Politik

Gegen Zentralbank und Elite: Argentinien steuert auf radikale Veränderungen zu

Lesezeit: 3 min
20.11.2023 11:39  Aktualisiert: 20.11.2023 11:39
Die Wahl des libertären Javier Milei zum Präsidenten könnte im Krisenland Argentinien viel in Bewegung bringen.
Gegen Zentralbank und Elite: Argentinien steuert auf radikale Veränderungen zu
Javier Milei, Präsidentschaftskandidat der libertären Partei La Libertad Avanza, spricht in der Wahlkampfzentrale nach seinem Sieg bei der Stichwahl. (Foto: dpa)

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Nach dem deutlichen Sieg von Javier Milei bei der Präsidentenwahl steht Argentinien vor einem wirtschaftlichen Radikalumbau. „Das Modell der Dekadenz ist am Ende, es gibt kein Zurück mehr“, kündigte der 53-jährige Ökonom in der Nacht zum Montag (Ortszeit) vor seinen Anhängern in Buenos Aires an. „Für laue Halbheiten ist kein Platz.“

Sein Gegenkandidat, der amtierende Wirtschaftsminister Sergio Massa von den seit Jahrzehnten dominierenden Peronisten, räumte seine Niederlage ein. Milei vereinte bei der Wahl am Sonntag rund 56 Prozent der Stimmen auf sich, Massa kam auf 44 Prozent.

Im Wahlkampf hat der libertäre Politiker eine wirtschaftliche Schocktherapie für das mit dreistelligen Inflationsraten, Konjunkturflaute und zunehmender Armut kämpfende südamerikanische Land angekündigt. „Wir stehen vor gewaltigen Problemen“, sagte er vor feiernden Unterstützern. „Die Situation ist kritisch, es gibt keinen Platz für halbherzige Maßnahmen.“

Zu seinen radikal-liberalen Plänen gehören die Schließung der Zentralbank, drastische Ausgabenkürzungen sowie die Abschaffung der Landeswährung Peso zugunsten einer Bindung an den US-Dollar. Milei ist entschieden gegen Abtreibung, befürwortet lockerere Waffengesetze und hat den argentinischen Papst Franziskus wiederholt kritisiert.

Früher trug er eine Kettensäge als Symbol für seine geplanten Ausgabenkürzungen bei sich. Darauf verzichtete er im Wahlmampfendspurt, in dem er sich um ein gemäßigteres Auftreten bemühte.

In der Innenstadt von Buenos Aires hupten Hunderte von Milei-Anhängern und skandierten seinen beliebten Refrain gegen die politische Elite: „Raus mit allen.“ „Milei steht für Veränderung zum Besseren“, sagte Efrain Viveros, ein 21-jähriger Student aus der Provinz Salta. „Mit Massa hätten wir keine Zukunft gehabt, unsere Zukunft ist zurückgekehrt.“

Auch der 31-jährige Restaurantmitarbeiter Cristian hofft auf eine Wende zum Besseren. „Es ist ein bisschen beängstigend, aber es ist Zeit, eine neue Seite aufzuschlagen“, sagte er. „Milei ist die einzig gangbare Option, damit wir nicht ins Elend geraten“, betonte der 34-jährige Buchhalter Santiago Neria. Dagegen sagte die 42-jährige Lehrerin Susana Martinez: „Mileis Politik macht mir Angst“.

An den Finanzmärkten dürfte der Wahlsieg von Milei deutliche Spuren hinterlassen, doch blieben sie am Montag wegen eines Feiertages geschlossen. „Wir erwarten aufgrund der Unsicherheit bis zum 10. Dezember Druck auf dem Devisenmarkt“, sagte der Chefökonom des Finanzhauses TPCG in Buenos Aires, Juan Manuel Pazos, mit Blick auf den Tag der geplanten Amtsübernahme.

Auch andere Experten gehen davon aus, dass die Landeswährung Peso weiter abwerten dürfte. Der Wahlgewinner hatte versprochen, die Zentralbank „niederzubrennen“ und die nach Brasilien zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas an den US-Dollar zu binden.

Die geplante Bindung an den Dollar ist bemerkenswert, weil Argentinien zum Jahreswechsel dem BRICS-Bündnis beitreten wird, welches sich um eine stärkere Emanzipation von den USA bemüht.

Der Internationale Währungsfonds (IWF), der das Land immer wieder mit Milliardenkrediten versorgt hat, kündigte eine Zusammenarbeit mit dem neuen Präsidenten an. „Wir freuen uns darauf, in der kommenden Zeit eng mit ihm und seiner Regierung zusammenzuarbeiten“, schrieb IWF-Chefin Kristalina Georgieva auf X (früher Twitter). Notwendig sei ein „starker Plan zur Sicherung der makroökonomischen Stabilität“.

LOBBY SIEHT „GROSSARTIGE GELEGENHEIT“

Die einflussreiche argentinische Agrar-Lobby hofft nun auf einen „radikalen Wandel“. Sie bot dem neuen Staatschef ebenfalls eine Zusammenarbeit an. Argentinien ist einer der weltweit größten Exporteure von Soja, Mais, Weizen und Rindfleisch. Allerdings fordern die Getreide- und Viehproduzenten seit Jahren die Abschaffung von Steuern und Obergrenzen, die sie für die Beeinträchtigung der Getreide- und Fleischexporte verantwortlich machen. "Es hat sich eine großartige Gelegenheit eröffnet, gemeinsam an einer radikalen Änderung der aktuellen Politik zu arbeiten", hieß es in einer Erklärung des Arbeitgeberverbandes SRA, dem vornehmlich Großgrundbesitzer angehören.

Der Wahlausgang könnte den Handel mit Rohstoffen wie Getreide, Lithium und Kohlenwasserstoff beeinflussen. Milei kritisierte China und das benachbarte Brasilien. Er wolle keine Geschäfte mit „Kommunisten“ machen. Stattdessen strebt der ehemalige Fernsehkommentator engere Beziehungen zu den USA an.

Der linke brasilianische Präsident Luiz Inacio Lula da Silva gratulierte, ohne Milei zu erwähnen. „Ich wünsche der neuen Regierung Glück und Erfolg. Argentinien ist ein großes Land, das unseren Respekt verdient. Brasilien wird immer bereit sein, mit unseren argentinischen Brüdern zusammenzuarbeiten“, schrieb Lula auf X. Vor der Wahl hatte Milei Lula als „Sozialisten mit totalitären Ideen“ bezeichnet. Er kritisierte auch den gemeinsamen südamerikanischen Markt Mercosur und sagte, Argentinien werde „seinen eigenen Weg gehen“. Der chilenische Präsident Gabriel Boric beglückwünschte seinen künftigen Amtskollegen. Kolumbiens Präsident Gustavo Petro sieht den Wahlsieg des polarisierenden Politikers hingegen mit Sorge. „Traurig für Lateinamerika“, schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst.

Der frühere US-Präsident Donald Trump gratulierte dem Rechtspopulisten. „Die ganze Welt hat zugeschaut! Ich bin sehr stolz auf Sie“, schrieb der Republikaner auf seiner Plattform Truth Social. „Sie werden Ihr Land umkrempeln und Argentinien wirklich wieder großartig machen!“ Deutlich zurückhaltender reagierte man im Weißen Haus. Man freue sich auf Beziehungen, die auf „Menschenrechten, demokratischen Werten und Transparenz“, schrieb der Nationale Sicherheitsberater im US-Präsidialamt, Jake Sullivan, auf X.



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