Politik

Intermarium: Wie die USA und Russland Europa in Einfluss-Zonen aufteilen

Lesezeit: 5 min
28.11.2021 00:00  Aktualisiert: 28.11.2021 21:25
Die aktuellen Konfliktzonen in Osteuropa weisen klare Konturen auf. Durch die Hintertür wird das Intermarium-Konzept umgesetzt, das sich wie eine geographische Bruchlinie durch Europa zieht. Als Big Player auf dem europäischen Schachbrett sind eindeutig die USA und Russland zu erkennen.
Intermarium: Wie die USA und Russland Europa in Einfluss-Zonen aufteilen
1, 2, 3 und 4 (schwarz): USA und NATO/1,2,3 und 4 (blau): Russland/5 und 6 (rot): Ungeklärte Konfliktsphären. (Google Maps/DWN/Cüneyt Yilmaz)

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Angesichts der Spannungen in der Ukraine und in Belarus versteift sich die Öffentlichkeit auf kleinteilige Themen. Während an der Grenze zu Belarus und Polen eine angebliche Flüchtlings-Krise stattfindet, „beschießen“ sich die Ukraine und Russland mit gegenseitigen Vorwürfen. Doch was sich aktuell im Bereich der Einflusssphären entwickelt, ist weitaus bedeutender.

Es sind Konturen einer politischen und militärischen Grenzziehung zwischen Ost und West zu erkennen. Was sich zunächst südlich und nördlich des 50. Breitengrads entwickelt, ist entscheidend für die Zukunft der europäischen Landkarte.

Die sogenannte Flüchtlings-Krise an der Grenze zu Belarus bildet das erste Spannungsfeld. Aufgrund des medial hochgespielten Flüchtlings-Vorstoßes aus Belarus in Richtung Polen und des Baltikums kommt es zu einer Militarisierung der baltisch-belarussischen und polnisch-belarussischen Grenzstriche. Dabei wird übersehen, dass die sogenannte Flüchtlings-Krise einen geographischen Keil zwischen Belarus und die polnisch-baltischen Gebiete treibt. Es erfolgt eine faktische Aufteilung in ein pro-russisches und in ein pro-westliches Gebiet. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass Belarus zu einem späteren Zeitpunkt in das pro-westliche Lager fällt.

Das zweite Spannungsfeld bildet der mittlerweile altbekannte Konflikt in der Ukraine. Dort verläuft der geopolitische Keil mitten durch das Land. Die „Volksrepubliken Donezk und Lugansk“ und die Halbinsel Krim werden auf unabsehbare Zeit in der Einflusssphäre Russlands verweilen, während die Zukunft von Odessa ungewiss ist. Moskau wird unter keinen Umständen auf die Krim verzichten, zumal sich dort der Flottenstützpunkt Sewastopol befindet, der der russischen Marine den Zugang zum Schwarzen Meer und über den Bosporus zum Mittelmeer garantiert. Über die Krim-Brücke besteht eine wichtige Straßen- und Eisenbahnverbindung zwischen der Krim über die Straße von Kertsch zur Halbinsel Taman in der Region Krasnodar.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass nach dem Abschluss des militärischen Konflikts im Osten der Ukraine eine Grenzmauer gebaut wird, die durch die Ukraine verläuft. Doch vorher muss noch das Schicksal von Odessa endgültig geklärt werden.

Das dritte Spannungsfeld befindet sich an der Küste Rumäniens am Schwarzen Meer. Seit dem Jahr 1997 finden vor der rumänischen Hafenstadt Constanta von den USA geführte NATO-Manöver unter dem Namen „Sea Breeze“ statt. Doch das diesjährige Manöver war das bisher größte. Es nahmen insgesamt 32 Länder teil. Darunter befanden sich alle Schwarzmeer-Anrainer außer Russland. Zum Einsatz kamen etwa 5000 Soldaten, 40 Militärflugzeuge, 32 Kriegsschiffe sowie 18 Spezialkommandos.

Auf dem 40. Breitengrad militarisieren die USA die griechische Hafenstadt Alexandroupoli im Rahmen der Operation „Atlantic Resolve“, die darauf ausgerichtet ist, eine Abschreckung gegenüber Russland zu schaffen. Am 14. Oktober 2021 haben Washington und Athen einen erweiterten Vertrag im Rahmen der gegenseitigen Verteidigungskooperation (MDCA) unterzeichnet.

