Finanzen

Gierflation: „EZB sucht einen Sündenbock“

Lesezeit: 5 min
30.06.2023 09:39  Aktualisiert: 30.06.2023 09:39
EZB-Chefin Christine Lagarde gibt den Unternehmen eine Mitschuld an der hohen Inflation. Kritische Ökonomen sehen das anders.
Gierflation: „EZB sucht einen Sündenbock“
Die Euro-Skulptur vor dem ehemaligen Sitz der EZB in Frankfurt am Main. (Foto: iStock.com/Stephan Behnes)
Foto: Stephan Behnes

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Die Inflation ist in der Eurozone weiter hoch. Im Mai lag sie bei 6,1 Prozent. In manchen Euro-Ländern ist sie sogar zweistellig – etwa in Lettland (12,3 Prozent), Slowakei (12,3 Prozent) und Estland (11,2 Prozent).

In der Öffentlichkeit ist darum eine Debatte um „Gierflation“ entbrannt – also der These, dass Unternehmen die Inflation ausgenutzt hätten, um die Preise über die eigenen Kosten hinaus zu erhöhen. Etwa machte sich jüngst EZB-Chefin Christine Lagarde die These zu eigen.

Die meisten Unternehmen hätten „den Vorteil genutzt, die höheren Kosten völlig auf die Kunden abzuwälzen“, sagte sie vor dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europaparlaments. „Und einige von ihnen haben die Preise über den bloßen Kostendruck hinaus erhöht.“ Lagarde forderte vor dem EU-Parlament daher, dass sich die nationalen Wettbewerbsbehörden mit Gierflation beschäftigen sollten.

Kurz darauf äußerte der Chef des Bundeskartellamts, Andreas Mundt, den Verdacht illegaler Preisabsprachen. „Wir sehen Branchen, wo Preise auffallend gleichförmig nach oben gehen“, sagte er in einem Interview mit der FAZ.

Ökonomen widersprechen Lagarde

Ökonomen sehen Gierflation indes kritisch. Für die Theorie gebe es keine wirklich verlässliche Evidenz, schreibt etwa der Wettbewerbsökonom Justus Haucap gegenüber DWN. „Dass die EZB diesen Ball gern aufnimmt und einen anderen Sündenbock für die Inflation sucht, um nicht selbst als Hauptverantwortliche dazustehen, verwundert mich nur sehr begrenzt.“

In Einzelfällen werde die Theorie vermutlich stimmen, aber flächendeckend für alle Branchen über ganz Deutschland oder Europa sei das „extrem unwahrscheinlich“, erklärt Haucap weiter, der von 2008 bis 2012 die Monopolkommission geleitet hat – ein Gremium, das die Bundesregierung und die Öffentlichkeit in wettbewerbspolitischen Fragen berät.

Gunther Schnabl sieht Preiserhöhungen über die steigenden Kosten hinaus bloß in bestimmten Wirtschaftszweigen. „Das dürften vor allem Branchen sein, in denen die Unternehmen eine große Marktmacht haben oder die Preissensibilität der Konsumenten gering ist (zum Beispiel im Lebensmittelhandel)“, schreibt der Leipziger Professor an DWN.

Schuld daran ist Schnabl zufolge auch die EZB. Die Kommunikation steigender Inflationsraten in den Medien habe die Erwartungen der Konsumenten hin zu steigender Inflation verändert und so erst die übermäßigen Preiserhöhungen ermöglicht. „Hätte die EZB vorausschauend die Inflation niedrig gehalten, wären die Preiserhöhungspielräume für die Unternehmen deutlich geringer gewesen“, erklärt Schnabl.

Der Konjunkturtheoretiker Philipp Bagus hält die These hingegen für „vollkommen falsch“, wie er auf DWN-Anfrage erklärt. „Wieso haben die Unternehmen nicht bereits vor der Inflationswelle die Preise steigen lassen, wenn sie die Macht haben, die Preise zu setzen?“, fragt der Professor aus Madrid rhetorisch.

Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) spricht in einem aktuellen Medienbeitrag vom „Mythos von der Gierflation“. Sowohl die theoretische Begründung als auch die empirische Evidenz seien „schwach“, schreiben die beiden Autoren.

