Politik

Kriegsaltlasten: Die unsichtbare Gefahr

Lesezeit: 8 min
30.06.2024 14:53
In Deutschland werden immer wieder Fliegerbomben aus dem Zweiten Weltkrieg bei Bauarbeiten gefunden. Fast immer können die Bomben aus britischer oder amerikanischer Produktion vom Kampfmittelräumdienst in Deutschland sicher entschärft und entsorgt werden. Ebenso werden andere Fundmunitionen wie Seeminen, Artilleriegranaten oder Infanteriemunitionen fachgerecht entsorgt.

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Diese Arbeiten dauern nun fast 80 Jahre in Deutschland an. In anderen Ländern wie unter anderem in Vietnam, Libanon, Sudan, Nicaragua, Afghanistan oder Angola, in denen Kriege stattfanden, liegen ebenso Altlasten, die geräumt werden müssen. Dies wird Jahrzehnte dauern – sollten entsprechende Technologien verfügbar sein. Gerade Landminen, von denen mehr als 100 Millionen Stück weltweit verlegt worden sind, stellen noch 40 Jahren nach Kampfhandlungen eine akute Bedrohung für die Zivilbevölkerung dar. Allein im Jahr 2023 wurden 4.700 Menschen durch Minen und Altmunition verletzt oder getötet. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten sprachen mit dem Autor und Journalisten Thomas Meuter.

DWN: Weltweit liegen Minen und nicht detonierte Bomben herum. Können Sie das Problem beziffern? Und in welchen Gegenden ist es besonders dringlich?

Thomas Meuter: In vielen Ländern ist den vergangenen fünfzig Jahren Krieg geführt worden und die nicht explodierte Munition, Landminen und andere militärische Altlasten wurden nicht geräumt, sondern liegen ungeborgen im Boden und stellen eine tödliche Gefahr für die Menschen dar, die in Ihre Heimat zurückkehren wollen. Das Problem ist dabei von verschiedenen Seiten zu betrachten. Zum einen sind oft russische Munitionen in einem nicht so technisch ausgereiften Zustand, wie vergleichbare westliche Produkte. Die Zündertechnologie ist meist weniger ausgereift und mangelhaft ausgeführt. Dies führt dann zu Blindgängern. Das ist Munition, die nach dem Verschuss nicht detoniert und dann liegen bleibt. Artilleriegeschosse oder Fliegerbomben dringen in die Erde ein und bleiben dann dort Jahrzehnte lang liegen, wenn danach nicht gesucht wird. Weltweit gesehen durften sich mehr als 1. Millionen Tonnen an nicht detonierten Artilleriegranaten aller Art und Größe sich in den Böden sehr vieler Länder befinden. Noch schlimmer sieht es mit der Landminenbedrohung aus. Die UN schätzt, dass 100 Millionen Minen aller Art sich in 50 Staaten ungeborgen befinden. In Europa sind immer noch Serbien und der Kosovo davon noch betroffen. Ebenso Kambodscha, Angola, Afghanistan oder Vietnam und viele andere Staaten. Das Räumen dauert Jahrzehnte und ist technisch nicht einfach sowie sehr kostenaufwendig. Hinzu kommt die Entsorgung der Landminen und Altmunition. Dies können die meisten betroffenen Länder nicht gewährleisten.

DWN: Was kann man tun, um diesen Problemen zu Leibe zu rücken?

