Die europäische Industrie hat sich über die Jahrzehnte daran gewöhnt, zuverlässig mit billigem russischem Gas versorgt zu werden. Selbst auf dem Höhepunkt des des Kalten Krieges flossen die Lieferungen ohne Unterlass aus Russland in den Westen. Doch im aktuellen Konflikt setzt der russische Präsident Wladimir Putin die riesigen Energievorräte seines Landes erstmals als Waffe ein.
So hat Russland Anfang des Monats sämtliche Lieferungen über Nord Stream 1, die größte Erdgaspipeline Europas, komplett eingestellt. Gazprom nahm nach der planmäßigen Wartung einer Turbine die Gaslieferungen nach Europa nicht wieder auf. Zwar begründete das Unternehmen den Lieferstopp mit angeblich austretendem Öl aus der Maschine. Im Westen wird jedoch ein politischer Hintergrund vermutet.
Die Auswirkungen haben Europa an den Rand einer Rezession gebracht und drohen, der Industrie dauerhaften Schaden zuzufügen. Europa hat sich in den letzten Jahrzehnten auf das verarbeitende Gewerbe und die Schwerindustrie gestützt, um seine Wirtschaft in Schwung zu halten. Ein großer Teil der Wirtschaft wird von Stahlherstellern, Chemieproduzenten und Automobilherstellern getragen.
Die Energiekrise hat Auswirkungen für fast alle Unternehmen, von Stahl und Aluminium bis hin zu Autos, Glas, Keramik, Zucker und Toilettenpapierherstellern. Einige Branchen, wie der energieintensive Metallsektor, schließen Fabriken, die nach Meinung von Analysten und Führungskräften möglicherweise nie wieder öffnen werden, was Tausende von Arbeitsplätzen gefährdet.
Ära der Deindustrialisierung hat begonnen
Europa hat sich weltweit nach alternativen Gaslieferungen umgesehen und Vereinbarungen über den Kauf von Gas aus den USA, Katar und anderen Ländern getroffen. Aber der Kontinent wird möglicherweise nie wieder Zugang zu dem billigen russischen Gas haben, das ihm geholfen hat, mit den ressourcenreichen USA zu konkurrieren und hohe Arbeitskosten, strenge Beschäftigungsvorschriften und strenge Umweltbestimmungen auszugleichen.
In der slowakischen Stadt Žiar nad Hronom, die Autoteilehersteller auf dem ganzen Kontinent beliefert, fürchtet man um die finanzielle Zukunft. "Dies ist wahrscheinlich das Ende der Metallproduktion in Europa", zitiert das Wall Street Journal Milan Veselý, der sein ganzes Erwachsenenleben lang bei Slovalco gearbeitet hat, das mehrheitlich dem norwegischen Konzern Norsk Hydro gehört, und damit in die Fußstapfen seiner Eltern getreten ist.
Jahrelang war das Werk der bei weitem größte Stromabnehmer in der Slowakei und verbrauchte 9 Prozent des slowakischen Stroms, der größtenteils aus Kernenergie stammt. Bevor die Energiepreise im letzten Jahr zu steigen begannen, zahlte Slovalco für jede Megawattstunde Strom rund 45 Euro. In diesem Jahr hat das Unternehmen bisher 75 Euro gezahlt, was im letzten Jahr vereinbart wurde. Ende August erreichten die Preise in ganz Europa die Marke von 1.000 Euro.
Slovalco hat seinen Stromvertrag für 2023 nicht verlängert, was auf dem jüngsten Höchststand der Strommärkte 2,5 Milliarden Euro gekostet hätte. Veselý, der Leiter des Werks, stellt die Produktion von Primärmetallen ein und lässt nur einen kleinen Recyclingbetrieb übrig. Außerdem entlässt er 300 der insgesamt 450 Mitarbeiter. "Die Volatilität des Strompreises [infolge des Gasmangels] heutzutage ist verrückt", sagte er.
Politik bunkert Gas für den Winter
Durch die Drosselung und Schließung von Fabriken wird in Europa Treibstoff gespart, um die Nachfrage zu senken. Zudem suchte die EU nach nicht-russischen Quellen. In der Folge konnte die EU genug Gas bunkern, um mehr als 80 Prozent ihrer Speicherkapazität aufzufüllen. Dies ist wahrscheinlich genug, um bis zum Frühjahr ohne staatlich Rationierungen auszukommen, selbst wenn Russland die Lieferungen auf Null reduziert, sagen Analysten.
