Weltwirtschaft

Rezession versus Inflation: USA überholen desolates Europa

Lesezeit: 5 min
09.11.2022 14:08  Aktualisiert: 09.11.2022 14:08
Die Erzeugerpreise in den Vereinigten Staaten verlieren merklich an Dynamik. Positiv ist das nur sehr bedingt, denn die Inflation wird schlichtweg vom Wirtschaftsabschwung verdrängt. In Europa ist die Situation dagegen noch viel katastrophaler.
Rezession versus Inflation: USA überholen desolates Europa
Güterzüge stehen im Rangierbahnhof München-Nord. Deutschland steht vor einer tiefen Rezession. (Foto: dpa)
Foto: Sven Hoppe

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Inflation in den USA: Ist das schlimmste vorüber?

Die Entwicklung der Erzeugerpreise in den USA gibt Anzeichen zur Hoffnung an der Inflationsfront. Die von den Produzenten durchschnittlich aufgerufenen Großhandelspreise verharrten im Oktober binnen Jahresfrist bei einem Wachstum von 8,5 Prozent, nachdem im Juli noch fast 10 Prozent verzeichnet wurden. Die Erzeugerpreise sind der entscheidende Frühindikator für die Konsumentenpreise.

Der US-Konsumentenpreisindex stieg im Oktober binnen Jahresfrist um 7,7 Prozent – so niedrig war die offizielle Inflationsrate zuletzt am Jahresanfang gemessen worden. Auf Monatsbasis entspricht dies einem Anstieg von 0,4 Prozent, wobei diese Zahl im Vormonat noch negativ war.

Die neuesten Daten in Europa sind im Vergleich dazu wenig erbaulich. Um 42 Prozent stiegen die Produzentenpreise im Vorjahresvergleich, wobei der minimale Rückgang der jährlichen Steigerungsrate (Vormonat: 43 Prozent) in einer leichten Normalisierung der Energiepreise begründet ist. Die Konsumentenpreisinflation erreichte zugleich einen neuen Höchstwert von 10,9 Prozent in der Eurozone und ein 70-Jahreshoch von 10,4 Prozent in Deutschland.

Die Wirtschaftsstruktur in den USA unterscheidet sich deutlich von Europa. In den Staaten herrscht derzeit keine akute Energiekrise, die Preise von Gas, Öl, sonstigen Treibstoffen und Strom waren im Vergleich nur geringfügig gestiegen. Während die Kernrate der Inflation (Konsumentenpreis-Steigerungen exklusive Energie und Nahrungsmittel) in den USA die Betrachtung mit 60 bis 80 Prozent dominiert, macht sie in Deutschland nur 25 bis 40 Prozent der gesamten Inflationsrate aus.

Ein weiterer fundamentaler Unterschied zu Europa ist die Währung: Der US-Dollar zeigte sich in diesem Jahr so stark wie selten zuvor, während der Euro zeitgleich kollabierte. Der starke Dollar dämpft die Kosten der heimischen Firmen, weil Importe verbilligt werden.

Vorboten der Wirtschaftskrise: Umsatz im E-Commerce und Gebrauchtwagen-Segment bricht ein

In den USA kam die Inflation nicht vorwiegend über die Erzeugerpreise, sondern auch stark über die Nachfrage des Staates und der Verbraucher. Die in Zeiten von Stimulus-Checks und aggressiver Fiskalpolitik (allen voran das Paycheck-Protection-Programm) kumulierten Ersparnisse der Bürger sind nun fast restlos aufgebraucht. Zwischenzeitlich bei über 20 Prozent, ist die Sparrate der privaten Haushalte mittlerweile mit 3,1 Prozent in der Nähe des Allzeit-Tiefstandes.

Das resultiert in einer abflauenden Dynamik beim Konsum, quasi einem „Post-Post-Covid“ Einbruch der Verbraucherausgaben. Die Aufholeffekte beim Konsum sind abgelaufen und jetzt ist bei der Masse an Verbrauchern mangels staatlicher Geschenke und nicht zuletzt wegen der Preissteigerungen der letzten 12 Monate kaum noch Geld für nicht-lebensnotwendige Güter übrig. Im Hinblick auf die Inflations-Problematik ist das eher positiv, für die Bürger jedoch ein finanzielles Desaster.

Und damit auch für den Handel. Wenn die verfügbaren Realeinkommen sinken, bricht hier die Nachfrage ein. Noch können steigende Konsumschulden (Kreditkarten sind in den USA äußerst beliebt) zu nunmehr steigenden Zinssätzen dies teilweise abfedern, aber wie lange noch? Zumal die Konsumstimmung absolut im Keller ist. Das von der Universität Michigan ermittelte Verbrauchervertrauen ist auf dem tiefsten Stand aller Zeiten und sogar noch tiefer als auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008.

Ganz besonders krass hat es jetzt den Marktführer Amazon erwischt. Der operative Gewinn im Berichts-Quartal war überraschend niedrig und zusätzlich wurde eine verheerende Umsatz- und Gewinnprognose abgegeben. Im vierten Quartal dürfte demnach kein Cent an Profit hängenbleiben. Amazon hat massiv überinvestiert und kann derzeit nicht einmal sagen, ob und wieviel Geld man in Zukunft circa verdienen wird. Auch der führende Logistik-Dienstleister FedEx meldete jüngst katastrophale Ergebnisse.

Die Großbank Wells Fargo berichtet derweil von zunehmenden Verlusten bei für Fahrzeugkäufe vergebene Darlehen. Hierbei handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Der zweitgrößte Autofinanzierer des Landes, Ally Financial, berichtete kürzlich darüber, dass sich die eigenen Kreditabschreibungen im Bereich der Kredite für Gebrauchtautos im dritten Quartal vervierfacht haben. Die US-Preise für Gebrauchtfahrzeuge sind im dritten Quartal um sieben Prozent gesunken. Es handelt sich um den stärksten Preisrückgang seit der 2008.

