Politik

Ukraine-Konflikt: Das Agieren der Nato ist eine einzige Blamage

Lesezeit: 6 min
22.01.2022 05:25
DWN-Kolumnist Ronald Barazon wirft der Nato in der Ukraine-Krise krasses Versagen in jeder Beziehung vor.
Ukraine-Konflikt: Das Agieren der Nato ist eine einzige Blamage
Was will uns Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg mit dieser Geste sagen? (Foto: dpa)

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Im Konflikt um die Ukraine zeichnet sich eine kapitale Blamage der NATO ab. Jahrelang haben die Generalsekretäre des westlichen Verteidigungsbündnisses gegenüber der Ukraine den Eindruck erweckt, dass der Westen das Land in einem Konflikt mit Russland unterstützen würde. Dass dies jedoch nicht der Fall ist, hat sich bereits 2014 bei der Auseinandersetzung um die Krim und den Osten der Ukraine gezeigt. Und das Gleiche wiederholt sich jetzt: An der ukrainischen Grenze hat Russland eine Armee von circa 100.000 Soldaten stationiert, allgemein wird ein Einmarsch befürchtet - doch die westlichen Politiker haben nur Bekenntnisse zur „Freundschaft“ mit der Ukraine parat, von „Unterstützung“ wollen sie nichts wissen. Sollten in Moskau noch Zweifel geherrscht haben, so haben die vergangenen Tage deutlich gezeigt, dass Präsident Wladimir Putin nach Belieben agieren kann und keinen Widerstand seitens der NATO fürchten muss.

US-Präsident Joe Biden spricht von einem „kleinen Übergriff“, den man tolerieren werde

Die Vereinigten Staaten haben sich bereits abgemeldet: US-Präsident Joe Biden meint, Russland dürfe einen begrenzten Übergriff schon vornehmen - in solch einem Fall werde man sich nicht engagieren. Anders gelagert wären die Dinge nur bei einer Besetzung des ganzen Landes. Angesichts dieser Nachgiebigkeit kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Putin seinen alten Bekannten Biden bei den vor kurzem stattgefundenen Gesprächen von seiner Lauterkeit und seinen ausschließlich friedlichen Plänen überzeugt hat. Womit die Frage aufgeworfen wäre, was Putin denn nun wirklich will. Wobei: das ist offensichtlich; der russische Präsident macht aus seinen Absichten keinen Hehl, seine mündlichen und schriftlichen Erklärungen sind eindeutig. Am liebsten wäre Putin eine Ukraine, die nicht mit der NATO und der EU kokettiert, sondern sich als Freund Russlands profiliert. Nachdem dies seit der Orangen Revolution 2004 nicht mehr der Fall ist, zieht man in Moskau andere Saiten auf.

Der alte Begriff „Neurussland“ für den Osten der Ukraine ist wieder aktuell

Die Krim ist seit 2014 ein Teil Russlands, und daran wird sich auch durch die westlichen Sanktionen nichts mehr ändern. Nachdem dieses Kapital nunmehr abgeschlossen ist, geht es jetzt um den Osten der Ukraine. Und diese Formulierung bedarf einer näheren Erläuterung. Putin spricht gerne von „Neurussland“. Das ist ein historischer Begriff, der besonders unter Zarin Katharina II gebraucht wurde: Der legendäre Fürst Potemkin realisierte in der Region, die etwa der Hälfte der heutigen Ukraine im Osten des Landes entspricht, ein umfassendes Aufbauprogramm, was unter anderem die Errichtung von Odessa, der neben Petersburg schönsten Stadt des Zarenreichs, beinhaltete. Wenn also Wladimir Putin das Wort „Neurussland“ benutzt, so stellt dies im Grunde schon ein politisches Programm dar. Derzeit steht aber ein kleineres Projekt, vielleicht nur als Probelauf, zur Debatte.

2014 ist nicht in der ganzen Region, die einst „Neurussland“ genannt wurde, eine Separatisten-Bewegung entstanden. Nur zwei kleinere Gebiete an der russischen Grenze, Donezk und Luhansk, wurden von Aufständischen zu eigenständigen Volksrepubliken erklärt. Seit acht Jahren tobt nun, gelegentlich durch brüchige Waffenruhen unterbrochen, ein Kleinkrieg zwischen der ukrainischen Armee und den von Russland unterstützten Milizen. Wenn man den Aussagen des russischen Außenministers, Sergej Lawrow, glauben darf, geht es jetzt um die Stärkung der beiden Regionen, wozu Russland auf jeden Fall das Recht habe.