Die meisten Staaten sind zu dem Schluss gekommen, dass eine Verlangsamung und Schließung von Fabriken jetzt besser ist als die Unterbrechung der Stromversorgung von Krankenhäusern und Schulen im Winter. Nach Angaben des Rohstoffdatenanbieters ICIS verbrauchte Europa im August 10 Prozent weniger Gas als sonst zu dieser Jahreszeit. Die EU strebt eine Verringerung der Nachfrage um 15 Prozent an.
Die Fabrikschließungen sind mit ruinösen Kosten verbunden. Unternehmen in energieintensiven Branchen sagen, dass ihnen ohne staatliche Unterstützung in diesem Winter die Pleite droht. Komplexe Versorgungsketten in Sektoren wie der Automobil- und der Lebensmittelindustrie geraten ins Stocken und verstärken den Inflationsdruck, der im Rahmen des Corona-Kampfes aufgebaut worden ist.
Der norwegische Düngemittelriese Yara International, der Gas als Rohstoff benötigt, hat die Produktion von Ammoniak in seinen europäischen Fabriken um 65 Prozent gekürzt. Im Werk Sluiskil in den Niederlanden, das Ende August die zweite von drei Ammoniakanlagen stilllegte, werden die Maschinen für Ammoniak mit höherem Wassergehalt umgerüstet, das aus den USA, Trinidad und anderen Ländern importiert wird und die zuvor selbst hergestellten Produkte ersetzt.
Das niederländische Düngemittelunternehmen OCI importiert nun mehr Ammoniak über Rotterdam. Es plant, seine Kapazität im Hafen bis zum nächsten Jahr zu verdreifachen und baut seine Anlage in Beaumont im US-Bundesstaat Texas aus, um dort Ammoniak zu produzieren, das nach Europa und Asien transportiert werden kann. "Die Energiekosten sind ein echter Vorteil für die USA", zitiert das Wall Street Journal Geschäftsführer Ahmed El-Hoshy.
Europa wird abhängiger von Importen
Der Abbau europäischer Industriekapazitäten verstärkt die Abhängigkeit von ausländischen Materialien und Teilen. Die Hersteller von Metallen, die für die Aufspaltung und Bildung chemischer Verbindungen viel Energie benötigen, sind besonders stark von der Krise betroffen. Die Strompreise haben sich in diesem Jahr mehr als verdoppelt, angetrieben durch hohe Gaspreise, Probleme der französischen Atomkraftwerke und eine geringe Stromerzeugung aus Wasserkraft.
ArcelorMittal, einer der größten Stahlhersteller der Welt, wird einen Hochofen in Bremen und ein sogenanntes Direktreduktionswerk in Hamburg schließen, in dem Eisenschwamm hergestellt wird, der zur Erzeugung von Rohstahl dient. In Deutschland hatte ArcelorMittal seinen Gasbedarf bereits um etwa 40 Prozent gegenüber dem zu Jahresbeginn geplanten Verbrauch gesenkt.
"Wir hatten noch nie solche Verwerfungen bei den Energiepreisen", sagt Reiner Blaschek, Chef des Deutschlandgeschäfts von ArcelorMittal. "Alles, was kurzfristig mit enormen Schwankungen verbunden ist, ist für uns als Wirtschaftsunternehmen, gelinde gesagt, pures Gift." Man müsse die gesamte Energieversorgungskette von Grund auf neu erfinden. ArcelorMittal Deutschland hat Eisenschwamm aus den USA zugekauft, anstatt ihn vor Ort mit Gas zu produzieren.
Nach Angaben der Lobbygruppe der Metallindustrie Eurométaux sind die Zinkvorräte in der EU fast erschöpft, was die Kunden dazu veranlasst, Metall aus China zu importieren. Analysten zufolge stirbt die europäische Produktion von Primäraluminium aus, so dass der Kontinent nur noch über Recyclingbetriebe verfügt, die Metall herstellen, das für die Verpackungsindustrie geeignet ist, aber nicht für Radnaben, Bremsen oder Teile für Flugzeuge.