Thomas Meuter: Pauschal kann man diese Frage nicht beantworten. Dafür ist diese Angelegenheit viel zu komplex. Man muss zunächst umfangreiche Suchaktionen in den betroffenen Gebieten durchführen, in denen Munition vermutet wird oder sich nachweislich befindet. Dies reicht von Luftbildauswertungen bis hin zu militärischen Mineverlegeplänen, um Munition oder militärische Altlasten zu finden. Ebenso werden Zeugenaussagen benötigt, die wissen, wo möglicherweise Munition liegt. Dann müssen umfangreiche Pläne erstellt werden, wo diese Munition zu finden ist. Erst dann können Räumaktionen überhaupt geplant werden. Dafür werden dann Spezialisten benötigt, die einen militärischen Hintergrund haben sollten. Mit dem Aufspüren der Munition allein ist es aber nicht getan. Um Munition oder militärische Altlasten aller Art überhaupt räumen zu können, muss der Zustand der Munition festgestellt werden, der nicht immer so ist, dass eine Bergung möglich ist, wenn diese bis zu 80 Jahren im Boden liegt. Dann muss die Munition gesprengt oder kontrolliert abgebrannt werden. Dies ist eine hoch aufwendige Angelegenheit, die Spezialkenntnisse und erfahrene Kampfmittelräumer erfordert. Die deutsche Industrie verfügt über hoch moderne und leistungsfähige Räumtechnologien, die von Bodenradaren, Metalldetektoren bis hin zu Spezialwerkzeug reichen. Die Palette an Technik ist sehr groß, um dies zu realisieren. Auch das deutsche Wissen um das Räumen von Kriegsaltlasten ist international sehr stark gefragt und wird immer wieder angefordert. Das deutsche Know-how auf diesem Gebiet ist sehr hoch und nimmt eine internationale Spitzenstellung ein, da wir seit 79 Jahren Kampfmittelräumung betreiben. In Deutschland werden deshalb auch Kampfmittelbeseitiger unter anderem an der Sprengschule in Dresden und auch von der Bundeswehr intensiv ausgebildet oder weitergebildet. Ähnliche Einrichtungen gibt es in Belgien, Frankreich oder Großbritannien.

DWN: Können Sie uns beschreiben, auf welche Weise eine Bombe und eine Mine entschärft werden? Über welche technischen und psychischen Voraussetzungen muss ein Kampfmittelräumer dabei verfügen?

Thomas Meuter: Zunächst muss das Kampfmittel, wie z.B. die Granate, Bombe oder Landmine gefunden werden. Dann muss der tatsächliche Zustand des Kampfmittels festgestellt werden, ob es überhaupt zu bergen ist. Also aus der Fundstelle zu nehmen und es gegebenenfalls auf einen Spezialtransporter zu verladen und zu einem Sprengplatz zu bringen. Dazu muss der Feuerwerker sehr genau wissen, um was für eine Munition es sich handelt, wie diese technisch aufgebaut ist und wie der Zünder funktioniert. Dieser ist am empfindlichsten. Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg können mit Entschärfungssicherungen versehen sein, die ein herausdrehen eines Zünders unmöglich machen. Dies passiert selten ist aber möglich. Dann muss die Bombe entweder sehr vorsichtig geborgen werden oder, wenn dies nicht möglich ist, vor Ort gesprengt werden. Verschiedene Techniken gibt es auch, um den Zünder herauszusprengen und so die Zündung der Bombe zu verhindern. Bei Minen sieht dies wieder ganz anders aus. Diese müssen in der Regel an Ort und Stelle gesprengt werden, da diese über eine Aufhebungssicherung verfügen. Wird die Mine aufgehoben und aus der Verlegestellung gehoben, reagiert der Zünder, selbst wenn diese 15 Jahre nicht entdeckt wurde. Eine Bergung und anschließende Sprengung auf einem Sprengplatz ist meist nicht möglich. Der Kampfmittelräumer muss militärische Kampfmittel, deren Zündertechnik sowie Wirkungsweise sehr genau kennen. Um dies zu lernen, braucht man Jahre an Ausbildung und berufliche Erfahrung. Dann kommt es immer auf den Zustand des Kampfmittels an. Ist es schon stark verrostet, beschädigt oder vielleicht noch einigermaßen intakt? Alles wichtige Fragen in diesem Zusammenhang, die der Kampfmittelräumer genau prüfen muss. Dann werden die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet, um eine Bergung oder anderwärtige Beseitigung einzuleiten. Dem Kampfmittelräumer stehen dazu eine ganze Reihe von technischen Hilfsmitteln zur Verfügung, die eine genaue Identifizierung des Kampfmittels (der Munition) ermöglicht und die beste Vorgehensweise vorschreibt, wie man vorgehen muss. Das ist bei der Vielzahl von Waffentypen eine sehr komplexe Aufgabe, die auch exakt ausgeführt werden muss, denn jeder Fehler kann der letzte sein. Fehler bei der Entschärfung können tödlich sein. Deshalb müssen Kampfmittelbeseitiger nervlich stark und hoch belastbar sein sowie ganz genau abwägen, was zu machen ist. Fehler dabei zu machen ist immer tödlich, denn ein Kampfmittel verzeiht keine Fehler.

DWN: Wie ist die Situation in Deutschland? Hier werden noch immer alte Weltkriegsbomben gefunden - richtig?

