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Indiens Aufstieg ist eine enorme Chance für den deutschen Mittelstand

Lesezeit: 5 min
04.07.2023 10:05  Aktualisiert: 04.07.2023 10:05
Indien hat China als bevölkerungsreichste Nation der Welt abgelöst. Auch wirtschaftlich ist das Riesenreich auf einem guten Weg. Für den deutschen Mittelstand bieten sich gute Investitionsmöglichkeiten durch neue Wachstumsmärkte.

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Indiens Bevölkerung ist an China vorbeigezogen und erhebt den Anspruch, die populationsreichte Nation der Erde zu sein. Mit diesem Wachstum entwickelt sich Indien zu einem wichtigen Akteur in der Weltwirtschaft und bietet neue Chancen für Investoren und Unternehmen gleichermaßen. Noch vor einem halben Jahrhundert befanden sich Indien und China an einem ähnlichen Punkt. Die Fruchtbarkeitsrate lag bei über fünf Kindern pro Frau. Beide standen vor ähnlichen sozialen und entwicklungspolitischen Herausforderungen. Sie hatten zuvor die Folgen einer kolonialen Besatzung und Kriege erlebt. Ihre Wege zur Bevölkerungskontrolle verliefen jedoch sehr unterschiedlich und waren von sehr verschiedenen politische Ansätzen geprägt. Indiens Bevölkerung wuchs nach der Unabhängigkeit sehr schnell. Von 1947 bis 1997 nahm sie von 35 Millionen auf eine Milliarde Menschen zu.

Besorgt über die schnell wachsende Bevölkerung verhängte die damalige Premierministerin Indira Gandhi 1975 den nationalen Notstand. Die Weltbank gab Gandhi Kredite für die Sterilisierungen, viele Männer wurden ungewollt dieser Maßnahme unterzogen. Ein Thema, das noch heute im Gedächtnis der Menschen ist und über das nur selten öffentlich diskutiert wird. Mittlerweile wächst die Bevölkerung Indiens deutlich langsamer. Inderinnen hatten laut United Nations (UN) im Jahr 2022 im Schnitt 2.0 Geburten pro Frau und liegen damit knapp unterhalb der Schwelle von 2.1, dem Niveau, das für eine langfristige Stabilisierung der Bevölkerung gilt.

Die Folgen der Ein-Kind-Politik

In China folgte man in den 1970er Jahren der „später, länger, weniger-Kampagne“, die eine spätere Heirat förderte, längere Abstände zwischen den Geburten und insgesamt weniger Kinder befürwortete. Forciert wurden diese Maßnahmen ab den 80iger Jahren durch eine strenge „Ein-Kind-Politik“, welche die Paare mit einigen Ausnahmen auf ein oder zwei Kinder beschränkte. Dies führte zu einem drastischen Rückgang der Geburtenrate in den Folgejahren. 2022 hatte China mit 1,2 Geburten pro Frau, die niedrigste Geburtenrate auf der Welt. Zum ersten Mal seit über 60 Jahren verzeichnet das Land ein negatives Bevölkerungswachstum. Es ist das Ergebnis einer rigorosen Politikverordnung ohne Freiraum.

Nun treten die Folgen in Erscheinung. Sowohl in China als auch in Indien wächst die Zahl der älteren Bevölkerung rasch. Bis 2040 wird es in China mehr Menschen im Alter über 65 Jahren geben als solche unter 25 Jahren und bis 2050 könnten sie 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen, was eine erhebliche Herausforderung für das Gesundheits- und Sozialversicherungssystem darstellt. Ähnlich sieht es in Indien aus, jedoch ist der Anteil der Älteren etwas geringer. Derzeit ist jeder zehnte Inder über 60 Jahre alt. In China hingegen ist es jeder Sechste. Diese Kluft wird sich in den nächsten Jahren noch vergrößern. Die chinesische Führung hat das Problem erkannt und propagiert angesichts des Bevölkerungsrückgangs im Lande nun drei Kinder pro Familie. Bisher allerdings mit wenig Erfolg.

Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass die indische Bevölkerung bis 2050 weiter wachsen wird, während bei der chinesische Bevölkerung das Gegenteil zu erwarten ist. Die Entwicklung Indiens sieht bezüglich des Wachstums der Erwerbsbevölkerung damit deutlich besser aus gegenüber China. Es ist unwahrscheinlich, dass Indien in den nächsten zwei Jahrzehnten mit einem Arbeitskräftemangel konfrontiert wird, doch solche Probleme könnten in China auftreten. Allerdings sagt das noch nichts über die Qualität der Arbeitskräfte, das Kapital und die politischen Bedingungen aus, welche einen großen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum eines Landes haben.

Chinas Wirtschaft leidet

Chinas schrumpfende Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter könnte schon bald zu einem Mangel an Arbeitskräften führen. Dadurch wird es für die Unternehmen schwieriger Mitarbeiter zu finden und das Wirtschaftswachstum könnte sich weiter verlangsamen. Die Überalterung der Bevölkerung entpuppt sich als weiterer Bremshebel für die Sicherung der Wirtschaftskraft.

Sollten Chinas Industrien ihre Produktion aufgrund von Arbeitskräftemangel in Zukunft drosseln müssen, würde dies zu steigenden globalen Rohstoffpreisen und in der Folge zu einer Inflation in den USA und in der Europäischen Union führen. Noch aber ist China aktuell eine der stärksten Wirtschafts- und Militärmachte der Welt und nach Corona wieder dabei, wirtschaftlich Fuß zu fassen. So hat das Abrdn Research Institute seine Prognose für das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in China auf 6,0 Prozent im Jahr 2023 angehoben, nach drei Prozent im Jahr 2022.

Indien auf der Überholspur

Mit 8,7 Prozent Wachstum im Jahr 2021 avancierte Indien zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt nach den USA, China, Japan und Deutschland. Seit Ende der 2000er Jahre lag das Wirtschaftswachstum durchschnittlich bei über sieben Prozent jährlich. Allerdings wird erwartet, dass Indiens Bruttoinlandsprodukt-Wachstumsrate (BIP) sich laut dem Bericht „World Economic Situation and Prospects 2023“ der Vereinten Nationen zufolge

auf 5,8 Prozent im Jahr 2023 von geschätzten 6,4 Prozent im Jahr 2022 verlangsamen wird, da höhere Zinssätze und eine weltweite Konjunktur-abschwächung die Investitionen und die Exportleistung beeinträchtigen. Die Inflationsrate ist von 2022 auf 2023 ein wenig zurückgegangen und wird im Mittel mit 5,5 Prozent prognostiziert. Die Arbeitslosenquote insgesamt lag im Jahr 2022 auf dem Niveau von vor der Pandemie. Davon ausgenommen ist die Jugendbeschäftigung, sie blieb unter dem Niveau und konnte nicht wieder aufgeholt werden. Knapp die Hälfte aller jungen Leute unter 28 Jahren (44 Prozent) sind aktuell arbeitslos.

Das schnelle volkswirtschaftliche Wachstum in der Vergangenheit bedeutet zugleich eine große Herausforderung für Indien. Denn bisher scheitert es noch an regulären Arbeitsplätzen für alle. So braucht das Land jedes Jahr etwa neun Millionen Arbeitsplätze, um mit dem Wachstum Schritt halten zu können. Vielen bleibt nur die Beschäftigung in der Landwirtschaft, um zu überleben. Noch immer leben knapp die Hälfte der Menschen von diesem Wirtschaftssektor. Doch Premierminister Narendra Modi investiert kräftig in den Ausbau verschiedener Sektoren. Schienenausbau, Autobahnausbau, Digitalisierungsprojekte stehen neben Zukunftsprojekten wie saubere Energie und Umweltschutz ganz oben auf der Agenda. „Da ist noch ordentlich Luft nach oben und auch für deutsche Unternehmen viele attraktive Investitionsmöglichkeiten“, weiß der Asien-Experte Professor Karl Pilny, Buchtautor zahlreicher Asienbücher und regelmäßiger Herausgeber des PilnysAsiaInsights-Newsletters.

Deutschlands Beziehung zu Indien

Beide Länder unterhalten seit 2001 enge Beziehungen und haben neue Bereiche der Zusammenarbeit identifiziert, darunter Digitalisierung, Landwirtschaft, grüne Energie, E-Mobilität, intelligente Städte, Industrie 4.0 und Start-ups. Erst im April 2023 unterzeichneten Indien und Deutschland den Arbeitsplan 2023, der eine Reihe von Themen umfasst, darunter globale Harmonisierungslösungen und sektorspezifische Zusammenarbeit in Bereichen wie künstliche Intelligenz, Cybersicherheit, Kreislaufwirtschaft und intelligente Landwirtschaft. Deutsche Unternehmen wie Daimler, Bosch oder Adidas sind im indischen Markt bereits seit Jahren fest etabliert.

Laut dem preisgekrönten indischen Business-Magazin Mint planen Indien und Deutschland einen eigenständigen politischen Dialog über China, was ein Zeichen für eine engere politische Beziehungen zwischen der viert- und der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt bedeuten würde. Pilny betont, dass es eine gänzliche Entkopplung von China nicht geben wird. „Während die deutschen Großkonzerne es sich kaum leisten können mit China nicht weiterzumachen, hat der Mittelstand dagegen eine Wahl. Aktuell gibt es zwei attraktive Alternativen zu China, einmal Südostasien aber auch Indien“, sagt er. Ein großer Vorteil von Indien liegt in der Sprache. Es wird in der Wirtschaftswelt Englisch gesprochen, das mache auch die Vertragsverhandlungen rechtsicherer als China, weiß der Jurist Pilny.

Mehr Gehör für den globalen Süden

Indien hält für das Jahr 2023 den Vorsitz der G20 und hat damit direkten Einfluss auf die Agenda. Die Präsidentschaft will der Staat nutzen, um bei globalen Themen wie dem Klimaschutz Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern gerecht zu werden. In einem Report der Friedrich-Ebert-Stiftung schreibt Herbert Wulf, Senior Fellow am Bonner International Center for Conflict Studies (BICC), dass Indien außerdem seit längerem dazu plädiere internationale Einrichtungen wie die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds zu reformieren, um der heutigen Weltlage gerechter zu werden.

Eine neue geostrategische Wirtschaftswelt, welche der bisher westlich orientierten Weltordnung die Stirn bietet, könnte in ein paar Jahren denkbar sein. Die sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) bekommen rege Anfragen weiterer südlicher Länder, die dem Verbund beitreten möchten. Eine eigene Währung steht in der Diskussion, es wäre der nächste logische Schritt, nach der 2014 gegründeten eigenen Entwicklungsbank als Gegenpol zu Weltbank und IWF. Im März 2023 haben China und Brasilien ein deutliches Signal für die neue Richtung gesetzt: Sie wickelten Ihre Geschäfte in den Landeswährungen ab.

 

                                                                            ***

Sofia Delgado ist freie Journalistin und arbeitet seit 2021 in Stuttgart, nachdem sie viereinhalb Jahre lang in Peking gelebt hat. Sie widmet sich gesellschaftskritischen Themen und schreibt für verschiedene Auftraggeber. Persönlich priorisiert sie die Themen Umweltschutz und Nachhaltigkeit, als dringendste Herausforderung für die Menschheit.

 


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