Die Aluminiumhütten sind nicht mehr in der Lage, ihre Stromverträge zu verlängern. Sie benötigen 15 Megawattstunden Strom, um eine Tonne Primäraluminium zu produzieren, bei den aktuellen Strompreisen 9.000 Euro, während eine Tonne für weniger als 2.500 Euro verkauft werden kann, so der deutsche Metallverband WV Metalle. "Wir brauchen jetzt sofortige Nothilfe, sonst droht uns in Deutschland die Deindustrialisierung", Hauptgeschäftsführerin Franziska Erdle.
Das Aluminiumwerk San Ciprián der Alcoa in Spanien, die Zinkhütte Portovesme von Glencore in Italien und die Zinkfabriken der Trafigura-Gruppe in den Niederlanden, Frankreich und Belgien haben ihre Produktion gedrosselt oder geschlossen. Die Hälfte der Aluminium- und Zinkkapazitäten in der EU ist außer Betrieb, hinzu kommen Drosselungen bei Silizium und Eisenlegierungen, so Eurométaux in einem aktuellen Schreiben an EU-Beamte.
Tom Price, Leiter der Rohstoffstrategie bei der Investmentbank Liberum, vergleicht den Schock mit dem Anstieg der Energiepreise, der in den 1970er Jahren die japanische Aluminiumindustrie zum Erliegen brachte. "Dies ist ein so schwerwiegender Vorfall, dass die industrielle Basis Europas sehr stark von Russland abhängig geworden ist, um billige Energie zu erhalten", sagte er. Es könnte sein, dass sie sich nie wieder erholt.
Deindustrialisierung lastet auf den Lieferketten
Der Produktionsrückgang in den europäischen Fabriken droht auf die Lieferketten überzugreifen. Die Autohersteller sind sowohl durch ihre eigene Abhängigkeit von Gas für Strom und Wärme als auch indirekt durch Lieferprobleme betroffen. Die Volkswagen AG erklärte, dass sie Glasprodukte wie Fenster und Windschutzscheiben auf Lager hält, da sie befürchtet, dass ein Gasmangel die Glashersteller treffen könnte.
Eine Sprecherin von Safran, einem französischen Hersteller von Flugzeugtriebwerken und militärischer Ausrüstung, sagte, dass die fragile Versorgungskette die Fähigkeit ihres Unternehmens eingeschränkt habe, die Produktion zu erhöhen. Bislang konnte das Unternehmen Metall von bestehenden Lieferanten kaufen, aber es beobachtet die Situation, fügte sie hinzu.
In der Lebensmittelproduktion werden die Zuckerfabriken mit Erdgas betrieben. Die deutsche Bundeswettbewerbsbehörde erklärte in diesem Monat, dass die vier Zuckerproduzenten des Landes im Falle eines Lieferstopps zusammenarbeiten könnten, indem sie sich beispielsweise gegenseitig Kapazitäten zur Verfügung stellen. Wenn die Zuckerfabriken stillstehen, würden wahrscheinlich große Teile der Rübenernte verrotten, und die Preise für die Verbraucher würden weiter steigen.
Einige Fabriken, wie zum Beispiel Zinkhersteller, können schnell wieder in Betrieb genommen werden, wenn sich die Wirtschaftlichkeit wieder einstellt. Für andere Fabriken, wie zum Beispiel Glas- und Aluminiumhersteller, ist die Wiedereröffnung ein langwieriger und teurer Prozess, der sich möglicherweise niemals finanziell rechnen wird.
Sogar Toilettenpapierhersteller spüren die Krise. Die Hakle GmbH, ein deutscher Hersteller von Toilettenpapier und Hygieneprodukten, meldete in diesem Monat Insolvenz an und beantragte Gläubigerschutz, weil sie die Preise nicht mehr ausreichend an Supermärkte und Drogerien weitergeben konnte, um die eigenen energiepreisbedingten höheren Papierkosten auszugleichen.
Branislav Strýček, Geschäftsführer des Energieversorgers Slovenské Elektrárne, befürchtet, dass noch viele slowakische Unternehmen schließen müssen. Denn seiner Schätzung nach hat mehr als die Hälfte noch keinen Strom für 2023 bestellt. Er befindet sich in der seltsamen Lage, als Energieversorger von der Politik Maßnahmen zur Begrenzung der Strompreise zu fordern. Doch wenn seine Kunden nicht überleben, dann hat er auch niemanden mehr, den er beliefern kann.