Das ifo-Institut vermutet hingegen in der ifo-Konjunkturprognose für den Sommer 2023 Gewinnmitnahmen von Unternehmen. „Gerade in den Bereichen Landwirtschaft und Handel stiegen die Unternehmensgewinne ausweislich der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen überdurchschnittlich.“

Argumente gegen Gierflation

Justus Haucap hält aus zwei Gründen einen Missbrauch von Marktmacht oder Preisabsprachen für „sehr unwahrscheinlich“. Erstens gebe es in manchen Branchen echte Knappheiten, etwa den Fachkräftemangel im Handwerk. „Viele Unternehmen können gar keine weiteren Aufträge annehmen, weil die Kapazitäten dafür fehlen“, schreibt Haucap. „Daraufhin werden Preise erhöht, die diese Knappheiten anzeigen – das, was wir vom Markt erwarten.“

Zweitens seien die Kapitalkosten aufgrund der Zinserhöhungen und die Wiederbeschaffungskosten für Anlagegüter gestiegen. „Ein nachhaltig wirtschaftendes Unternehmen muss daher seine Preise beziehungsweise Angebote mit höheren Kosten kalkulieren“, erklärt Haucap. Die Abschreibungen in den Büchern basierten jedoch oft auf historischen Anschaffungswerten, die geringer gewesen seien.

Zu den geringen Preisen ließen sich die Anlagegüter nicht wiederbeschaffen. „Somit steigen die ausgewiesenen Gewinne, weil die auf historischen Werten basierenden Abschreibungen in den Büchern im Grunde zu niedrig sind, um die Ersatzinvestitionen zu finanzieren“, schreibt Haucap.

Starke Preissteigerungen dürften daher vor allem in kapitalintensiven Branchen vorkommen, also bei Firmen mit relativ geringen Personalkosten und hohem Maschineneinsatz. „Im Lebensmittelbereich etwa sieht man das ganz gut“, erklärt Haucap. „Die Margen der (relativ kapitalintensiven) Hersteller steigen, während die Gewinne bei den (eher arbeitsintensiven) Händlern teils sogar schrumpfen.“

Laut einer Analyse des Handelsblatts sind die Rohertragsmargen der meisten Aktiengesellschaften nicht gestiegen. „Die seit dem Ukrainekrieg hohe Inflation schmälert die Handelsspannen der meisten börsennotierten Konzerne in Deutschland“, schreibt das Medium.

Betroffen seien etwa die Autobauer VW, BMW und Mercedes-Benz, aber auch sämtliche Konsumgüterkonzerne wie Adidas, Henkel, Media-Saturn und Metro. Hier seien die Kosten für Produktion und Wareneinkauf im Jahr 2022 kräftiger gestiegen als die Umsätze.

Zwei Studien sollen Gierflation belegen

Befürworter der Gierflationsthese verweisen indes auf Analysen von Allianz Trade und dem ifo-Institut, die übermäßige Preiserhöhungen belegen sollen. „Seit Mitte Mai 2022 können etwa 10 Prozent der Verteuerung der Lebensmittel in Europa in unserem Inflationsmodell nicht durch die historische Dynamik, Erzeuger- und Energiepreise erklärt werden“, erklärt etwa ein Allianz-Mitarbeiter.

Vor der Corona-Krise und dem Ukraine-Krieg habe der Anteil noch bei 3 Prozent gelegen. „Es scheint zunehmend Anzeichen für Gewinnmitnahmen zu geben“, sagt der Mitarbeiter weiter. Besonders betroffen sei die Lebensmittelindustrie, die die Preise wesentlich stärker erhöht habe als der Lebensmittelhandel, insbesondere die Hersteller von Milchprodukten, Eiern und nicht-saisonalem Gemüse und Obst.

Laut der Untersuchung des ifo-Instituts haben hingegen der Handel, die Land- und Forstwirtschaft sowie das Baugewerbe von der hohen Inflation profitiert. Hier seien die Gewinnspannen auf Branchenebene gestiegen und lägen über dem langjährigen Durchschnitt. Keine Auffälligkeiten gab es wiederum bei dem verarbeitenden Gewerbe und Dienstleistungen.

