschau erscheinen die Risiken aus heutiger Sicht für das Wirtschaftswachstum in etwa ausgeglichen“.[6]

Insbesondere für den Arbeitsmarkt brauche man sich keine Sorgen zu machen: „Die kräftige Arbeitsnachfrage lässt die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung deutlich über ihr Vorkrisenniveau steigen.“ Und auch Inflationssorgen seien trotz etwaiger leichter Aufwärtsrisiken unbegründet: „Die Kernrate ohne Energie und Nahrungsmittel dürfte dagegen – zusätzlich bereinigt um den Mehrwertsteuereffekt – wie schon im Vorjahr bei nur etwas über 1% liegen. Bis 2023 könnte sie im Gefolge des Aufschwungs, der verbesserten Arbeitsmarktlage und wieder stärker anziehender Löhne auf 1,7 % steigen. Da von Energie und Nahrungsmitteln dann kein überdurchschnittlicher Teuerungsdruck mehr ausgeht, ermäßigt sich die Gesamtrate auf gleichfalls 1,7 %.“[7]

Kurzum: Alles gut. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, weder um unser Erspartes noch um unsere Arbeitsplätze.

Am Rande sei bemerkt, dass die Bundesbank meines Erachtens auf Seite 24 eine etwas peinliche Fehldarstellung liefert, im Schaubild „Privater Konsum und Sparquote“. Dort wird ein Rückgang der privaten Konsumausgaben im Frühjahr 2020 von etwa zwei Prozentpunkten angegeben (circa 101 auf 99), während auf Seite 16 im Schaubild „Wichtige Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage“ die privaten Konsumausgaben zur selben Zeit von etwa 107 auf 93, also um circa 14 Prozentpunkte abstürzen.[8] Ich vermute, die Darstellung auf Seite 16, das heißt der starke Rückgang, ist korrekt.

In dem sehr ausführlichen Artikel fehlen meines Erachtens mehrere zentrale Faktoren, weshalb es zu der irreführend optimistischen Darstellung kommt. Zum einen wird die Geldmengen-Entwicklung im Euroraum nicht erwähnt – und das, obwohl sich die Bilanzsumme der EZB in den letzten 14 Jahren etwa verachtfacht hat.[9] Anders ausgedrückt: die Zentralbankgeldmenge, also das von der EZB frisch gedruckte Bar- und Giralgeld, ist auf etwa das Achtfache gestiegen. In den USA kam es gar zu einer Verzehnfachung[10] und in Großbritannien zu einer Verzwölffachung der Zentralbankgeldmenge.[11] Das gab es noch nie auch nur ansatzweise in der Geschichte. Was wird mit all dem frisch gedruckten Geld in der Welt geschehen? Auf dieses Damoklesschwert, diese riesige aufgestaute Geldwelle, geht die Bundesbank nicht ein. Das scheint für sie keine nennenswerte Rolle zu spielen.

Zweitens wird von der Bundesbank nicht erwähnt – mit einer Ausnahme: sie geht auf die deutsche Staatsverschuldung ein, – dass sich die weltweiten Schulden von privaten Haushalten, Unternehmen, Regierungen und Finanzinstituten in den letzten Jahren und Jahrzehnten, gemessen an der Wirtschaftskraft, dramatisch erhöht haben, insbesondere durch die Lockdowns und besonders bedenklich in einigen Emerging-Markets-Ökonomien.[12] Diese Schulden können unmöglich in voller Höhe zurückgezahlt werden. Schuldenausfälle sind – genau wie 2006 – vorprogrammiert. Warum wird dieses enorme Risiko von der Bundesbank ignoriert?

Drittens sind bestimmte Vermögenswerte, insbesondere die Aktienbörsen und viele Wohnimmobilien in Industrieländern, heute so hoch bewertet wie noch nie oder zumindest wie sehr selten in der Geschichte. Diese bedenkliche Asset-Bubble, die sich im letzten Jahrzehnt aufgebaut hat, kann leicht platzen.[13]

Kurz: Die Bundesbank ignoriert vollkommen, dass insbesondere im Zuge der Lockdown-Maßnahmen eine riesige Menge an Schecks auf die Zukunft gezogen wurde, die wir eines Tages werden einlösen müssen. Die Bundesbank tut so, als ob man größere Teile einer Ökonomie, beispielsweise Industrie-Betriebe, Kultur, Bildung, Fortbewegung, Gastronomie, Beherbergung, Einzelhandel, Friseure, etc., relativ problemlos für viele Monate zusperren, die Ausfälle über Staatszuwendungen zum großen Teil ausgleichen und das Ganze über frisch gedrucktes Notenbankgeld finanzieren kann, und das dass alles keine nennenswerten Auswirkungen auf die Ökonomie oder unser aller ökonomisches Wohlbefinden haben wird. Das klingt nicht gerade so, als ob viel gesunder Menschenverstand in das makroökonomische Modell eingebaut wäre.

