Deutschland

Impfpflicht ab 60: Wird sie diesen Monat beschlossen?

Lesezeit: 6 min
05.06.2022 14:49  Aktualisiert: 05.06.2022 14:49
Am 22. Juni beginnt die Gesundheitsministerkonferenz in Magdeburg, auf deren Tagesordnung die Impfpflicht ab 60 steht.
Impfpflicht ab 60: Wird sie diesen Monat beschlossen?
Kommt die Impfpflicht ab 60? (Foto: dpa)
Foto: Marius Becker

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„Das Gefährliche an dieser Situation beziehungsweise Diskussion ist,

dass Argumente eben nicht mehr zählen, dass es eben nicht mehr um Logik,

Kausalitäten oder Vernunft geht, sondern die Politik sich ideologisiert.“[1]

Ulrike Guérot (2022)

Anfang April war im Bundestag der lange und gründlich vorbereitete Vorstoß geschei­tert, eine allgemeine Impfpflicht oder wenigstens eine „Impfpflicht ab 60“ einzuführen. Sechs Wochen später forderte nun Baden-Württem­bergs Gesund­heits­minister Man­fred Lucha erneut eine Impf­pflicht ab 60. Auch Hessens und Bayerns Ge­sundheitsminis­ter Kai Klose und Klaus Holetschek schlossen sich dem Votum an. Die nächste Gesund­heitsmi­nisterkonfe­renz am 22. und 23. Juni in Magde­burg soll darüber beraten und be­schließen. Die drei südlichen Bundesländer zeigen sich überzeugt: Mit einer „Impf­pflicht ab 60“ könnten sich eine Überlastung des Gesundheitssystems und folglich auch Einschränkungen für die Gesamtbe­völ­kerung vermei­den lassen – zumal im Herbst zu den saisonalen Erkältungser­krankungen wieder vermehrt Covid-Fälle mit schweren Krankheitsverläufen hinzukommen dürften. Eine Impfpflicht für besonders gefährdete Personen sei ein wichtiger Bestandteil präventiver Gesundheitspolitik. Doch bei näherer Betrachtung sprechen die Fakten und Argumente kaum für diesen wiederholten Anlauf, eine altersgebundene Impfnachweispflicht durchzusetzen. Fragt sich nur, was Argumente noch zählen. Ich zähle jedenfalls auf:

Erstens soll die Gesundheitsministerkonferenz offenbar zu einem Zeitpunkt beschließen, da einerseits die Infektions- und Sterbezahlen deutlich gesunken sind und andererseits keineswegs seriös vor­auszusagen ist, wie sich die Corona-Lage im Herbst tatsächlich entwickeln wird. Ex­perten sind da unterschiedlicher Meinung. Der Virologe Alexander Kekulé etwa räumt zwar ein, Politik und Medizin müssten sich auf alles vorbereiten, aber am wahrscheinlichsten sei ein Bleiben auf der relativ harmlosen Omikron-Stufe; keineswegs ausgeschlossen sei zu­dem der best case, dass das neue Virus sich ziemlich eingliedere in die üblichen Erkäl­tungs- und Atemwegserkrankungen[2]. Wie auch immer – eine Impfpflicht bloß „auf Vorrat“, egal für wel­che Altersgruppen, dürfte grundrechtlich kaum Bestand haben. Zu tief und un­ver­hältnis­mäßig wäre der Eingriff in das hochrangige Grundrecht auf körperliche Un­versehrt­heit.

Zweitens leuchtet die erneut angedachte Maßnahme insofern nicht ein, als der Schutzfaktor der bis­herigen Corona-Impfstoffe aufs Ganze gesehen zu niedrig ist, um eine Zwangsan­ord­nung zu rechtfertigen. Wohl fast jeder kennt in seinem Bekanntenkreis Fälle, wo selbst eine Zwei­fach- oder Dreifach-Impfung eine Erkrankung nicht verhindert hat. Statistische Zahlen mögen eine nennenswerte Wahrscheinlichkeit für deutlich erhöhten Schutz ins­be­sondere vor schwerem Krankheitsverlauf hergeben, aber sonderlich eindrucksvoll sind sie nicht: Bei der Gruppe „60 Plus“ waren vor rund einem halben Jahr fast 42 Prozent der Ver­storbenen ge­impft gewesen, und „auf den Intensivstationen lag der Anteil der Geimpften in dieser Alters­gruppe bei immerhin 36 Prozent“ [3]! Just bei dieser Altersgruppe ließ damals zuvörderst ein Wert auf­hor­chen: „60,9 Prozent aller gemeldeten Covid-Fälle in der Altersgruppe 60 Plus geht auf voll­ständig Geimpfte zurück.“ Und sind laut Statistik in der vulnerablen Gruppe der „Älteren“ nicht vor allem die über 80-Jährigen gefährdet?

