Sie nennen sich „Business Hippies“. Die erste Community für „feinfühlige“ Unternehmerinnen. Mitte September gab es in Berlin im Café Schönbrunn das erste Meetup-Treffen dazu. Gleichgesinnte, die mit beiden Füßen im Leben stehen und dennoch anders ticken wie die meisten Menschen; empfindsamer. Das Thema Hochsensibilität hat in den letzten Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen. Dennoch ist es in dem meisten Unternehmen bisher noch kein besonders beachtetes Thema. Wer hochsensibel ist wird, sofern er es nicht selbst kommuniziert und aufklärt, meist als Sonderling von den anderen wahrgenommen. „Natürlich haben Menschen mit dieser Veranlagung auch Schwierigkeiten, aber nicht, weil sie diese Veranlagung haben, sondern weil eben die Rahmenbedingungen nicht so passend für sie sind, wie sie das gerade brauchen“, sagt Cordula Roemer, seit 15 Jahren Dozentin und Bestsellerautorin zum Thema Hochsensibilität. Ihrer Meinung nach ist das Thema noch nicht in der Berufswelt richtig angekommen. Sie beobachte jedoch eine Zunahme und Beschäftigung mit dem Thema in der Gesellschaft.
Das Phänomen betrifft Frauen und Männer gleichermaßen und ist weder eine Störung noch eine Krankheit. Hochsensibilität (Highly Sensitiv Person) oder HSP abgekürzt, ist eine Veranlagung, die mit einer besonderen Empfindsamkeit einhergeht. 1997 erstmals von der US-Psychologin Elaine N. Aron und Arthur Aron beschrieben, wurde damals das Konzept der Hochsensibilität begründet.
Wissenschaftlich steht man erst am Anfang bei diesem Thema. Viel valides Material gibt es noch nicht dazu. Per Fragebogen und Selbstzuschreibung kann man herausfinden, ob eine Hochsensibilität vorliegt. 2018 wurde diese sogenannte HSPS-Skala in einer Studie an 906 Erwachsenen getestet. Eine niedrige Sensibilität liegt bei etwa 30 Prozent vor, 40 Prozent wurden als mittelsensibel und etwa 30 Prozent konnten als hochsensible Probanden beschrieben werden. An der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg läuft aktuell eine Augen-Tracking Studie. Getestet wird, ob die Persönlichkeit von Menschen eine Einfluss hat auf die Wahrnehmung emotionaler Bilder. Die Ergebnisse einer bisher durchgeführten Vorstudie zeigen, dass verschiedene Persönlichkeitsmerkmale tatsächlich die Bewertung von emotionalen Bildern beeinflussen. Die führenden Theorien wurden in das übergreifende Konzept der Umgebungs-Sensitivität zusammengefasst. Nach dieser Theorie unterscheiden sich Menschen in ihrer Fähigkeit, Informationen über ihre Umwelt aufgrund genetischer Unterschiede im Gehirn wahrzunehmen und zu verarbeiten. Doch die eigenen Gene sind nur ein Teil der Antwort. Denn die Forschung hat auch ergeben, dass Sensibilität ebenso von der Umwelt und den Erfahrungen der Menschen in seinem Leben geprägt werden.
Hochsensibel – Zwischen Wunderkind und Weichei?
Andere Studien (Acevedo 2014, Bridges & Schendan 2019, Andresen 2017) haben ergeben, dass Menschen, die von erhöhter Neurosensitivität betroffen sind, ein erhöhtes Bewusstsein, mehr Empathie und über eine tiefere Informationsverarbeitung verfügen, Vorteile, die im Berufsalltag gezielt eingesetzt werden könnten. Die Schattenseite ist allerdings eine erhöhte Stressanfälligkeit bei den Betroffenen. Dies muss aber kein Nachteil in der Arbeitswelt sein. Der Schweizer Wissenschaftler Dr. Patrice Wyrsch fasst in seinem Arbeitsbericht über seine vierjährige Forschung auf dem Gebiet das Ergebnis wie folgt zusammen: „Basierend auf unseren empirischen Ergebnissen ist die Antwort auf unsere etwas provokative Leitfrage, ob hoch(neuro)sensitive Mitarbeitende „Weicheier“ oder „Wunderkinder“ sind, «weder noch». Denn unsere Ergebnisse zeigen auf, dass auch vulnerabel-hochsensitive Mitarbeitende, bei denen die Schattenseite von erhöhter Neurosensitivität überwiegt, mit den passenden Kontextbedingungen sehr wohl funktionsfähig sind. Sind beispielsweise die Arbeitsbedingungen von vulnerabel-hochsensitiven Mitarbeitenden förderlich, fällt ihre Aufgabenleistung im Vergleich zu wenig sensitiven Mitarbeitenden sogar leicht erhöht aus.“
Keinen Grund also für Vorgesetze oder Personaler hierin einen Nachteil zu sehen. Bisher fehlt es an der breiten Integration der Hochsensibilität im Beruf und Alltag. Dabei gäbe es viele Berufsfelder, die insbesondere von den Vorteilen der Hochsensibilität profitieren würden. Im Gesundheits- oder Bildungswesen braucht es überwiegend Menschen mit erhöhter sozialer Empathie. Oft tritt die Neurosensitivität in Erscheinung mit einem ausgeprägten Harmoniebedürfnis, einer erhöhten Kreativität oder Perfektionismus auf. Hochsensible können besser als andere dafür sorgen, dass es zwischenmenschlich gut miteinander funktioniert, weiß Roemer. Unternehmen könnten viel mehr davon profitieren, wenn sie diese Menschen bewusst zu Rate ziehen, sozusagen als „Frühwarnsystem“. „Viele Unternehmen haben mit diesen Menschen Perlen an Bord und wissen es nicht“, beschreibt Roemer die aktuelle Situation.
