Finanzen

Die Rückkehr des „Bail in“: Denkfabriken erwarten eine neue Euro-Krise im kommenden Jahr

Lesezeit: 4 min
03.12.2020 12:00
Mehrere Denkfabriken befassen sich konkret mit Vorbereitungen für eine neue europäische Schulden- und Bankenkrise. Dabei könnte die 2013 erlassene – und seitdem häufig missachtete – Vorschrift zur Beteiligung von Kunden und Gläubigern bei Bankpleiten diesmal auf breiter Front umgesetzt werden.
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Im Innenhof der ältesten Bank der Welt - der Banca Monte dei Paschi di Siena. (Foto: dpa)
Foto: Mattia Sedda

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Analysten mehrerer Denkfabriken schätzen die Wahrscheinlichkeit als hoch ein, dass es im kommenden Jahr zu einer neuen europäischen Schulden- und Bankenkrise kommen wird. Eine unmittelbar einsetzende Insolvenzwelle in der Realwirtschaft sei im laufenden Jahr mithilfe von Überbrückungskrediten, staatlichen Notfall-Zuschüssen und der Aussetzung der Insolvenzanmeldepflicht zwar abgewendet worden – im kommenden Jahr jedoch würden sich die durch die Corona-Maßnahmen der Staaten verursachten Schäden materialisieren, zitiert das Portal German Foreign Policy aus mehreren Studien und Artikeln.

Die Europäische Zentralbank warnte in einem Ende November veröffentlichten Bericht, dass sich Risiken für Unternehmen und Banken sowohl im Falle einer zu frühen Beendigung der staatlichen Unterstützung ergeben könnten als auch dann, wenn die Hilfen zu lange aufrechterhalten würden. Sie orientiert sich deshalb eher an ihrem pessimistischen Szenario, welches einen Rückgang der Wirtschaftsleistung im Euroraum von rund 10 Prozent im Jahr 2020 abbildet.

Tritt das pessimistische Szenario ein, so die EZB, dürfte sich das Volumen der akut ausfallgefährdeten Kredite in den Bilanzen der Banken von derzeit etwa 500 Milliarden Euro auf dann rund 1,4 Billionen Euro fast verdreifachen.

Zwar seien die Bilanzen der Banken im Euroraum heute solider als zur Zeit der Finanzkrise und die Kapitalpuffer der Institute sollten nach Einschätzung der EZB komfortabel bleiben. Doch könnte eine Welle von Firmenpleiten und Kreditausfällen als Folge der Pandemie zur Belastung für die Branche werden. „Die Rentabilität der Banken wird voraussichtlich schwach bleiben“, stellte EZB-Vizepräsident Luis de Guindos bei der Vorstellung des halbjährlichen Finanzstabilitätsberichts fest. Die Hilfsprogramme verlängerten wohl den Zeitraum, bis sich eine schwache Wirtschaftsleistung in Kreditausfällen widerspiegele – diese würden aber so oder so irgendwann kommen.

Corona und die Schulden-Explosion

Die drohende Insolvenz vieler Unternehmen ist aus Sicht von Beobachtern Folge der radikalen Maßnahmen, die Europas Staaten zur Bekämpfung der Pandemie ergriffen hatten. Ausgangssperren, Kontakteinschränkungen und die Schließung von Restaurants, Geschäften und Freizeiteinrichtungen führten nicht nur zu einem massiven Einbruch der Nachfrage und daraus abgeleitet der Umsätze. Die Notwendigkeit, ein Firmensterben durch Notkredite und Zuschüsse abzuwenden, ließ den Politikern (und vielen Unternehmen) darüber hinaus auch keine andere Wahl, als in großem Umfang neue Schulden aufzunehmen.

Beispielhaft sei nur die Lage in Deutschland skizziert. Das Land galt in den vergangenen Jahren aufgrund seiner niedrigen Schuldenstände als Stabilitätsanker der Eurozone und schaffte es 2019 sogar, mit einem Schuldenstand von rund 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung die Vorgaben des Maastrichter Vertrages erstmals seit Langem – und im Gegensatz zu fast allen anderen Euro-Staaten – wieder einzuhalten. Eine Nettokreditaufnahme von etwa 200 Milliarden Euro im laufenden und von mindestens 180 Milliarden Euro im kommenden Jahr beendete dann innerhalb weniger Wochen die Politik der „Schwarzen Null“. Die Verbindlichkeiten der Bundesrepublik liegen nun wieder über der Marke von 75 Prozent.

In anderen europäischen Ländern und weltweit sieht die Lage entsprechend deutlich düsterer aus. Weltweit dürfte die Relation von Staatsschulden zur Wirtschaftsleistung im zu Ende gehenden Jahr von durchschnittlich rund 80 Prozent auf etwa 100 Prozent gestiegen sein – was in etwa auch für die Unternehmen gilt (Analysten rechnen mit einem Anstieg von rund 90 Prozent auf über 100 Prozent).