Rezession verdrängt Inflation

Ein ebenso wichtiger Faktor sind die auf breiter Front rückläufigen Rohstoffpreise. In China sinken aktuell schon die Erzeugerpreise und auch in den USA werden sich die Inputkosten der Unternehmen dadurch entspannen. Im Juli hatten die DWN eine große Analyse zum Thema Rohstoffpreise veröffentlicht und dabei genau dieses Szenario als am wahrscheinlichsten prognostiziert. Ein Kernargument des damaligen Artikels war die sich schon damals ankündigende Rezession in den USA, Europa und dem Rest der Welt. Rein technisch befinden sich die USA längst in einer Rezession, weil die Wachstumsrate des realen BIP für die ersten zwei Quartale in Folge negativ war (minus 1,6 und minus 0,6 Prozent).

Und hier liegt auch die Schattenseite der auf den ersten Blick positiven Inflationsdaten begraben. Eine schrumpfende Wirtschaft wirkt in aller Regel deflationär, weil die Nachfrage stärker einbricht als das Angebot. Wenn die Nachfrage künstlich am Leben gehalten wird (wie es in der Coronakrise der Fall war) können preistreibende Faktoren überwiegen, doch US-Notenbank und -Regierung fokussieren sich jetzt fast schon einseitig auf die Bekämpfung der Inflation, sodass es äußerst unwahrscheinlich erscheint, dass wir 2023 ähnliches erleben werden wie 2020 und 2021.

Investoren rechnen mit einem mittelfristigen Rückgang der Inflation. Die fünfjährigen Inflationserwartungen (abgeleitet aus Kursen von Inflations-indexierten Anleihen) pendeln aktuell um die Marke von 2,3 Prozent, nachdem sie in der Spitze bei „nur“ 2,7 Prozent lagen. Die Marktteilnehmer gehen davon aus, dass sich die aggressive Phase der US-Zinserhöhungen dem Ende zuneigt. Die Konjunktur sei eingebremst worden und es gebe erste Anzeichen einer Entspannung beim Anstieg der Inflationsrate.

Die Zentralbank Federal Reserve (Fed) kündigte dann auch bei der jüngsten Anhebung des Leitzinses um plus 75 Basispunkte auf 4,0 Prozent an, dass die nächsten Zinsschritte vermutlich weniger stark ausfallen werden. Auch die Zentralbanker haben wohl die leicht abnehmende Dynamik der Inflation registriert.

Kurz gesagt: Die Rezession verdrängt scheinbar die Inflation und die deutlich rückläufigen Erzeugerpreise sind ein frühes Signal dieser Entwicklung. Etwas irritierenderweise schien die Fed eine Rezession fast schon herbeizuwünschen, um die Inflation einzudämmen. Im dritten Quartal stieg die annualisierte Wirtschaftsleistung dann wieder um 2,6 Prozent, was aber angesichts der oben aufgeführten Faktoren nicht nachhaltig sein dürfte.

In Deutschland und Europa gibt es das schlimmste aus beiden Welten

In Deutschland und ganz Europa ist die Lage noch viel schlimmer. Hier trifft die kommende Rezession nicht auf eine nachlassende, sondern eine sich intensivierende Inflationsdynamik. Statt einstellig und sinkend wie in den USA, beträgt die Steigerungsrate der Erzeugerpreise in Deutschland satte 46 Prozent – Tendenz steigend. Die meisten deutschen Industriefirmen können derzeit nur mit Verlust produzieren. Hierzulande gibt es also das schlechteste aus beiden Welten.

Auf lange Sicht könnte es noch zu einer richtigen Schere zwischen dem Atlantik kommen. Denn die immer deutlicher werdende De-Industrialisierung und mangelnde Versorgungssicherheit in Europa trifft auf eine tendenzielle Re-Industrialisierung inklusive Energie-Autarkie in den USA. Die Vereinigten Staaten könnten sich zumindest relativ organisch auf der Angebotsseite aus der Inflationsfalle befreien, während Europa in einer hochinflationären Depression zu versinken droht. Eine Rezession mit Hochinflation ist in Europa alleine deshalb wahrscheinlicher, weil unsere (Wirtschafts-)Politik in negativer Hinsicht eine Klasse für sich ist (siehe zum Beispiel hier). Eine Entspannung aus eigener Wirtschaftskraft ist nahezu unmöglich, der externe Energieschock muss sich erst umkehren.

Eine eskalierende Inflation ist aber auch in den USA ein Risiko, das man nicht unterschätzen sollte. Bisher unerwähnt blieb die drohende Lohn-Preis-Spirale. Erstaunlicherweise sind in den USA trotz Wirtschaftskrise über 10 Millionen Stellen unbesetzt, für jeden Jobsuchenden gibt es aktuell 1,75 Jobangebote. Weil zudem grob jeder fünfte Amerikaner in den noch boomenden Sektoren der Öl- und Gasindustrie, Agrarwirtschaft oder Militär/Sicherheit arbeitet, sind saftige Gehaltserhöhungen nahezu vorprogrammiert. Die im Artikel aufgeführten Signale einer abkühlenden Inflation sind also nur eine Momentaufnahme, zumal sich die Inflation auch auf einem etwas niedrigeren Niveau - so circa bei fünf Prozent - „stabilisieren“ und damit zu einem dauerhaften Problem mutieren könnte.

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Jakob Schmidt ist studierter Volkswirt und schreibt vor allem über Wirtschaft, Finanzen, Geldanlage und Edelmetalle.


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