Das Minsker Abkommen wird in Moskau anders gelesen als im Westen

Verwiesen wird von allen Beteiligten auf die viel zitierten Minsker Abkommen und besonders auf Minsk II aus dem Jahr 2015. Allerdings sind die Formulierungen dieser Vereinbarung so vage, dass jeder etwas Anderes liest. Für Russland ist Minsk II eine internationale Bestätigung der Sonderstellung von Donezk und Luhansk, für die westlichen Teilnehmer des Abkommens, Deutschland und Frankreich, eine Garantie der Souveränität der Ukraine. Tatsächlich hat sich die Ukraine bereit erklärt, den beiden Regionen eine gewisse Autonomie zu gewähren, die auch eigenständige Kommunalwahlen umfassen sollten. Man fürchtet aber in Kiew, dass die Bevölkerung nicht nur für eine Regionalregierung votieren, sondern auch ein Bekenntnis zu Russland abgeben könnte - genau, wie dies schon auf der Krim der Fall war.

Somit wird von Moskau der Eindruck vermittelt, dass die Armee an der ukrainischen Grenze nur bereitsteht, um die in Minsk II vermeintlich zugesagte Eigenständigkeit der beiden Regionen abzusichern. Dass dies im Endeffekt eine Anbindung an Russland bedeuten würde, ist offenkundig. Die Einwohner befinden sich schon seit einiger Zeit im Besitz russischer Pässe und konnten auch schon an Wahlen in Russland teilnehmen. Um mit Biden zu reden: Russland erwägt also nur einen „kleineren“ Übergriff. Ist die russische Armee erst einmal in der Ukraine, würde nicht nur der „Schutz“ von Donezk und Luhansk naheliegen. Auch die im Süden anschließende Zone bis zur Krim könnte sich als Aktionsfeld anbieten. In der Folge wäre das Asowsche Meer ein russisches Binnenmeer.

Die Ukraine wirft dem Westen „unterlassene Hilfeleistung“ vor

Moskau möchte sich auch eine kriegerische Auseinandersetzung mit der ukrainischen Armee ersparen und fordert die USA daher auf, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zur Räson zu bringen. Dies bedeutet übersetzt, dass die Ukraine die zwei Volksrepubliken doch bitteschön kampflos abgeben solle. Derzeit fordert die ukrainische Politik allerdings Beistand vom Westen und bezichtigt ihn - weil die gewünschte Unterstützung ausbleibt - der „unterlassenen Hilfeleistung“, ein Begriff aus dem Strafrecht. Zwar liefert Großbritannien in kleinem Umfang Waffen, und die USA haben den baltischen Republiken erlaubt, amerikanisches Gerät an die Ukraine abzugeben, aber mehr geschieht nicht. Selensky könnte die Lage entschärfen, würde er erklären, dass die Ukraine weder der NATO noch der EU beitritt. Dafür klingen jedoch allen ukrainischen Politikern die Versprechungen der NATO-Generalsekretäre Anders Rasmussen und ab 2014 Jens Stoltenberg noch zu laut in den Ohren - an diesen Versprechungen messen sie die NATO. Ihr wollen sie angehören; unter allen Umständen wollen sie verhindern, dass ihr Land ein Pufferstaat wird (wie es unter anderem Henry Kissinger mit Verweis auf Finnland vorgeschlagen hat).

Auf dem politischen Parkett Moskaus wird derzeit nur von Donezk und Luhansk geredet, so legen alle in der Duma (dem russischen Parlament) vertretenen Parteien Bekenntnisse zu den Landsleuten in der Ukraine ab. Auch wird von russischer Seite stets betont, dass in den betroffenen Regionen überwiegend russisch gesprochen werde. Tatsache ist auch, dass - als 2014 die Kämpfe in Donezk begannen - Flüchtlinge vor allem nach Russland strebten und nicht Richtung Westen.

Die Weltmacht NATO lässt sich von Russland keine Vorschriften machen! Oder doch?

Die zweite - im übrigen auch verständliche und vernünftige - große Forderung Moskaus, nämlich eine Garantie der NATO, dass sie niemals versuchen werde, die Ukraine und Georgien aufzunehmen, wird kaum erfüllt werden. Zwar wurde in den vergangenen zwanzig Jahren diese Möglichkeit eifrig diskutiert, zu einem Vertrag kam es jedoch nie. Fakt ist: Die Abgabe einer Garantie ist mit der Eitelkeit der NATO-Vertreter nicht zu vereinbaren - als militärische Weltmacht darf man sich doch keine Vorschriften machen lassen, wo käme man da denn hin. Somit kann Russland jederzeit erklären, dass man vom Westen eingekreist werde, und dass diese Einkreisung eine existenzgefährdende Bedrohung bedeute.