Die USA hatten zuvor beschlossen, mindestens 120 Kampf- und Transporthelikopter und bewaffnete Transporthelikopter der Klassen Sikorsky UH-60 Black Hawk und Boeing CH-47 und über 1.000 Panzer und Kampffahrzeuge (M1A2 Abrams, M2A2 Bradley und M1117 Guardian ASV) nach Alexandropouli zu verlegen. Ein Großteil dieser Geräte wird nicht im Verlauf der NATO-Rotation weiterverlegt werden, sondern in Alexandroupouli bleiben. Über den Hafen von Alexandroupoli könnten die militärischen Einheiten der USA und der NATO theoretisch nach Bulgarien, Rumänien und dann in die Ukraine vordringen.

Das Intermarium-Konzept schafft Einflusssphären

Wer sich die Bruchlinie zwischen Ost und West genau anschaut, wird problemlos erkennen können, dass es zu einer Umsetzung des Intermarium-Konzepts kommt, das sich wie eine faktische Grenze durch Osteuropa zieht. Zu diesem Zweck soll ein Bündnisgürtel durch Osteuropa gezogen werden. Im günstigsten Fall gehören zum angedachten Gürtel Estland, Lettland, Litauen Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Weitere Gürtel-Komponenten, die mit dem Intermarium zusammengesteckt werden könnten, sind die Türkei, Aserbaidschan, die Ukraine und Georgien. Ob die „Drei-Meere-Initiative“ (TSI) bei der Schaffung des Intermarium-Konzepts eine Rolle spielen wird, wird sich zeigen lassen. Doch Polen dürfte in den kommenden Jahren seinen Einfluss in Zentral- und Osteuropa ausbauen – gestützt von den USA.

US-General a.D. James L. Jones vom „Atlantic Council“ meint dazu: „Das ist ein wirklich transatlantisches Projekt, das enorme geopolitische, geostrategische und geo-ökonomische Verzweigungen hat (…). Die Art und Weise, wie die Mittel- und Osteuropäer die Welt und die Bedrohungen, die ihnen begegnen, betrachten, passt viel besser auf die Art und Weise, wie die Amerikaner die Welt betrachten (...). Besser als die Art und Weise unserer traditionellen westlichen Verbündeten.“

Wettstreit um den westlichen Balkan

Die zwei weiteren Spannungsfelder zwischen Ost und West sind auf dem westlichen Balkan zu verorten. Dass es im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina in den vergangenen Monaten zu politischen Spannungen gekommen ist, hängt direkt mit der Schaffung der in diesem Artikel geschilderten Einflusssphären zusammen. Die bosnischen Serben unter Milorad Dodik, Mitglied der dreigliedrigen Präsidentschaft von Bosnien-Herzegowina, hatten zuvor damit gedroht, sich abspalten zu wollen. Doch sezessionistische Bestrebungen in Bosnien-Herzegowina würden zwangsläufig zu einer Neuauflage des Bosnien-Konflikts führen. Die Zeitung „Der Standard“ berichtete, dass die Bundesregierung Sanktionen gegen Dodik forderte, während sich Brüssel gegen diese Forderung stellte.

Die Türkei intervenierte und lud Dodik, der in das pro-russische Lager gehört, nach Ankara ein, berichtet „Balkan Insight“. Nach einem Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gab sich Dodik zufrieden. Er lobte Erdoğan als „einen Mann, der in Bosnien-Herzegowina nicht bereit ist, etwas zu tun, was Serben und Kroaten schaden könnte“. Es gebe keine Alternative zum Frieden in Bosnien-Herzegowina und „die Androhung von Gewalt kann kein Problem lösen“. Dodik verwies auf den „guten Willen“ von Erdoğan. Im selben Zug sagte er, dass auch der serbische Präsident Aleksandar Vučić und der kroatische Präsident Zoran Milanović gutgemeinte Vorsätze hätten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Erdoğan und türkische Top-Diplomaten US-Außenminister Antony Blinken, den russischen Präsidenten Wladimir Putin (plus Sergej Lawrow) unter Einbeziehung von Nikolai Patruschew über ihre geplanten Schritte unterrichtet haben. Eine trilaterale Abstimmung ist ebenfalls denkbar (Telefondiplomatie).

