Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat in seiner ersten Rede vor der UN-Vollversammlung in New York – kurz vor der Wahl zum Deutschen Bundestag – eine ehrlichere, klügere und stärkere deutsche Außenpolitik als Konsequenz aus dem Scheitern des Westens in Afghanistan angemahnt[1]. War demnach in seinen Augen die bisherige Außenpolitik nicht wirklich ehrlich, nicht intelligent genug? Ein „Rückzug von der Welt“ sei jedenfalls keine Option, so Steinmeier. Er plädierte eindringlich für mehr deutsche und europäische Verantwortung in der Welt.
Aber Verantwortung vor wem? Im Sinne welcher Ethik? Und was bedeutet Steinmeiers Plädoyer vor der UN-Vollversammlung zu einem Zeitpunkt, da die USA unter Joe Biden ihre Rolle als Weltpolizei neu justiert, ja offenkundig ein Stück weit zurücknimmt? „Wir müssen aus unseren Fehlern lernen“, hatte der US-Präsident unterstrichen: Es gehe darum, eine Ära großer Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden; künftige Einsätze müssten klare, erreichbare Ziele haben und sich „auf das grundlegende nationale Sicherheitsinteresse“ der USA konzentrieren.
In Europa und Deutschland nimmt man zum Teil freudig, zum Teil widerwillig die neue weltpolitische Herausforderung wahr. So sieht Josef Braml, USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission, deutlich mehr Aufgaben auf Europa und Deutschland zukommen: „Nicht erst seit Amerikas Rückzug aus Afghanistan sollte Europas Regierungsverantwortlichen klar geworden sein, dass sich auch der Alte Kontinent nicht mehr auf die früheren Sicherheitsversprechen verlassen kann.“ Namentlich Deutschland müsse seine Außenpolitik gegenüber den USA und China sowie seine Europapolitik entscheidend korrigieren. Die neue Bundesregierung müsse grundlegende Fragen der Außenpolitik neu beantworten.
Manfred Weber, der deutsche Vorsitzende der Christdemokraten im Europaparlament, dringt bereits darauf, den Aufbau gemeinsamer militärischer Kräfte in der EU schneller voranzubringen. Er möchte eine europäische Eingreiftruppe mit einigen Tausend Mann sowie eine Cyberabwehr-Brigade. Steinmeier selbst scheute sich in seiner Rede nicht, die Forderung auszusprechen, wir müssten „unseren Instrumentenkasten erweitern“ – unter anderem auf militärischem Gebiet[2]. Gewiss, das gelte auch diplomatisch, zivil und humanitär. Aber seine Formulierung impliziert durchaus Aufrüstung, was ja auch der bekannten Forderung der NATO entspricht, Deutschland müsse seine Rüstungsanstrengungen in Zukunft erheblich steigern.
Die Frage stellt sich: Bedenkt man hierbei noch hinreichend, dass künftige Einsätze deutschen Militärs im Kontext der angepeilten europäischen Eingreiftruppe oder im Auftrag der NATO, vielleicht auch der Vereinten Nationen, immer mehr von dem auf der Rolle Deutschlands in den Weltkriegen beruhenden moralischen Prinzip wegführen, deutsche Soldatinnen und Soldaten hätten möglichst gar nicht mehr im Ausland zu schießen? Werden sie wieder verstärkt in fremden Ländern töten und getötet werden? Sollte das unter gewandelten weltpolitischen Umständen verantwortungsethisch vertretbar geworden sein?
Hier geht es nicht um die Fragen legitimer Verteidigungspolitik oder eines „gerechten Krieges“, sondern um die Einbindung deutschen Militärs in bewaffnete Einsätze internationaler Organisationen. Ob deren Sinn aber mit dem Scheitern der Westmächte im Afghanistan-Krieg ein Stück weit obsolet geworden ist? Darf und muss Europa zum neuen Weltpolizisten werden, der freiheitliche Werte gegen die Angriffe oder Bedrohungslagen nichtdemokratischer Staaten notfalls auch militärisch zu verteidigen hat? Das sind ernste, schwerwiegende, nicht einfach zu beantwortende Fragen.