Wertvolle Kompetenzen ins rechte Licht rücken
Alexandra Fischer setzt mit ihrem Schwerpunkt „Sensitivity Creates Impact“ als Holistic Consultant für sensitive Führungskräfte und Unternehmen genau an diesem Punkt an. Sie selbst hat diese Erfahrung als Hochsensible in leitender Position durchlebt und weiß, wie wichtig es ist, die außergewöhnlichen Kompetenzen sichtbar zu machen. „Kaum eine sensitive Führungspersönlichkeit zeigt sich bisher mit ihrem besonderen Persönlichkeitsmerkmalen oder ist sich darüber überhaupt bewusst“, sagt sie. Meistens halten sich diese Menschen eher zurück und versuchen sich anderen und ihrem beruflichen Umfeld anzupassen. “Dabei sind sie aufgrund ihrer besonderen Wahrnehmungsfähigkeit, ihrer kreativen und innovativen Kompetenzen und ihrer Leistungsbereitschaft die absoluten High Performer“, ergänzt die erfahrene Coach.
So ist es auch nicht verwunderlich, dass das Thema Hochsensibilität noch große Lücken in den Personalabteilungen oder bei Headhunters vorweist. Roemer hält es für eine gute Idee, wenn zukünftig hier mehr die Personalverantwortlichen geschult werden würden, da es ein komplexes Feld ist. Es wäre hilfreich, wenn bereits in den Vorgesprächen erkannt werden würde, dass Hochsensibilität vorliegt, aber auch Mitarbeiter mit diesen Eigenschaften sollten mehr durch das Unternehmen gestärkt werden. In Zeiten von Fachkräftemangel kann ein Unternehmen durch verbessernde Maßnahmen und gezielte Neuerungen in Bezug auf das vorhandene Personal ein Vorteil gegenüber der Konkurrenz bedeuten und auch einer Abwanderung unzufriedener Mitarbeiter entgegenwirken. Daher sollte das Thema ernst genommen und einen Platz in jedem Unternehmen eingeräumt werden.
Es braucht mehr Schulungen für das Thema Hochsensibilität
Auch Kristin Fuchs, MBA-Wirtschaftspsychologin und Businesscoach, teilt die Erfahrung, dass Unternehmen noch nicht genau wissen, was Hochsensibilität bedeutet. Die Psychologin kennt das Problem, dass die Betroffenen selbst oft nicht wissen, dass es für ihre Befindlichkeiten einen Begriff gibt. Mit ihren Coachingansatz „Gedankenakrobaten“ tritt sie daher dafür an, auf der persönlichen Ebene für Aufklärung zu sorgen. Denn wer sich selbst besser versteht, kann sich genauer mitteilen und auch rechtzeitig abgrenzen. „Hochsensibilität sollte auch ein Thema auf Leitungsebene bei Führungscoaching sein. So wie auch andere Persönlichkeitsstrukturen in solchen Seminaren geschult werden, braucht es eine Schulung eigens für das Thema und die Merkmale von hochsensiblen Mitarbeitern“, sagt sie. Sie hofft, dass die Akzeptanz für dieses Thema im Laufe der Zeit größer wird, auch wenn sie keine schnelle Veränderung in kurzer Zeit erwarte. Doch auch Homeoffice ist mittlerweile salonfähig in der Arbeitswelt geworden, so dass es für das Thema Hochsensibilität Hoffnung gibt. Wie wichtig es in Zukunft noch wird, zeigen auch neue Berufe, die sich aktuell etablieren. „Feel Good ManagerInnen“ sind solch ein Beispiel. Sie sorgen dafür, dass die Mitarbeiterzufriedenheit in Unternehmen nachhaltig erhöht wird. Daher liegt Alexandra Fischer wahrscheinlich gar nicht so falsch mit ihrer Überzeugung, dass die besonderen Kompetenzen von erhöht sensitiven Menschen in Zukunft noch viel mehr gebraucht werden und einen viel höheren Stellenwert einnehmen werden, als es momentan der Fall ist.