Thomas Meuter: In Deutschland werden seit dem Zweiten Weltkrieg Kampfmittel aller Art und auch Bomben systematisch gesucht. Dabei haben sich die Suchtechniken zu damals deutlich verbessert und es ist leichter geworden Altlasten aus dem Krieg zu finden. Experten vermuten, dass sich noch zwischen 100.000 und 300.000 Tonnen Bomben in Deutschland im Boden befinden. Während des Krieges wurden ca. 1,4 Millionen Tonnen Bomben von Alliierten über Deutschland abgeworfen. Genaue Zahlen sind derzeit nicht bekannt. Wie viele Bomben Russland und auch Deutschland über deutschem Gebiet abgeworfen haben ist ebenfalls nicht bekannt. Hinzu kommen die unterschiedlichen Munitionen der Bodentruppen aller Streitkräfte im Krieg. Daher die große Zahl an Tonnen von Munition. Es werden in der Woche rund zwei bis drei Bombenfunde in Deutschland gemacht. Das ist eine ganze Menge und meist passiert nichts, wenn diese Altlasten geborgen und vernichtet werden. Allein in NRW haben im Jahre 2019 die Kampfmittelräumer ganze 2.818 Bomben ohne Gefährdung der Öffentlichkeit entschärft. Ähnliches gilt für andere Bundesländer.

DWN: Kann man sagen, dass die Deutschen deswegen permanent im Training sind? Ließe sich deren Expertise im Ausland nutzen?

Thomas Meuter: Beide Fragen würde ich mit ja beantworten wollen. Durch die vielen Funde in der Vergangenheit hat Deutschlands Kampfmittelräumdienst eine hohe Expertise auf dem Gebiet des Aufspürens und beim Entschärfen der alten Munition. Auch der internationale Austausch über das Thema Kampfmittelräumung läuft seit Jahrzehnten mit anderen europäischen Ländern, die ähnliche Probleme mit militärischen Altlasten haben.

DWN: Ist Kampfmittelräumung ein Markt mit volkswirtschaftlicher Relevanz? Welche deutschen Firmen sind hier am Start?

Thomas Meuter: Kampfmittelräumung ist zunächst die Sicherstellung, Gefahren, die von militärischen Altlasten ausgehen, zu beseitigen und so ein sicheres Leben zu garantieren. Kriegsgebiete, die nach den Kampfhandlungen von Munition geräumt werden müssen, damit dort wieder ein gefahrfreies Leben und auch wieder gewirtschaftet werden kann, hat eine volkswirtschaftliche Relevanz, die nicht zu unterschätzen ist. Militärische Altlasten bleiben unter Umständen mehr als 100 Jahre sehr gefährlich, wenn diese nicht geräumt werden. In Deutschland gibt es sehr viele Unternehmen, die Kampfmittelräumung durchführen können. Dies reicht von der Suche bis hin zum Entsorgen der Altlasten. Dieser Markt ist immer noch beständig, da es noch mehr als 50 Jahre dauern wird, bis alles geräumt ist in Deutschland. Eine sehr lange Zeit, die viele Unternehmen nutzen, um hier mitzuhelfen, diese Gefahr zu beseitigen. Vergessen Sie dabei nicht die Giftgasmunitionsmengen in der Ost- und Nordsee die mehr als 5.000 Tonnen betragen, die Entsorgung von Munitionsaltlasten auf stillgelegten Truppenübungsplätzen und vieles andere mehr. In deutscher Nord- und Ostsee lagern Altlasten von ca. 1,6 Millionen Tonnen konventioneller Munition (Bomben, Granaten, Seeminen, Torpedos etc.) und 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe, die im Zweiten Weltkrieg durch Militäroperationen oder danach durch Verklappung versenkt wurden. Und auch neue Munition die aus der NATO stammt, muss nach dem Ablauf ihrer Verfallsfrist entsorgt werden, was auch heute geschieht.

DWN: Das eine ist die Entschärfung von Bomben und Minen. Das andere die Umweltbelastung, die generell durch Artilleriebeschuss und andere Kampfhandlungen entstehen. Können Sie uns das beschreiben?