Ohne Zweifel steht der Westen nach wie vor entschlossen und weiterhin geschlossen hinter der Idee des universalen Geltungsanspruchs von Grundwerten, insbesondere der Menschenrechte. Außer Zweifel steht allerdings auch, dass andere Mächte, ja Großmächte diese Werte
keineswegs rundweg teilen. Dürfen unterschiedliche Paradigmen aber unter Einsatz militärischer Gewalt verteidigt oder gar expansiv[3] in der Welt vorangebracht werden? Weil bedrohliche Expansion von außen realistischerweise keineswegs ausgeschlossen werden kann, muss diese Frage wegen des Verteidigungsaspekts klar bejaht werden. Auf der Basis einer solchen Bejahung beginnen jedoch erst die eigentlichen Probleme.
Da ist zunächst die Grundfrage, ob sich Militär überhaupt rein defensiv ausrichten ließe – oder ob nicht allemal im Sinne der Verteidigung auch ein imponierendes Potenzial an Angriffswaffen zur Wehrkraft gehört. Ist dies aber der Fall, so ergibt sich das Problem, dass eine bekundete Beschränkung auf den Aspekt der Verteidigung grundsätzlich beim potenziellen Gegner Misstrauen erzeugen dürfte. Wo Militär zugange ist, muss es prinzipiell auf das Schlimmste gefasst sein, zumal bedenkliche Regierungs- oder Politikwechsel hier oder da nicht ausgeschlossen sind. Die Folge ist notgedrungen internationaler Rüstungswettlauf, den selbst Abrüstungsdialoge nur bedingt zu begrenzen vermögen.
Das aber wirkt sich in der gefährlichen Entwicklung neuer Waffengattungen aus, mit der sich die gegenseitige Bedrohungslage automatisch weiter zuspitzt. Seit 1945 bilden Atomwaffen das Damoklesschwert, unter dem die Menschheit zu leben sich gewöhnt hat. Heutzutage schwelt nicht nur ein verborgener, aber gefährlicher Cyber-Krieg[4], sondern es werden digitale, zum Teil sogar autonom agierende Waffen entwickelt[5]. Ende Juli warnte Präsident Biden vor einem realen Krieg als Folge eines groß angelegten Cyberangriffs: „Wenn wir in einem Krieg, einem echten Krieg mit einer Großmacht enden, dann als Folge eines Cyberangriffs von großer Tragweite.“ Die Fähigkeiten für einen solchen Cyberangriff nähmen exponentiell zu. Mit alledem ändern sich derzeit real die Rahmenbedingungen in besorgniserregender Weise, so dass es zunehmend ethisch ambivalent und vielleicht kaum noch sonderlich intelligent ist, von hehrer „Weltverantwortung“ in militärischer Hinsicht zu reden.
Das gilt insbesondere für solche Waffengattungen, die mit sogenannter „Künstlicher Intelligenz“ (KI) betrieben werden. Vor vier Jahren wandten sich 116 Großunternehmer brieflich an die Vereinten Nationen mit der Forderung, autonome Waffensysteme auf die seit 1983 existierende Liste verbotener konventioneller Waffen zu setzen. Zu diesen Unternehmern gehörte auch Tesla-Chef Elon Musk, der wiederholt davor warnte, KI könne mit ihrem Drang zur Verselbständigung deutlich gefährlicher als Atomwaffen werden. Was, wenn das unvermeidliche militärische Wettrüsten auf dem Gebiet von KI-Waffensystemen zu pseudo-intelligenten Entscheidungsgewalten führt, zu einer „Superintelligenz“, die keineswegs mehr am allgemeinen Wohlergehen der Menschheit interessiert wäre? Wenn die Zweitschlags-Frage im Zeitalter von Echtzeit-Mobilfunk nicht nur minütlich, sondern nahezu sekündlich entschieden werden muss? Und wenn solche Entscheidungen dann eben nicht mehr übers menschliche Herz laufen – wie einst noch bei Stanislaw Petrow, Oberstleutnant der sowjetischen Luftverteidigungs-Streitkräfte, dessen kurzfristigem Entschluss es zu verdanken war, dass am 26. September 1983 kein Atomkrieg losbrach?
Sollten autonome digitale Waffen nicht am besten streng verboten werden? Darüber diskutierten vor drei Jahren Vertreter aus über 70 Ländern in Genf – bezeichnenderweise ohne konstruktives Ergebnis. Laut einem 2019 bekannt gewordenen Strategiepapier des Pentagon setzt das US-Militär verstärkt auf KI – wohl wissend, dass diese die Weltordnung neu gestalten und den Totalitarismus im Wettstreit der Systeme wieder konkurrenzfähig machen dürfte. Unbestritten stehen die Streitkräfte der Großmächte technologisch unter Zugzwang: Alle investieren sie stark in KI. Darf da Europa zurückbleiben? Muss europäisches Militär nicht zwangsläufig Ja sagen zur Entwicklung von bewaffneten Drohnen[6]? Wie auch immer – dank Digitalisierung spitzt sich die Situation rund um den Globus militärisch zu. Es baut sich eine regelrechte Fortschrittsfalle[7] auf. Inzwischen warnten vor der Weiterentwicklung der KI sogar Bischöfe beider großen Konfessionen[8] – aber wird die neue Bundesregierung und die neue Verteidigungsministerin ihre Stimmen hören?
Gerade auch von Seiten der Kirchen war ab und an die Rede von „Weltverantwortung“ in Deutschland[9]. Doch solches Reden könnte in einem imperialistischen Sinn missverstanden werden. Müssen ideelle Werte nicht konsequent durch Worte und exemplarisches Vorleben statt durch militärische Gewaltandrohung verteidigt werden? Auf die Bergpredigt Jesu mit ihrem Gebot der Feindesliebe nahm von daher der Philosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker gern Bezug. Angesichts der atomaren Bedrohung plädierte er zu seiner Zeit bereits konsequent „für eine Ethik des Lebens in der technischen Welt“[10]. Seine Gedanken von 1963 lassen sich auch auf die digitale Technologie von heute übertragen: „Es gibt eine eigentümliche Faszination der Technik, eine Verzauberung der Gemüter, die uns dazu bringt, zu meinen, es sei ein fortschrittliches und ein technisches Verhalten, dass man alles, was technisch möglich ist, auch ausführt. Mir scheint das nicht fortschrittlich, sondern kindisch.“ Den Raum der Freiheit planen könne nur der Mensch, der Herr der Technik bleibe. Von Weizsäcker überlegte: „Eine technische Zivilisation, deren Glieder sich gegenseitig hindern, gefährden und zerstören, ist technisch unreif.“ Die technischen Waffen hatten nach seiner Überzeugung von damals eine Perfektion erreicht, die die Ausschaltung des Krieges zu einer vordringlichen Forderung der technischen Ethik machten – um wie viel mehr gilt das erst heute! Völlig zurecht brachte von Weizsäcker auch einen „seelischen Mechanismus“ im Ansetzen militärischer Abschreckung zur Sprache[11]. Der aber entfällt, wenn am Ende nur noch künstlich-intelligente Computer entscheiden.
Die Welt ist von Weizsäcker zufolge auf die Friedensliebe der Großmächte angewiesen. Bereits 1909 hatte der Schriftsteller Karl May, der in Kontakt mit der Friedensnobelpreisträgerin Berta von Suttner stand, in seinem vorletzten Roman geschrieben: „Die Erde sehnt sich nach Ruhe, die Menschheit nach Frieden, die Geschichte will nicht mehr Taten der Gewalt und des Hasses, sondern Taten der Liebe verzeichnen.“[12] Das stimmte allerdings schon damals nicht: Nur ein halbes Jahrzehnt später brach der Erste Weltkrieg aus. Und es stimmt auch heute noch keineswegs: Nach wie vor sehnt sich so mancher Staat, so manche Regierung nach Unruhe, nach Expansion, nach Weltbeherrschung statt nach Frieden zwischen den Völkern. Umso mehr aber trifft von Weizsäckers Annahme zu, dass das Verhältnis der Nationen untereinander mit abhängt von seelischen Haltungen und Einstellungen. Kriegsgefahr, so betonte er, sei letztlich die Folge gegenseitiger Angst[13]. Deshalb sollten sich namentlich die Christen inmitten der Völker zu intelligenter Feindesliebe befähigt zeigen, „zum Verständnis der Motive des Gegners, und damit zur Vorbereitung der Kompromissbereitschaft. Sie könnten in den Völkern Angst und Hass abbauen und Verständnis aufzubauen helfen.