Vor vielen Millionen Jahren, im Zeitalter des Paläogens, stieß die indische Landmasse, von Süden kommend, mit dem Rest Asiens zusammen. Unter dem Druck dieser Kollision entstand die mächtigste Hochgebirgskette der Erde: Sie verläuft vom Hindukusch über den Karakorum bis zum Himalaya, der „Heimstatt des Schnees“. Ihre Gipfel türmen sich teils über 8.000 Meter hoch in den Himmel – und bilden einen kaum zu überwindenden Sperrriegel zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt: China und Indien. Will Indien, das aufgrund der Gebirge von China kaum angegriffen werden kann – auch wenn es entlang der gemeinsamen Grenze immer mal wieder zu Scharmützeln und zu Truppenaufmärschen kommt - zur Großmacht aufsteigen, benötigt es allerdings eine starke Marine und einen vergrößerten Aktionsradius im Indischen Ozean. Eine Analyse.
Der Aufstieg Chinas zur Weltmacht und die daraus resultierende Rivalität der Volksrepublik mit den USA wirkt sich indirekt in hohem Maße auf die Geopolitik Indiens aus, weshalb diese Analyse mit einer Beschreibung des chinesisch-amerikanischen Verhältnisses beginnen muss. Ein Schlüssel zum dementsprechenden Verständnis ist die Straße von Malakka. Diese Meerenge verläuft zwischen der Malaiischen Halbinsel und der Nordostküste von Sumatra und ist eine Lebensader für den Handel des Reichs der Mitte sowie für seine Energieversorgung. Hieraus erwächst das sogenannte „Dilemma von Malakka“: Die USA könnten die teilweise nur 50 Kilometer breite Schiffspassage im Konfliktfall sperren und damit eine Teilblockade gegen China verhängen. Peking ist deshalb bemüht, diese Schwäche zu beseitigen. Zum einen durch den Bau verschiedener Öl- und Gaspipelines, welche nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Projekt der „Neuen Seidenstraße“ entstehen. Zum anderen durch den geplanten Kra-Kanal, der durch den Süden von Thailand führen und damit die Straße von Malakka umgehen soll und zudem den Seeweg zwischen Ostasien und Europa um circa 1.200 Kilometer verkürzen würde.
Seefahrt tut not!
Der Kra-Kanal würde, einmal fertiggestellt, den Golf von Thailand mit der Andamanensee, einem Nebenmeer des Indischen Ozeans, verbinden. Die Andamanen sind, wie auch die weiter südlich gelegenen Nikobaren, eine zu Indien gehörende Inselgruppe und ein strategisches Faustpfand, das das Land in einem geopolitischen Pokerspiel mit China gegebenenfalls nutzen könnte. China hingegen muss zur Absicherung seiner maritimen „Seidenstraße“, die den Indischen Ozean kreuzt und über die auf absehbare Zeit deutlich mehr Waren transportiert werden als über den Landweg, Häfen in anderen Ländern ausbauen beziehungsweise deren Nutzung vertraglich absichern. Zu erwähnen ist hier der Hafen von Hambantota auf Sri Lanka, das Indien südlich vorgelagert ist, sowie die chinesische Militärbasis in Dschibuti, von wo aus sich der Zugang vom Indischen Ozean zum Roten Meer kontrollieren lässt. Will Indien im Indischen Ozean geostrategisch nicht ins Hintertreffen geraten, braucht es einerseits eine starke Marine und andererseits Bündnispartner, die, so wie Indien, ein Interesse haben dürften, Chinas wachsende Macht einzudämmen. Aus dieser Überlegung heraus hat sich die sogenannte Quad-Allianz gebildet – Quad steht für „Quadrilateraler Sicherheitsdialog“ -, der neben Indien auch Japan, Australien und die USA angehören und die im November 2020 zum ersten Mal eine Marineübung abgehalten hat, an der alle vier Nationen gleichzeitig beteiligt waren.
Scheinriese oder Gigant?
Ein weiterer potentieller Reibungspunkt zwischen Indien und China ist Myanmar, wo das Militär am 1. Februar 2021 die Macht übernommen hat. Myanmar grenzt sowohl an Indien wie auch an China und stellt für Indien das Tor zu den sich dynamisch entwickelnden ASEAN-Staaten Südostasiens dar. Das 1,4-Milliarden-Einwohner-Land Indien ist zwar in absoluten Zahlen die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, hat diesen Rang hat jedoch primär seiner schieren Größen zu verdanken – sein Entwicklungsstand liegt weit hinter dem Chinas. Sollte sich Indien ähnlich wie das Reich der Mitte zu einem tatsächlichen wirtschaftlichen Schwergewicht entwickeln, würden sich die geoökonomischen Interessensphären der beiden Länder in Südostasien überschneiden.