Zu bedenken bleibt obendrein zweierlei: Zum einen ist der Impfschutz im jüngeren Alter ausgeprägter als im höheren – und zwar unab­hängig vom Impf­stofftyp und von der Virus-Virusvariante[4]. Das heißt, im Alter nimmt die Fähigkeit, eine Immunantwort nach dem Imp­fen aufzubauen, ab: „Deshalb können auch ältere Menschen mitunter keinen stabilen Immun­schutz mehr auf­bau­en.“[5] Zum andern zeigen Studienergeb­nisse mittler­weile, dass die Wirk­samkeit der Grund­immunisierung gegenüber symptomati­scher Erkran­kung durch die Omi­kron-Variante mit der Zeit deutlich nachlässt und im Ver­gleich zur Wirksam­keit gegen­über der Delta-Vari­ante un­ver­kennbar geringer ist. Mit anderen Worten: Wenn Ältere wirk­lich ein höheres Risiko haben, schwer zu erkranken, so sie haben zugleich eine gerin­gere Chance, durch die Impfung wirklich geschützt zu bleiben. Sie erweisen sich auch in dieser Hinsicht also als „vulnerable Gruppe“.

Drittens entkräftet ein genauerer Blick auf die Statistik das Argument, die „vulnerable“ Grup­pe ab dem Alter von 60 Jahren weise eine viel zu große Impflücke auf. So liegt die Impf­quote bei einer zweiten Auffrischungsimpfung in der Bevölkerung ab 60 – Stand 24. Mai[6] – bereits mit großem Abstand vor allen anderen Bevölkerungsgruppen. Und bei der ersten Boosterung ist eben diese Altersgruppe schon mit immerhin rund 80 Prozent dabei. Eine Erstimpfung werden, wenn die Gesundheits­minister im Juni diskutieren werden, sogar 92 Prozent derer er­halten haben, die der erneute Anlauf zu verpflichten sucht. Bis zum Herbst dürften es um die 95 Pro­zent sein. Der kleine Rest der gänzlich ungeimpften Seniorinnen und Senioren besteht dann zum Teil noch aus solchen, die aus ge­sund­heit­lichen Gründen gar nicht geimpft wer­den dür­fen, und manch anderen, die unter die Rub­rik „Genesene“ fallen – wie beispielsweise aktuell die ungeimpfte Mutter (91) des Autors. Der dann noch zahlenmäßig verblei­bende geringe Rest stellt gesundheitspolitisch doch wohl kaum eine „Gefahr für die Allgemein­heit“ dar. Die Argumentation der süddeutschen Ge­sundheits­mi­nister, die Impflücke in dieser Altersgruppe sei nach wie vor „zu hoch“, kann also nicht wirk­lich überzeugen.

Viertens müssen Impfkomplikationen und Impfschäden angesichts einer Covid-19-Impfung ernsthafter noch als bisher berücksichtigt werden. Ein Beispiel aus der Presse ist der 26-jäh­rige Thorben, der sich keineswegs als Impfgegner oder Corona-Leugner versteht und mona­telang um Anerkennung seines Impfschadens kämpfen musste[7]. Für den untersuchenden Kar­diologen kein Einzelfall: „Ich habe täglich Patienten mit genau solchen Odysseen. Pati­enten, die bei verschiedenen Ärzten waren, die immer suggeriert bekamen, dass könne gar nicht an der Impfung liegen, organisch sei alles in Ordnung. Und dann kommen die Patienten zu mir und wir sehen nach der MRT-Untersuchung Pathologien, die klar einer Herzmuskel­entzün­dung zuordbar sind.“ Mehrere EU-Länder setzten den Einsatz von AstraZeneca nach Berich­ten über Krankheiten und Todesfälle aus, zumal es Berichte über plötzliche Blutge­rinnsel nicht nur bei jüngeren Menschen gab, sondern etwa auch bei einer 60-jährigen Frau in Däne­mark[8]. Und so sehen manche Ärzte und Wissenschaftler inzwischen drin­gend Hand­lungs­be­darf: Derzeit gebe es definitiv zu wenig Anlaufstellen für Menschen mit schwer­wie­genden und langhaltenden Impfnebenwirkungen, findet beispielsweise Professor Harald Matthes von der Berliner Cha­rité, seines Zei­chens Leiter der dort durchgeführten ImpfSurv-Studie. Unklar ist im Übri­gen immer noch, ob sich nicht vielleicht doch einst Spätfolgen der ja lediglich be­dingt zugelassenen Covid-19-Impfung zeigen werden.