Beobachtern zufolge werden viele Unternehmen die Zins- und Tilgungszahlungen für die gestiegene Schuldenlast kommendes Jahr nicht mehr tragen können – und Banken deshalb womöglich hohe Abschreibungen auf ihr Kreditportfolio vornehmen müssen.

Rückkehr der Bail in-Klausel

Bemerkenswert ist, dass in diesem Umfeld erstmals seit Längerem wieder Rufe nach einer konsequenten Durchsetzung der sogenannten „Bail in-Klausel“ laut werden. So fordert die Bertelsmann Stiftung in einer zusammen mit dem Jacques Delors Centre an der Berliner Hertie School of Governance erstellten Studie mit dem Titel „Prepare for the Worst“, dass künftig wieder jene Regeln zur Bankenabwicklung konsequent angewandt werden müssten, welche der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im Jahr 2013 gegenüber Zypern durchgesetzt und anschließend in EU-Recht gegossen hatte.

Vereinfacht gesagt sieht die Bail in-Regel vor, dass nicht mehr der Steuerzahler bei in Schieflage geratenen Banken einspringen soll, sondern dass die Vermögen von Bankkunden und die Forderungen der Anleihe-Gläubiger der Geldhäuser beschnitten werden sollen, um die Liquiditätslücken zu füllen.

Die Bail in-Regeln wurden bereits kurz nach ihrer Integration in EU-Recht bei in Schwierigkeiten geratenen italienischen Regionalbanken angewendet. Der daraus resultierende öffentliche Aufschrei (Kunden hatten große Teile ihrer Forderungen und Ersparnisse verloren) sowie der Selbstmord mehrerer Rentner verschreckten die Politik jedoch verständlicherweise. Bei weiteren Bankenkrisen in Italien – etwa dem faktischen Bankrott der Banca Monte dei Paschi di Siena im Jahr 2016, der Rettung der Banca Carige Anfang 2019 sowie der Banca Popolare di Bari Ende 2019 – wurden deshalb immer „kreative“ Wege gefunden, um das Problem wie bislang üblich unter Verwendung von Steuergeldern zu lösen beziehungsweise zu überdecken.

Künftig müssten deshalb die „Interpretationsspielräume“, wie sie in der Vergangenheit bei der „laxen“ Liquidation italienischer Regionalbanken zur Anwendung kamen, eingegrenzt werden, fordern die Autoren der Bertelsmann-Studie. Voraussetzung für ein Gelingen der „Bail in“-Regeln ist jedoch, dass Lücken in den Einlagensicherungssystemen der betroffenen Länder und sonstige „Schlupflöcher“ glaubhaft geschlossen werden. Geschieht dies nicht, werden Kleinsparer und Gläubiger bei den ersten Anzeichen für Schwierigkeiten große Teile ihrer Investitionen und Einlagen abziehen – was zu einem klassischen Bankrun führt, der das betroffene Institut erst recht in Schieflage stürzt.

Entscheidend aus Sicht der Eurozone als Ganzes ist, dass die Bail-in-Regelungen im Krisenfall zu einer Kapitalflucht aus den als besonders gefährdet eingestuften Bankensystemen der südlichen Euro-Staaten in das nördliche Zentrum des Währungsgebiets führen dürften. Diese Kapital-Verlagerung wiederum führt zu politischen Reibereien zwischen den Staaten und dem gestiegenen Bedürfnis nach einer europaweit funktionierenden „Bankenunion“.

Die Idee einer Bankenunion ist heute in Teilen bereits realisiert. Ihr Kernstück, eine gesamteuropäische Einlagensicherungen, wird jedoch seit Jahren aus guten Gründen von der Bundesregierung und einigen anderen Ländern verhindert. Der erst vor Kurzem vorgestellte Plan, den ESM-Fonds zu einer schlagkräftigen „letzten finanziellen Verteidigungslinie“ auszubauen, ist eben diesem dem Bedürfnis nach einer auf europäischer Ebene wirksamen Interventionsmöglichkeit geschuldet, um ein Auseinanderbrechen des Währungsgebietes im Falle von Bankruns in Südeuropa oder anderswo zu unterbinden.

Bemerkenswert ist, dass Bertelsmann Stiftung und Jacques Delors Centre Modifikationen an der Regel fordern. So sollten Unternehmen und Konzerne aus Sicht der Analysten von der Beteiligung an Bankenabwicklungen ausgenommen werden. Die Tatsache, dass „Firmenkunden“ nach geltendem Recht gleichrangig mit Kleinanlegern zur Rettung einer Bank herangezogen werden, sei so „nicht sinnvoll“. Ein besserer Schutz der Einlagen von Unternehmen könne die „negativen Folgen einer Bankenabwicklung auf die Realwirtschaft reduzieren“, da es sich bei Bankguthaben von Firmen „häufig um die nötigen Mittel für den laufenden Betrieb einer Firma“ handele. Ein erhöhter Schutz großer Unternehmenseinlagen würde es den Regulierungsbehörden zudem erleichtern, einen „Schuldenschnitt bei den übrigen Gläubigern“ – also den zehntausenden Kleinsparern und Privatkunden – durchzuführen.


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