Erbitterte Feindschaft
Seit ihrer Unabhängigkeit, die sowohl Indien als auch Pakistan im Jahr 1947 vom Britischen Königreich erlangten, belauern sich diese beiden Staaten als Rivalen. Mehrfach führten sie gegeneinander Krieg, und in der Region Kaschmir, die zwischen Indien und Pakistan geteilt ist, kommt es immer wieder zu Scharmützeln. Kaschmir ist für beide Länder von immenser strategischer Bedeutung. So fließt der Indus, die Lebensader Pakistans, vom chinesischen Tibet kommend, durch den indischen wie auch durch den pakistanischen Teil Kaschmirs. Zwar ist die Wassernutzung des Indus zwischen Indien und Pakistan durch den Indus- Wasservertrag von 1960 geregelt. Und doch hielte Indien hier durch die Möglichkeit einer Wassersperre im Falle eines weiteren Konfliktes einen Trumpf in Händen.
Vor allem aber ist Pakistan aufgrund seiner geographischen Lage ein Verbündeter Chinas. Einer der Gründe hierfür liegt in dem geplanten „China-Pakistan Economic Corridor“ – einer Vielzahl von Projekten zur Verbesserung der Transport- und Infrastruktur - dessen südlicher Endpunkt der pakistanische Tiefseehafen Gwadar ist und der sich bis in die chinesische Provinz Xinjiang erstreckt und dabei durch den pakistanischen Teil Kaschmirs verläuft. Sollten Indien und Pakistan ein weiteres Mal Krieg um Kaschmir führen, wäre diese Verbindung zwischen China und Pakistan gefährdet. Auch hier prallen die Interessen der beiden Mächte aufeinander. Man sieht: Mit der zunehmenden Globalisierung der Welt mehren sich auch die durch die jeweilige Geografie der beiden riesigen Staaten bedingten Konfliktareale.
Anders als China verzeichnet Indien nach wie vor ein starkes Bevölkerungswachstum und dürfte die Volksrepublik um das Jahr 2027 herum in Sachen Einwohnerzahl überholen. Doch während eine hohe – und im Fall Indiens auch relativ junge - Bevölkerung einerseits durchaus einen geostrategischen Machtfaktor darstellt, muss für diese riesige Zahl an Menschen andererseits auch eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln sichergestellt sein. Hierbei spielt Wasser eine entscheidende Rolle. Und die Frage, wer die Quellgebiete der großen Flüsse kontrolliert, gewinnt an Bedeutung. Der Indus, der Lebensquell Pakistans, entspringt ebenso in Tibet wie die beiden längsten Ströme Chinas, der Yangtse und der Gelbe Fluss. Ebenso wie der Brahmaputra, dessen Wassermassen sich nach 3.100 Kilometern mit denen des Ganges, dem heiligsten Strom der Hindus, mischen, bevor sie sich später gemeinsam im Golf von Bengalen über das großflächigste Mündungsdelta der Erde in den Indischen Ozean ergießen.
Überraschende Wendung?
Angesichts der geopolitischen Herausforderungen, vor denen Indien steht, könnte allerdings eine Widerannäherung Indiens an China für beide Teile auch von Vorteil sein, insbesondere bezüglich einer Einbindung des Subkontinents in das Projekt der „Neuen Seidenstraße“. Hier gälte es für Indien, diese Chance zu nutzen, ohne dabei die eigenen - auch von seiner Geografie diktierten - strategischen Interessen aus den Augen zu verlieren.
In unserer großen geopolitischen Serie sind bisher erschienen:
Russland:
China:
Deutschland:
USA:
Großbritannien:
deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/506643/Großbritannien-Wiedergeburt-eines-Empires
Türkei:
Japan:
Saudi-Arabien:
Frankreich:
Zentralasien:
deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/509203/Zentralasien-Das-Zentrum-des-Schachbretts
Italien:
Österreich:
deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/511103/OEsterreich-Im-Westen-verankert-den-Blick-nach-Osten
Iran: