Fast 125 Jahre alt ist die von Siemens einst vor den westlichen Toren Berlins, in den Nonnenwiesen zwischen Havel und Spree, errichtete Elektropolis namens Siemensstadt. Sie war es, die Berlin zur einst größten Industriestadt Europas heranwachsen ließ. Mit dem Mauerbau und der Berliner Teilung wurde sie freilich auch zum Sinnbild der Deindustrialisierung Deutschlands. Wie die deutsche Wirtschaft insgesamt investierte man sukzessive lieber in der weiten Welt – São Paulo in Brasilien wurde so vorübergehend zur größten deutschen Industriestadt, während in der Siemensstadt der Putz von den Genossenschaftsbauten bröckelte. Gibt es nun wirklich eine Renaissance?
Auf jeden Fall soll jetzt mit der Transformation des fast 80 Hektar großen Industriegeländes die Rückbesinnung glaubhaft gemacht werden. In den feierlichen Grußbotschaften der geladenen Honoratioren wurde viel von Zukunft und Nachhaltigkeit und Co2-Neutralität gesprochen. Siemens will mit seinen Mitteln als international renommierter Technologie-Konzern die Entwicklung vorantreiben und 750 Millionen Euro in den Umbau der Siemensstadt in einen künftigen Berliner Wissenschafts- und Technologiestandort investieren. Superlative seien auch in der Pipeline – so etwa der größte Wärmetauscher Europas, der das Abwasser im mächtigen neuen Rohr unter der Spandauer Nonnendammallee in Wärme und Energie umwandeln soll. Keine Frage, dass Siemens das kann, was denn sonst?
Das meiste Geld sollen freilich andere in das neue Industrie- und Wohnungsbauprojekt „Siemensstadt Square“ stecken - 3,5 Milliarden Euro für zwei Industrie-Hubs und insgesamt eine Million Quadratmeter neuer Gewerbe- und Büroflächen. Ob die wirklich jemals gebraucht werden, an diesem Standort, ist die große Frage, auf die es außer Hoffnungsbekundungen noch keine verlässlichen Angaben gibt. Siemens hat nicht einmal eine überzeugende Idee, wie die alte denkmalgeschützte Unternehmenszentrale, die fünfmal so groß ist wie das Kanzleramt, in Zukunft genutzt werden könnte. Irgendwas mit Hotelnutzung vielleicht oder gewerbliches Wohnen für Studenten, das übliche Einmaleins der Projektentwickler.
Deswegen stehen vielmehr auch 2750 geplante Wohnungen, ein Drittel davon Mietpreis-gebunden, als Versprechen im Vordergrund aller Präsentationen. Doch selbst die sind für Siemens lediglich ein lukratives Grundstücksgeschäft. Der Konzern warb auf der Pressekonferenz für Verständnis, dass Siemens seine Zukunft sicher nicht im Wohnungsbau sieht. Nicht mal Mitarbeiterwohnungen seien geplant, hieß es in entwaffnender Ehrlichkeit. Obwohl (angesichts der Wohnungsnot) allmählich immer mehr Unternehmen erkennen, dass sie damit womöglich den Wettbewerb um die besten Mitarbeiter gewinnen könnten. Siemens wirbt stattdessen mit dem Metaverse, in das sich der Konzern zunehmend von den Industrie-Zeiten verabschiedet.
Der Steuerzahler baut die Siemensbahn auf, der Konzern versilbert die Grundstücke
Siemens schwebt schon seit Jahren in anderen Sphären. Für Berlin hat sich der Konzern Jahrzehnte bestenfalls beiläufig interessiert. Nun geht es ganz offenkundig darum, das abgeschriebene alte Werksgelände zu versilbern und langfristig in der Unternehmensbilanz zu vergolden. Vater Staat steht derweil Gewähr bei Fuß, die für den Erfolg der Stadtentwicklung unerlässliche Bahnanbindung möglich zu machen. Der Regierende Bürgermeister Wegner gab freimütig zu, dass unter normalen Umständen Berlin und Eisenbahnbundesamt die historische Siemensbahn mit den Haltestellen Siemensstadt und Wernerwerk sicher nicht wieder reaktivieren würden. Außer den historischen Viadukten ist davon kaum noch etwas vorhanden, auf das sich aufbauen ließe. Gleichwohl fließen in den kommenden Jahren reichlich Steuergelder in eine Strecke, die sonst höchstens Nachfrage für eine weitere Buslinie mit sich bringt. Siemens selbst hat seit der Deutschen Einheit 30 Jahre verstreichen lassen und sich (wie gestern Vorstands-Chef Roland Busch) über den Zerfall und Schmierereien lustig gemacht – Bahnhofs-Ruinen voller Graffiti, ach wie schön!
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) überraschte die Gäste der Grundsteinlegung mit seiner Einschätzung, dass das Siemens-Projekt veranschauliche, dass Deutschland im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern Europas ein Industriestandort bleibe. Nur er weiß, wer das in sein Manuskript geschrieben hat. Fakt ist, dass der alte Industriestandort in weiten Teilen abgerissen und weitgehend entsiegelt wird. Ab 1897 auf den sumpfigen Nonnenwiesen im Delta zwischen Spree und Havel errichtet, soll es nun - ökologisch korrekt - zur „Schwammstadt“ (nach dem Konzept der sogenannten Sponge Cities) werden, die die vom Klimawandel verursachten Regenfälle wie ein Schwamm aufsaugen sollen.
Der neue Stadtteil ist eine Vision, von der noch keiner weiß, wie sie wirklich aussehen wird
Es heißt, 2035 werde alles fertig sein und in Spandau ein zukunftsorientiertes neues Stadtviertel aus Bits, Bytes und Blocks in typischer Siemens-Backsteinarchitektur (nach einem Masterplan des Büros Robertneun) entstanden sein. 35.000 Menschen werden dort leben und arbeiten, so das Versprechen. Wobei die, die dort bei Siemens im künftigen 60-Meter-Hochhaus arbeiten werden, sicher nicht zu den 7000 Mietern der Wohnungen zählen dürften. Während sich die Bewohner der alten Siemensstadt und der geplanten neuen „Sozialwohnungen“ den Aufenthalt in der neuen Siemensstadt namens „Siemensstadt Square“ vermutlich eher nicht leisten können. Schöne neue Siemens-Welt! Der Kanzler hat schon mal seine „Visitenkarte“ in der Schauvitrine für die Nachwelt und die Soziologen der Zukunft hinterlassen.