Allerdings kommt auch in diesen Bereich Bewegung. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat diese Woche im EU-Parlament für den Aufbau einer neuen europäischen Sicherheitsordnung plädiert und dabei besonders die Zusammenarbeit mit Russland hervorgehoben. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz betonte beim Weltwirtschaftsforum die Notwendigkeit des Dialogs, und Außenministerin Annalena Baerbock bekannte sich im Gespräch mit Sergej Lawrow zu einer Partnerschaft zwischen Berlin und Moskau. US-Außenminister Anthony Blinken betreibt unterdessen eine eifrige Reisediplomatie. Alle treten mit Festigkeit, Stärke und Einigkeit gegen Russland auf - aber, zumindest von deutscher und französischer Seite, wird auch die Hand gen Osten ausgestreckt.

Europa kann auf die Gas-Pipeline Nord Stream II nicht verzichten

In dem komplizierten Gerangel schwingt durchgehend die Gas-Pipeline Nord Stream II als Thema mit. Die Anlage ist fertiggestellt, aber noch nicht in Betrieb genommen. Von verschiedenen Seiten, vor allem aus den USA, kommt der Ruf, man möge die Pipeline bloß nicht in Betrieb nehmen - das würde Russland besonders treffen, weil die Einnahmen aus dem Gasexport für das Land von gewaltiger Bedeutung seien. Ach ja: Die USA möchten gerne flüssiges Gas nach Europa liefern - aber das sei nur am Rande vermerkt …

Aus europäischer Sicht ist der Gas-Import aus Russland entscheidend für die Sicherung der Energieversorgung. Besonders Deutschland, das sich von Atom, Kohle und Öl verabschiedet, braucht russisches Gas, da die Stromproduktion aus Wind und Sonne wetterabhängig und damit unzuverlässig ist. Fazit: Auch Nord Stream II ist keine Waffe, die Putin fürchten muss. Tatsächlich drohen Russland nur weitere zahnlose Sanktionen, an die das Land schon seit 2014 gewöhnt ist und auf die es sich dementsprechend eingestellt hat.

Die Hilflosigkeit des Westens gefährdet den Frieden

Insgesamt bietet der Westen ein Bild jämmerlicher Hilflosigkeit. Die ständige Betonung der Einigkeit und der Stärke wirken besonders lächerlich. Lächerlich ist die Situation aber keinesfalls - sie stellt eine kapitale Bedrohung des Weltfriedens dar. Die Zeichen der Schwäche werden nämlich nicht nur in Moskau registriert und tragen zur Verschärfung der Ukraine-Krise bei. Nein, selbstverständlich beobachten die Akteure in den anderen kritischen Zonen auf dem Globus das Geschehen ebenfalls ganz genau.

Die Führung in China strebt unverhohlen die Eroberung der Republik Taiwan an. Man erklärt, das demokratisch-republikanische Land habe keine Existenzberechtigung, es gebe nur ein China und alle Chinesen müssten von Peking aus regiert werden. Taiwan genießt seit der Gründung im Jahr 1949 den Schutz der Amerikaner, die bisher einen Übergriff des kommunistischen China verhindert haben. Auch haben die früheren Regierungen in Peking die Eroberung von Taiwan nicht so intensiv betrieben, wie dies der aktuelle Machthaber Xi Jinping tut. Zwar hat US-Präsident Joe Biden sich uneingeschränkt zu Taiwan bekannt, doch wird sich Xi in diesen Tagen unweigerlich fragen, ob ein Überfall auf Taiwan wirklich zu einem Krieg mit den USA eskalieren würde.

Auch ein anderer Herrscher sieht fern und liest Nachrichten. In Teheran betreibt der geistliche Führer des Iran, Ali Khamenei, die Unterwerfung des Irak und tut alles, um seinen größten Wunsch wahr werden zu lassen: Die Vernichtung von Israel. Immerhin sorgt die amerikanische Politik, sorgt das militärische Potential der USA für eine Dämpfung der Kriegslust. Doch angesichts eines hilflosen Westens und eines wankelmütigen US-Präsidenten dürfte auch der iranische Potentat früher oder später übermütig werden. Khamenei konnte zudem in der jüngsten Vergangenheit eine enge Bindung mit der russischen und der chinesischen Führung aufbauen und fühlt sich als Teil einer Machtkonstellation, die sich als Gegenpol des Westens versteht. Ukraine, Taiwan, Naher Osten: Der Welt droht ein Flächenbrand.

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deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/516895/Ukraine-Krise-Nicht-Russland-ist-der-Aggressor-sondern-die-Nato

LESEN SIE MORGEN:

Das große Interview von DWN-Chefredakteur Hauke Rudolph mit Vier-Sterne-General a. D. Egon Ramms:

  • Wann die Offensive erfolgen könnte
  • Welche vier Angriffs-Optionen der russischen Armee zur Verfügung stehen
  • Wie schlagkräftig die ukrainischen Streitkräfte sind
  • Welche Gefahr Putin an der Heimatfront droht

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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