Der Autor untersuchte dabei den branchenweiten Anteil der Bruttobetriebsüberschüsse (Gewinneinkommen zuzüglich Abschreibungen und sonstige Nettoproduktionsabgaben) an der gesamten Bruttowertschöpfung.

Das DIW sieht indes Analysen von aggregierten Gewinndaten einzelner Branchen kritisch. Sie seien ungeeignet, kausale Zusammenhänge zu erklären. „So ist es nicht möglich, belastbare Aussagen über Ursache und Wirkung des Anteils der Gewinne an der Wertschöpfung und der Inflation zu treffen.“

Eine aussagekräftige Analyse benötige zusätzliche Informationen über die Gewinnaufschläge der Unternehmen, die Aufschluss über das Verhältnis von Produktionskosten und dem Preis geben würden. „Erste Studien dazu aus den USA sprechen eher nicht für wettbewerbsgetriebene Inflation, weil sich die Preis-Kosten-Margen zuletzt wenig verändert haben“, schreiben die DIW-Autoren.

Daneben stellt sich die grundsätzliche Frage, ab wann ein Gewinn „zu hoch“ ist. Letztendlich ist das eine reine Ermessensfrage. Gewinne sind eine Kompensation für die Übernahme von unternehmerischem Risiko. Steigt die Inflation und somit die wirtschaftliche Unsicherheit, erscheint es naheliegend, dass Unternehmer eine höheren Risikoausgleich verlangen, etwa um mehr Rückstellungen zu bilden.

„Kartellrechtliche Maßnahmen sind nicht hilfreich“

Indes warnt selbst der ifo-Autor vor Staatseingriffen in die Preisbildung oder einer Übergewinnsteuer. Letztere lasse sich nicht rechtssicher durchsetzen und sei nicht marktkonform aufgrund der verzerrenden Wirkung auf die Knappheitssignale des Marktes.

Außerdem könnten auch Gewinne abgeschöpft werden, die durch Innovationen oder Steigerung der Absatzmenge erzielt worden seien. „Und da es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass hinter den Preissteigerungen Absprachen der Unternehmen stehen könnten, sind auch kartellrechtliche Maßnahmen hier nicht hilfreich.“

Gunther Schnabl sieht die Ursache der aktuellen Inflationswelle in der EZB-Geldpolitik, die über viele Jahre zu locker gewesen sei. „Die EZB hat insbesondere über den umfangreichen Ankauf von Staatsanleihen sehr viel Geld in den Umlauf gebracht.“

Auch die schnell wachsende Regulierung treibe die Preise nach oben. Etwa sähen sich Unternehmen tiefgreifenden Klima- und Umweltauflagen gegenüber, die die Kosten nach oben treiben würden. „Wachsende Handelskonflikte und Lieferkettengesetze drehen die ehemals preissenkenden Tendenzen der Globalisierung in einen zusätzlichen Inflationsdruck um“, erklärt Schnabl weiter.

Die EZB hat im Zuge der Corona-Krise die Geldmenge rasant ausgeweitet. Zwar ist die Bilanzsumme des EZB-Systems inzwischen um rund 12 Prozent zum Höchststand im Jahr 2022 gesunken. Aber sie liegt aktuell immer noch 65 Prozent über dem Vor-Corona-Niveau.

Laut Ökonomen wird die Inflation in diesem Jahr weiter sinken, falls die EZB die Geldmenge nicht erneut ausweitet. Etwa rechnete der Degussa-Chefvolkswirt Thorsten Polleit gegenüber DWN mit einer Güterpreisinflation von 6,5 Prozent, bis der restliche Geldmengenüberhang komplett abgebaut ist. Annahme war dabei, dass die Wirtschaft im Jahr 2023 um ein Prozent wächst.

                                                                            ***

Elias Huber arbeitet als freier Journalist in Frankfurt am Main und schreibt vor allem über Konjunktur, Edelmetalle und ETFs sowie die ökonomische Lehre der Österreichischen Schule. 


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