Fünftens gilt es die spaltende, ja zum Teil kränkende Wirkung der Debatte über eine Impf­pflicht in Erinnerung zu rufen. Der Streit um die Demütigung von Impf-Skeptikern ab 60 wür­de erneut Freundschaften, Fami­lien, Par­teien, Gemeinden und Wohngemeinschaften zer­rei­ßen. Wieder könnten so sachlich schräge Vorwürfe aufkommen wie der, die Ungeimpften – in diesem Fall die Älteren – seien schuld, falls im Winter harte Corona-Maßnahmen nötig wür­den. Das aber dürfte Verletzungen und Kränkungs­gefühle hervorrufen, die ihrerseits krank machen, indem sie das Immun­system tatsächlich schwä­chen. Psychisch kann eine Impf­pflicht bei Betroffenen, gegen deren feste Überzeu­gung sie sich ja respektlos richtet, einen so­ge­nann­ten Nocebo-Effekt erzeugen – näm­lich analog zur positiven, durchaus oft heil­samen Sug­ges­tiv-Wir­kung des be­kannten Placebo-Effekts hier nun eine negative, real krank­machen­de Wir­kung in­folge der wie auch immer be­grün­deten Annahme, geschädigt zu werden[9]. Die­sen psy­chischen Effekt gilt es zu vermeiden, und das gelingt schlicht durch kon­se­quente Ach­tung vor der un­veräußerlichen Menschenwürde, dass nämlich – so die Frei­heits­forscherin Ulrike Gué­rot – „der Körper tabu ist und nicht für einen gesell­schaftlichen Zweck instru­men­talisiert wer­den darf. Zumal inzwischen erhärtet ist, dass durch eine Impf­pflicht weder eine sterile Immu­nität noch Herdenimmunität erreicht wird, der Zweck also nicht ein­mal erzielt wird.“[10] Es bleibt im Grunde bei der früher bereits geäußerten Kritik von Thomas Mertens, dem Vorsit­zenden der Ständigen Impfkommission, am Instrument einer Impfpflicht: „Dies würde zu einer noch stärkeren Polarisierung führen, und viele Menschen würden mit großer Intensität versuchen, dieser Pflicht zu entge­hen.“[11]

Fazit: Die Bundesregierung ist zwar durch die drei Gesundheitsminister aufgefordert, im Sin­ne dieses erneuten Anlaufs zu handeln. Doch Bundeskanzler Olaf Scholz hatte bereits im April deutlich gemacht, dass er keine Basis für einen erneuten Anlauf in Sachen Impfpflicht sieht. Tatsächlich wäre gerade auf dem Hintergrund des politischen Scheiterns der im Parla­ment ja bereits verworfenen Impfpflicht „ab 60“ ein neues Herange­hen erst recht als paterna­lis­tische Maßnahme abzulehnen. Als völlig unverständlich bezeichnete Jochen Haußmann, gesund­heitspo­litischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion in Baden-Württem­berg, Luchas Vor­stoß für eine Impfpflicht ab 60: Wenn es im April keine Mehrheit gegeben habe, wer­de es später nicht anders sein; zudem würde eine Impfpflicht ab 60 an der Umsetzung schei­tern: „Oder will er alle über 60-Jährigen, die sich nicht impfen lassen wollen, in Ver­wahrung nehmen?“[12] Sind womöglich die heimlichen Motive von Politikern, die jetzt wenigstens für eine grup­penbezogene Impfpflicht plädieren, weniger gesundheits- als vielmehr wirtschafts­poli­tischer Natur[13]?

Jedenfalls sollten sich sämtliche Gesundheits­minister auf das Ver­spre­chen be­sin­nen, das – aus guten Gründen – vor der Bun­destagswahl ge­geben wur­de: Es werde keine Impf­pflicht kommen[14]! Wer auch immer gegen Corona geimpft wird, soll das nicht gegen seinen ausdrücklichen Willen erdulden müssen, sondern in freier Verantwortung tun. Bei die­sem hohen, grundrechtlich geschützten Anspruch muss es bleiben. Gerade dort, wo man sich von der hilfreichen Macht der umstrittenen Impfstoffe überzeugt zeigt, sollte man an­gesichts der bis zum Herbst erreichten Impfquote in Deutschland eigentlich keine Angst mehr davor haben müssen, dass der bis dahin nurmehr geringe Rest der entschlossen Ungeimpften das Gesund­heits­system noch ernsthaft in Bedrängnis bringen könnte.

[1] Ulrike Guérot: Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit und darüber, wie wir leben wollen, Frankfurt a.M. 2022 (4. Aufl.), 19. Zum Stichwort „Pflicht“ unterstreicht die Freiheitsforscherin: „Pflicht ist in einer Demokratie in erster Linie die Einhaltung des Rechts“ (25)!

Dr. theol. habil. Werner Thiede ist außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Universität Er­lan­gen-Nürnberg, Pfarrer i.R. und Publizist (www.werner-thiede.de). Zuletzt erschien von ihm „Unsterblichkeit der Seele? Interdisziplinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage“ (2. Auflage, Berlin 2022); im Druck befindet sich das Büchlein „Himmlisch wohnen. Auferstanden zu neuem Leben“ (Leipzig 2023).


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