Thomas Meuter: Eine Umweltbelastung ist natürlich gegeben, die sich aber bei herkömmlicher Munition in Grenzen hält. Klar ist deren Explosion nicht umweltfreundlich, da die entstehenden Gase meist gesundheitsschädlich sind. Dies gilt meist für russische Munitionstypen. Allerdings sind zum Beispiel Raketentreibstoffe möglicherweise stark salzsäurehaltig und können deshalb im Boden zu Verunreinigungen führen. Meist enthält alte Munition Schwermetalle, die schwer zu entsorgen sind. Hinzu kommt Giftgasmunition, die gesondert entsorgt werden muss und deren Inhalte sich bis heute in Nord- und Ostsee ergießen, da die Granatenkörper verrostet sind und schon rund 100 Jahre auf dem Meeresboden liegen. Nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg wurde Giftgasmunition im Meer entsorgt. Eine Bergung ist heute zu teuer und technisch fast nicht mehr möglich. Daher nimmt man in den Anrainerstaaten die Verunreinigung der Meere unter anderem mit Schwermetallen und anderen Giftstoffen wie Arsen billigend in Kauf.

DWN: Lässt sich Uranmunition entsorgen und lassen sich verseuchte Gebiete dekontaminieren?

Thomas Meuter: Ein sehr großes Problem ist die Entseuchung von Gebieten, wo uranhaltige Munition verschossen worden ist. Dies ist in Europa in Serbien und dem Kosovo passiert als auch im Irak-Krieg 1990 und 2003. Bei der Explosion von uranhaltiger Munition werden giftige und radioaktive Substanzen freigesetzt, die vom Menschen eingeatmet werden können und schwere Gesundheitsschädigungen nach sich ziehen. Der strahlende Staub legt sich auf den Boden und verseucht in einem ungeheuren Ausmaß Ackerflächen, Gebäude und vieles andere mehr. Eine klassische Entseuchung kann durch das Abtragen von Bodenflächen sein, aber der technische und wirtschaftliche Aufwand ist unglaublich hoch und fast nicht zu stemmen. Bisher ist dies nicht gemacht worden. Man überlässt die Bewohner den Gefahren, die von Genschädigungen über Missbildungen an Neugeborenen bis hin zu schweren Krebserkrankungen führen können. Das Thema ist hinreichend bekannt, technische Möglichkeiten verseuchte Gebiete zu reinigen gibt es, aber es ist finanziell nicht abzubilden. Deshalb wird meist nichts gemacht, da der Einsatz von uranhaltiger Munition kriegsvölkerrechtlich erlaubt ist. Die Uranmunition kann entsorgt werden, wenn diese nicht verschossen ist, was ungeheuer kostenaufwendig ist und eine Menge an strahlendem Müll produziert. Der muss eingelagert werden. Die Lagerstätten dafür sind aber meist nicht vorhanden.

DWN: Wird Uranmunition noch heute nachweislich eingesetzt?

Thomas Meuter: In den USA, Russland, Großbritannien und anderen Länder wird heute uranhaltige Munition eingesetzt. Meist im Mittel- und Großkaliberbereich. Der Grund dafür ist der, dass diese panzerbrechende Munition hohe Leistungen beim Beschuss von gepanzerten Zielen erbringt. Zudem ist diese billiger herzustellen als panzerbrechende Munition, die aus Wolframschwermetall hergestellt ist. Der Aufwand dafür ist weitaus höher und der Preis ist dafür auch größer. Die Folgen des Einsatzes von uranhaltiger Munition auf Menschen und Umwelt ist hinreichend bekannt. In der Ukraine wird derzeit von beiden Seiten uranhaltige Munition eingesetzt und dies jeden Tag. Die verseuchten Flächen sind genauso betroffen sein wie viele Soldaten, die Uranstaub eingeatmet haben dürften. Erst in den kommenden Jahren werden diese Folgen zu sehen sein.

Info zur Person: Thomas Alexander Meuter (61) ist seit rund 35 Jahren wehrtechnischer Journalist und beschäftigt sich mit militärischen Fragen und Ausrüstungen von Streitkräften. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf der weltweiten Luftwaffen- und Heeresrüstung und militärische Analysen von Konflikten und Technologien, die dort zum Einsatz kommen. Das Thema Altmunition, Landminen und militärische Altlasten bearbeitet er redaktionell. Er ist erfolgreicher Fachbuchautor und Chefredakteur des Verlags MD&Partner in Meckenheim bei Bonn. Seit vielen Jahren beschäftigt sich Thomas Meuter mit dem Aufspüren und der Entsorgung von Altmunitionen in vom Krieg betroffenen Ländern.


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