Experten geben unterschiedliche Prognosen zur Stärke der Corona-Welle im Herbst und Winter in Deutschland. Der Virologe Christian Drosten rechnet mit einer «starken Inzidenzwelle» von Corona-Infektionen «noch vor Dezember», der Bioinformatiker Lars Kaderali erwartet hingegen einen nicht allzu heftigen Anstieg.
Drosten, Direktor der Virologie am Berliner Universitätsklinikum Charité, sagte der Süddeutschen Zeitung, neue Virusvarianten sorgten immer noch für viele neue Krankheitsfälle. Selbst bei leichten Krankheitsverläufen werde dies wahrscheinlich zu erheblichen Arbeitsausfällen führen. «Infizierte kommen vielleicht nicht ins Krankenhaus, aber sehr viele sind eine Woche krank. Wenn es zu viele auf einmal sind, wird es zum Problem», so Drosten.
Hingegen meint der Greifswalder Bioinformatiker Kaderali, der dem Corona-Expertenrat der Bundesregierung angehört, in den zurückliegenden Monaten seien viele Menschen durch Kontakt mit dem Virus immunisiert worden. Die Infektionszahlen seien gesunken, ohne dass besondere Maßnahmen ergriffen worden sein. «Das bedeutet eben, das Virus ist wirklich durchgelaufen», sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Wegen der breiteren Immunität zusätzlich zu Impfungen rechnet Kaderali nach eigenen Worten damit, dass die Winterwelle nicht allzu heftig wird - zumindest solange keine völlig neue Variante auftaucht. Er gehe eher davon aus, dass sich das Infektionsgeschehen längere Zeit auf dem jetzigen Niveau bewegen werde oder möglicherweise sogar noch etwas zurückgehe.
Drosten wies auf Hinweise dafür hin, dass der Schutz vor Weiterübertragung bei einer Infektion mit Omikron nicht lange anhält. «Ein Infizierter, dessen letzte Infektion länger als drei Monate zurückliegt, trägt genauso viel Virus im Rachen und kann deshalb wahrscheinlich genauso viele andere infizieren wie jemand, der noch nie infiziert war.» Das gelte auch für Geimpfte.
Wichtig werde sein, dass die Politik die Situation genau beobachte, sagte Drosten. «Bevor so viele krank werden, dass man nichts mehr einkaufen kann, dass die Krankenhäuser nicht mehr funktionieren oder kein Polizeibeamter auf der Wache sitzt, muss man Maßnahmen ergreifen.» Er forderte die Politik auf, schon jetzt auf einen Konsens hinzuarbeiten, «bei welchen Signalen man wie handeln will». «Im Notfall braucht es sofortige und durchaus einschneidende Entscheidungen». Drosten erwartet zum Beispiel, dass das Maskentragen in Innenräumen wieder notwendig wird. Mit Blick auf die Wirtschaft sagte er: «Ich gehe auch davon aus, dass es durchaus auch Firmen geben wird, die mal für zwei Wochen schließen müssen.»
Lauterbach erwartet mittelschwere Herbstwelle
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) rechnet lediglich mit einer «mittelschweren» Herbstwelle. In der «Rheinischen Post» zeigte er sich zuversichtlich, dass die Regierung «auf alle Szenarien sehr gut vorbereitet» ist. «Wir werden die Corona-Welle in diesem Jahr im Griff behalten.» Auf Twitter wies er am Samstagmorgen auf Drostens Interview hin und erwähnte dabei als Schutzmaßnahme auch «Obergrenzen im Innenraum», die die Länder bei Bedarf festlegen können. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) kritisierte am Samstag, bei den Handlungsregeln drohe ein Flickenteppich in Deutschland.
Der Bundestag hatte am Donnerstag Corona-Regeln für Herbst und Winter beschlossen. Das Gesetzespaket ermöglicht generell wieder schärfere Vorgaben zu Masken und Tests. Die Zustimmung des Bundesrats steht allerdings noch aus. Die Regeln sollen ab dem 1. Oktober bis zum 7. April 2023 gelten. Dazu gehören etwa Maskenpflichten in Fernzügen, Kliniken und Arztpraxen, aber nicht mehr in Flugzeugen. Die Bundesländer können auch in Restaurants und anderen Innenräumen wieder das Tragen von Masken vorgeben.
Das Robert Koch-Institut gab die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz der Corona-Neuinfektionen am Samstag mit 230,6 an. Am Vortag hatte der Wert pro 100 000 Einwohner und Woche bei 229,5 gelegen (Vorwoche: 230,5; Vormonat: 366,8). Diese Angaben zeigen aber nur ein sehr unvollständiges Bild. Experten gehen von einer hohen Zahl nicht erfasster Fälle aus – vor allem weil bei weitem nicht alle Infizierten einen PCR-Test machen lassen. Nur positive PCR-Tests zählen in der Statistik. Nachmeldungen oder Übermittlungsprobleme können zudem zu einer Verzerrung einzelner Tageswerte führen.