“ In der Folge müssten freilich die Regierungen selbst deutliche Zeichen setzen, sich deutlich dialogischer und diplomatischer als bisher zeigen. Es gehe um „die Aufopferung der trügerischen Hoffnung, durch militärische, wirtschaftliche, politische Macht die eigene Angst vor der Macht des Gegners zum Schweigen bringen zu können; christlich gesagt, um die Aufopferung der Illusion weltlicher Sicherheit durch eigene Übermacht. Vermittelt den Menschen die Kraft der Liebe, die Segen macht!“[14]
Mit seiner Forderung intelligenter Feindesliebe steht von Weizsäcker übrigens dem christlichen Schriftsteller Karl May recht nahe, der in seinem Roman „Und Friede auf Erden“ formulierte:
„Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein;
Lasst ihren Puls durch alle Länder fließen;
Dann wird die Erde Christi Kirche sein
Und wieder eins von Gottes Paradiesen!“
Ob solche Poesie die deutsche Politik beflügeln könnte, mag man bezweifeln. Doch die Anregung, den Instrumentenkasten militärisch zu erweitern um das ebenso defensive wie auf seine Weise offensive Prinzip der Feindesliebe, ist in der Welt – und mutet gerade in unseren fast apokalyptisch zugespitzten Zeiten logischer an denn je. Ihr zu folgen wäre, mit von Weizsäcker gesprochen, „ein entscheidend wichtiger Bewusstseinsfortschritt.“[15] Und inneren Fortschritt zu wagen ist heutzutage wichtiger als äußeren, der unser Innenleben gerade in Zeiten digitaler Transformation künstlich zu überwuchern droht. Was hilft ein militärisch erweiterter Instrumentenkasten, wenn das ihn nutzende Subjekt sich selbst dank Technik zunehmend entfremdet ist? Was wären am Ende die Folgen für unsere so friedlose Außenwelt, ja für unsere ohnehin schon so geplagte Umwelt? Möge der Weihnachtsfriede unser Innenleben neu beflügeln – und auch das all jener politisch und militärisch Verantwortlichen, die ganz aktuell um die Verhinderung eines militärischen Großereignisses an der Grenze zwischen Russland und der östlichen Ukraine ringen.[16]
[1] [www.t-online.de] id="edn2">
[2] [www.dw.com] id="edn3">
[3] Das betrifft auch das kritische Thema Rüstungsexporte!
[4] Vgl. Yvonne Hofstetter: Der unsichtbare Krieg. Wie die Digitalisierung Sicherheit und Stabilität in der Welt bedroht, München 2019. Künftige Kriege könnten die gesamte Infrastruktur inklusive Krankenhäuser, Wasserversorgung und Elektrizität ohne menschliches Zutun allein durch KI zerstören oder lahmlegen – so Michael Stolleis in einem Debattenbeitrag zu: H.-G. Dederer und Y.-C. Shin (Hg.): Künstliche Intelligenz und juristische Herausforderungen, Tübingen 2021, 161f.
[5] Vgl. Klaus Schwab: Die Zukunft der Vierten Industriellen Revolution, München 20192, bes. 52.
[6] Dazu Werner Thiede: Digitaler Turmbau zu Babel. Der Technikwahn und seine Folgen, München 20212, 116ff.
[7] Vgl. Werner Thiede: Die digitale Fortschrittsfalle, Bergkamen 20192.
[8] [www.deutschlandfunk.de] bereits Monate zuvor hatte sich der evangelische Medienbischof Volker Jung zu Wort gemeldet: [www.epd.de] nstliche-intelli (Zugriffe 4.2.2019).
[9] Z.B. [mission-einewelt.de] id="edn10">
[10] Carl Friedrich von Weizsäcker: Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945-1981, München 1981, 135. Nächstes Zitat ebd.
[11] A.a.O. 235 (1971).
[12] Karl May: Ardistan und Dschinnistan, Bd. II, Freiburg i.Br. 1909, 633.
[13] Von Weizsäcker, a.a.O. 533. Nächstes Zitat: 536.
[14] A.a.O. 544. Hier sei auch an Jesu Wort erinnert: „Wer zum Schwert greift, der wird durchs Schwert umkommen“ (Mat 26,52).
[15] A.a.O. 612.