Politik

Wer wird eine neue europäische Debattenkultur schaffen?

Lesezeit: 4 min
08.09.2024 11:02  Aktualisiert: 08.09.2024 12:31
Europas Zukunft steht auf dem Spiel: Präsident Macron warnt vor dem Zerfall des Kontinents. Während die alte EU-Ordnung erlahmt, wachsen neue Kräfte in Polen, Italien und Großbritannien heran. In Zeiten geopolitischer Unsicherheiten und schwacher Führung ringen kleinere Länder um Einfluss. Um den Kontinent neu zu ordnen, braucht es mutige Debatten und innovative Ideen – doch Europa bleibt im Konsens gefangen.
Wer wird eine neue europäische Debattenkultur schaffen?
Europa braucht innovative Ideen und frische Führungspersönlichkeiten, um die gegenwärtige politische Stagnation zu überwinden. (Foto: iStock.com, rarrarorro)
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Es ist etwas faul in Europa. Im Mittelpunkt der Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron an der Sorbonne im April stand die Warnung, dass Europa vergänglich sei – „es kann sterben“. Viele sehen eine dringende Notwendigkeit neuen Denkens, neuer Führung und neuer Ideen, doch ist schwer zu sagen, wo diese zu finden sein könnten. Um neue Ideen zu entwickeln und neue Grundsätze zu schmieden, bedarf es der offenen Debatte. Europa jedoch ist nach wie vor von einer Politik des Konsenses besessen und damit einer von offiziellen Kreisen und der Meinungselite in Berlin und Paris propagierten lähmenden Orthodoxie verhaftet.

Die deutsch-französische Beziehung ist seit 200 Jahren die zentrale Achse der europäischen Geschichte. Nach der Zäsur des Zweiten Weltkriegs, der die alten Eliten beider Länder in einem Zustand völliger Demütigung hinterließ, entwickelte sich das deutsch-französische Paar zum Fundament des europäischen Projekts. Inzwischen aber sind beide gelähmt, und die Demokratie – die für die Neugestaltung des Nachkriegseuropas von so entscheidender Bedeutung war – ist ins Wanken geraten. Die französischen Wähler haben gerade ein aus extremen Rechten, radikalen Linken und einer isolierten, irrelevanten Mitte bestehendes Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse gewählt, während die unpopuläre deutsche Regierungskoalition in nicht enden wollenden Steuerstreitigkeiten gefangen ist. Schlimmer noch: Die deutschen Landtagswahlen im kommenden Monat dürften ein ähnliches Ergebnis wie in Frankreich hervorbringen.

Die Europäer scheinen nicht mehr viel Vertrauen in die alten Motoren der europäischen Integration zu haben. Und es hilft auch nicht, dass ihre derzeitigen Staats- und Regierungschefs wie Karikaturen ihrer jeweiligen Traditionen wirken. Macron (der sich selbst einmal mit Jupiter verglich) ist napoleonisch in seiner Vorliebe für groß angelegte Vabanquespiele. Man erinnere sich an seine diplomatischen Bemühungen im Gefolge der russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022, die bald in einem vergeblichen Versuch des Appeasements Wladimir Putins in sich zusammenfielen. Dann brachte er eine mögliche Notwendigkeit der Entsendung von NATO-Truppen in die Ukraine ins Spiel, gefolgt von seiner ebenso unklugen Entscheidung, in diesem Sommer eine vorgezogene Parlamentswahl auszurufen.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat derweil seinen inneren Immanuel Kant kanalisiert, indem er auf der Möglichkeit ewigen Friedens beharrte. Das Motto seines verfehlten Europawahlkampfs lautete „Frieden sichern“. Als er eine Rede zum 300. Jahrestag von Kants Geburt hielt, erwartete sein Publikum sehnlichst, dass er die Taurus-Raketen erwähnen würde, um die die Ukraine so dringend gebeten hatte, doch wie man es von ihm gewohnt ist tat er das nicht.

So haben zwei deutsche Obsessionen – Frieden und ausgeglichene Haushalte – eine gefährliche Mischung hervorgebracht, die droht, die deutsche Unterstützung für die Ukraine in einem kritischen Moment abzuschneiden, und den Frieden und die fiskalische Stabilität in ganz Europa gefährdet.

Kein Wunder, dass alle einen Führungswechsel herbeisehnen. In der Vergangenheit hatte Europa vier Säulen: Frankreich, Deutschland, Italien und das Vereinigte Königreich, die alle einmal eine jeweils ähnlich große Wirtschaft und Bevölkerung hatten. Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 jedoch änderten sich die Proportionen. Zugleich gerieten Italien durch seine ständige politische Instabilität und Großbritannien durch den zum Brexit führenden Bürgerkrieg der Konservativen Partei in Misskredit.