Ich glaube, dass das Ökonomie-Modell der Bundesbank nicht nur realitätsfern, sondern geradezu schädlich ist. Denn es wiegt uns in einer Sicherheit und Behaglichkeit, die nicht vorhanden ist. Durch die Verharmlosung werden, ähnlich wie in der Zeit bis 2007, sinnvolle Gegenmaßnahmen gegen kommende Unbill verhindert. Insbesondere die massiven ökonomischen und sozialen Schäden, die durch die Lockdowns verursacht wurden, werden von der Bundesbank in geradezu frivoler Weise verharmlost beziehungsweise geleugnet.

Das kann verschiedene Ursachen haben. Zum einen muss die Bundesbank selbstverständlich (wirtschafts)politische Rücksichten nehmen. So könnte die Prognose, die Inflation stehe bevor, leicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden, indem nämlich die Prognose die Konsumenten dazu animiert, im großen Stil einzukaufen, wodurch die Inflation überhaupt erst herbeigeführt würde. Das gleiche gilt, wenn die Bundesbank einen Wirtschaftseinbruch prophezeien würde. Diese pessimistische Prognose würde die Menschen dazu bringen, sich auf den Crash vorzubereiten (viele würden beispielsweise ihr Geld vom Konto abheben) – und dieses Verhalten würde die Krise zusätzlich befeuern, sie vielleicht sogar erst auslösen.

Zum anderen kann die mangelnde Vorhersagekraft eines Modells aber auch einfach an falschen Prämissen liegen. Und das ist meiner Meinung nach hier der Fall. Die herkömmlichen Lehrbücher der Ökonomen ignorieren, dass Menschen keine Maschinen sind. Sie (die Bücher) ignorieren Machtprozesse; sie übersehen darüber hinaus, dass Menschen nicht ausschließlich ökonomische Wesen sind, sondern ihr Handeln auch an Werten und Normen ausrichten. Für uns Menschen spielt die steigende Ungleichverteilung eben doch eine Rolle, anders, als die Lehrbücher es annehmen. Auch Zinseszins und unbeschränkte Eigentumsanhäufung stellen in der Literatur kein Problem dar (im Gegenteil, sie werden eher noch als vernünftiges, rationales Verhalten gelobt), ebenso wenig wie die hemmungslose Gewinnmaximierung der Unternehmen und die kaltschnäuzige Nutzenmaximierung einiger Konsumenten. Diese stark weltanschaulich geprägten neoliberalen, kapitalfreundlichen und den Egoismus fördernden Grundannahmen der Ökonomen sind meiner Meinung nach jedoch nicht nur falsch, sondern für unsere Gesellschaft, für unser Zusammenleben, geradezu schädlich.[14] Sie führen darüber hinaus zu realitätsfernen Prognosen. So übersehen sie unter anderem, dass Menschen gegen das bestehende Wirtschaftssystem aufbegehren können – und eines Tages aufbegehren werden.

Ich fürchte, das rosige Bild, das die Deutsche Bundesbank uns zeichnet, das die meisten Mainstream-Ökonomen uns zeichnen, wird sich – genau wie damals im Jahr 2007 – bitter rächen. Indem sie uns in falscher Sicherheit wiegen, uns die Wirklichkeit nicht sehen lassen, also gewissermaßen eine Vogel-Strauß-Politik betreiben, verhindern solche Fehlprognosen sinnvolle Gegenmaßnahmen und verschlimmern dadurch eine kommende schmerzhafte Bereinigung beziehungsweise führen diese erst herbei.

Wir sollten dringend unsere ökonomischen Grundannahmen überarbeiten und sie einer Realitäts- und Menschlichkeitsprüfung unterziehen. Sonst werden sehr unschöne Machtprozesse ablaufen, sehr unangenehme Verteilungskämpfe – die uns allen ein, in vielerlei Hinsicht, böses Erwachen bereiten werden. Die Zeit drängt.

[1] Monatsbericht der Deutschen Bundesbank Juni 2021, Perspektiven der deutschen Wirtschaft für die Jahre 2021 bis 2023: www.bundesbank.de/resource/blob/867684/a8800a6d5168fc31d64df8425e5d72c6/mL/2021-06-projektion-data.pdf

[5] db research Stefan Bergheim, 11.9.2007, Spanien 2020 – Die Erfolgsgeschichte geht weiter

[6] Monatsbericht der Deutschen Bundesbank Juni 2021

[7] Monatsbericht der Deutschen Bundesbank Juni 2021

[8] Monatsbericht der Deutschen Bundesbank Juni 2021

                                                                            ***

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD), Gewerkschaftsmitglied bei ver.di. Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de


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