Zuvor lud Erdoğan den ungarischen Präsidenten Viktor Orbán, der sich zuvor für die Abspaltungs-Ambitionen Dodiks eingesetzt hatte, ein. Nach der Unterredung mit Erdoğan sagte Orbán nach Angaben von „TRT Haber“: „Für beide Staaten (Türkei und Ungarn, Anm.d.Red.) ist Stabilität und Frieden wichtig. Alle Menschen in der Region wollen Stabilität und Frieden. Die Stabilität auf dem Balkan erzielen wir in erster Linie dadurch, dass wir mit den Menschen in der Region sprechen.“

Die Türkei führte auch Gespräche mit dem slowenischen Präsidenten Janez Jansa und den zwei weiteren Präsidenten Bosnien Herzegowinas: Željko Komšić und Šefik Džaferović. Auch diese beiden Führungspersönlichkeiten der ethnischen Gruppen Bosnien-Herzegowinas lenkten ein.

Ursächlich für die jüngsten Verwirrungen in Bosnien-Herzegowina ist das Bestreben des bosnischen Außenministeriums, einen NATO-Beitritt voranzutreiben. „Die Krise, in der wir uns derzeit befinden, ist vielleicht der beste Hinweis darauf, warum Bosnien-Herzegowina so schnell wie möglich dem Sicherheitsbündnis beitreten muss, das den Frieden in diesem Teil der Welt dauerhaft garantieren wird“, zitiert „Newsweek“ die bosnische Außenministerin Bisera Turković.

Große Spannungen zwischen Kosovo und Serbien

Ein ähnliches Bild kann im Kosovo beobachtet werden. Die Präsidentin des Kosovo, Vjosa Osmani, hatte Ende 2020 lautstark betont, dass ihr Land der NATO beitreten möchte. Dass es auch im Kosovo um den Wettstreit um Einflusssphären geht, geht aus einer Mitteilung des kosovarischen Außenministeriums hervor: „Alle russisch-serbischen Bemühungen, die Stabilität, den Frieden und die Sicherheit in der Region zu untergraben, sind für das Kosovo entgegen den europäischen und universellen Werten inakzeptabel und werden scheitern – wie im Jahr 1999, was das Jahr ihrer Kapitulation gewesen ist. Das Kosovo wird seine Bemühungen um eine Mitgliedschaft im Nordatlantischen Bündnis bzw. der NATO verstärken und erst dann den Dialog mit Serbien fortsetzen!“

Vučić ist hin und hergerissen zwischen Ost und West. Während er versucht, stabile Beziehungen zur EU und zur NATO aufzubauen, muss er auch Russland, der der traditionelle politische, wirtschaftliche und militärische Partner Serbiens ist, besänftigen. Am 28. November 2021 umschrieb er diesen Balanceakt nach Angaben der staatlichen serbischen Nachrichtenagentur „Telegrafska agencija Nove Jugoslavije“ („Tanjug“) mit folgenden Worten:

„Serbien ist auf dem europäischen Weg, der für uns wichtig ist, aber Serbien hat seine Freunde immer geschätzt. Wir haben unseren Freunden nie den Rücken gekehrt – selbst dann nicht, als es für uns sehr schwer gewesen ist, dem Druck zu widerstehen. Daher bezieht Serbien sein Gas zum niedrigsten Preis in Europa und kann in der Kosovo- und Metohija-Frage auf die freundliche Unterstützung vieler Nationen zählen. Trotz des Drucks wird Serbien seine Freundschaft mit der Russischen Föderation und der Volksrepublik China nicht aufkündigen.“

Während die geographischen und geopolitischen Konturen in Ost- und Südosteuropa mittlerweile gut zu erkennen sind, dürfte es noch eine Weile dauern, bis auch endgültige Verhältnisse auf dem westlichen Balkan geschaffen werden. Am Ende könnte der beste Weg für Frieden und Stabilität darin bestehen, eine Ordnung der permanenten militärischen und politischen Spannung zu schaffen, die von den USA und Russland vollständig kontrolliert wird, um große Eskalationen zu verhindern.

Dieser Verantwortung waren sich die beiden Mächte auch während des Kalten Kriegs bewusst. Es handelte sich dabei um die längste Friedensperiode der europäischen Geschichte.

                                                                                ***

Cüneyt Yilmaz ist Absolvent der oberfränkischen Universität Bayreuth. Er lebt und arbeitet in Berlin.


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