Seltsamerweise aber stehen Großbritannien und Italien heute besser da als das alte Team Berlin-Paris. Italien hat eine nüchterne, fiskalisch verantwortungsbewusste, geopolitisch versierte, pro-europäische Regierung unter Premierministerin Giorgia Meloni. Obwohl sie aus dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano kommt, hat sich Meloni von dessen Ideologie weitgehend verabschiedet. In ähnlicher Weise hat Großbritannien inzwischen eine nüchterne, fiskalisch verantwortungsbewusste und geopolitisch versierte Labour-Regierung unter Premierminister Keir Starmer, der Jeremy Corbyn und den von ihm verkörperten anti-europäischen und antisemitischen Impuls zuerst ablöste und dann aus der Partei ausschloss. Beide Länder profitieren von der Tatsache, dass frühere Regierungen schreckliche Fehler gemacht haben.

Dies ist zudem ein guter Moment für kleinere Länder. Dänemark, Schweden, Polen und – außerhalb der Europäischen Union – Norwegen und die Schweiz erweisen sich als wirtschaftlich dynamisch, politisch und strategisch innovativ. Polen, das größte und am schnellsten wachsende Land unter ihnen, bietet ein einzigartiges Modell für ein künftiges Europa. Aufgrund seiner geografischen Lage hat es die größten Anstrengungen zur Erhöhung seiner Verteidigungsausgaben unternommen, und im Gegensatz zu den größeren europäischen Mächten hat es keine fest etablierte heimische Rüstungsindustrie, deren Lobbyisten die Bemühungen um eine Europäisierung der militärischen Kapazitäten des Kontinents beharrlich blockieren.

Die Ukraine, die Schweiz und Norwegen könnten ihren europäischen Nachbarn viel darüber beibringen, wie man sich an die sich verändernde Welt von heute anpasst. Man muss es Macron zugute halten, dass er mit der Schaffung einer erweiterten europäischen politischen Union experimentiert hat, und im Blenheim Palace (der Geburtsstätte Winston Churchills) trafen sich in diesem Sommer die Staats- und Regierungschefs aus 43 Ländern zu einem Gipfeltreffen.

Mit Blick auf die Zukunft ist in europäischen Angelegenheiten eine Neuorientierung um ein neues Triumvirat aus Großbritannien, Italien und Polen herum vorstellbar. Wie Frankreich und Deutschland haben auch diese Länder eine lange gemeinsame Geschichte. Zugleich jedoch teilen sie ein Bewusstsein für die aktuellen globalen Realitäten und haben eine gemeinsame Debattenkultur. Die polnische Nationalhymne war ursprünglich das Marschlied eines polnischen Generals in der napoleonischen Armee. London war nach 1940 der Sitz der polnischen Exilregierung, und polnische Flieger und Soldaten spielten eine entscheidende Rolle bei wichtigen Gefechten des Zweiten Weltkriegs, vor allem beim Battle of Britain und den Schlachten am Monte Cassino.

Großbritannien, Italien und Polen leben zudem fest in der Gegenwart: Sie streiten nicht ständig über die Übertragung von Befugnissen an europäische Institutionen oder die Währungsintegration. Und sie haben eine starke Tradition der Debatte. Im England des 19. Jahrhunderts machten sich die Dramatiker Gilbert und Sullivan darüber lustig, dass „jeder Junge und jedes Mädchen, die lebend auf die Welt kommen, entweder ein kleiner Liberaler oder ein kleiner Konservativer ist!“ Italien überstand die Kämpfe zwischen Klerikalen und Antiklerikalen. Und Polen überlebte die Spaltung der Zwischenkriegszeit zwischen zwei Militärs mit alternativen Visionen, Marschall Józef Piłsudski und General Władysław Sikorski – eine lange Rivalität, die sich heute in den Spannungen zwischen dem Anführer der extremen Rechten Jarosław Kaczyński und Premierminister Donald Tusk widerspiegelt.

Zentrales Merkmal einer erfolgreichen Demokratie ist die alte athenische Vorstellung von der parrhesia: dem Recht und der Pflicht aller Bürger, sich in öffentlichen Versammlungen frei zu äußern. Dieses Konzept wird manchmal auch als die Verantwortung gefasst, die Mächtigen mit unbequemen Wahrheiten zu konfrontieren. Hunderte von Jahren später führte es zum Aufblühen der Renaissance mit ihrem Glauben daran, dass Ideen und Argumente sowohl überprüfbar als auch anfechtbar sein sollten. Als dasjenige Prinzip, das Autokratien unbedingt unterdrücken müssen, ist die parrhesia der Schlüssel zur Rettung der Demokratie – und damit einhergehend auch der Menschheit.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2024.

www.project-syndicate.org

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Harold James ist Professor für Geschichte und Internationale Angelegenheiten an der Princeton-Universität. Seine neueste Publikation ist: Seven Crashes: The Economic Crises That Shaped Globalization (Yale University Press, 2023).


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