Panorama

Können Tierversuche durch neue Technologien ersetzt werden?

Mehr als eine Million Mäuse, Fische, Kaninchen oder auch Affen werden jedes Jahr in Versuchen eingesetzt. Ob es um Medikamente gegen Brustkrebs geht, um jährlich millionenfach verwendete Narkosemittel oder um Impfstoffe gegen Corona: Sie alle wurden mithilfe von Tierversuchen entwickelt. Doch die biomedizinische Forschung ohne Tiere entwickelt sich weiter, neue Hightech-Methoden kommen hinzu – was Forderungen lauter werden lässt, auf Tierversuche zu verzichten.
26.04.2025 13:53
Lesezeit: 5 min
Können Tierversuche durch neue Technologien ersetzt werden?
Zwei Rhesus-Affen, einer davon mit Implantat, aufgenommen am 10.03.2016 in der Tierhaltung im Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen (Baden-Württemberg, Aufnahme durch eine Glasscheibe). Das Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen hat seine Versuche an Affen nach anhaltender Kritik von Tierschützern inzwischen komplett eingestellt. (Foto: dpa) Foto: Marijan Murat

Warum Tierversuche überhaupt durchgeführt werden

"Forschung arbeitet zwangsläufig mit Modellen, so auch die biomedizinische Forschung", erläutert Stefan Hippenstiel, Professor für Infektiologie und Pneumologie an der Charité in Berlin. In der Humanmedizin könne man bestimmte Dinge aus ethischen und praktischen Gründen nicht untersuchen – und greife daher zum Tiermodell.

Roman Stilling von der Initiative "Tierversuche verstehen" ergänzt, dass es zwar Alternativen gebe wie Computer-Simulationen und 3D-Zellkulturen. Aber wenn es um das Zusammenspiel im Körper gehe, etwa die Erforschung von Nervensystem oder Immunsystem, dann stießen diese an Grenzen. "Diese Prozesse sind zum Großteil noch unverstanden, das muss man leider sagen." Deshalb seien dafür Tierversuche erforderlich.

Gaby Neumann vom Verein "Ärzte ohne Tierversuche" hält dagegen: "Tierversuche sind eine sehr veraltete Methode." Die Forschung tue sich schwer mit neuen Verfahren, weil Tierversuche eine lange Tradition hätten und junge Forschende kaum in tierversuchsfreien Methoden geschult würden.

Einsatzbereiche von Versuchstieren

Die meisten Tiere werden in der Grundlagen- und angewandten Forschung eingesetzt, andere bei der Qualitätskontrolle und Giftigkeitsprüfung. Das geht aus dem "Kompass Tierversuche" hervor. So wurden etwa Sicherheit und Wirksamkeit der ersten mRNA-Impfstoffe in Europa gegen das Coronavirus an Tieren getestet.

Die Zahl der eingesetzten Tiere in Deutschland sinkt laut dem Bundesinstitut für Risikobewertung seit einigen Jahren. 2023 waren es rund 2,13 Millionen Wirbeltiere und Kopffüßer. Mit großem Abstand waren es am häufigsten Mäuse (circa 1,64 Millionen), aber auch Zebrafische (142.000), Kaninchen (68.000), Haushühner (14.000) und Schweine (11.000).

Die Rolle von Affen in der Forschung

Auch Affen kommen zum Einsatz, allerdings deutlich seltener. Vor allem handelte es sich zuletzt um Javaneraffen (1.479), Marmosetten und Tamarine (159) sowie Rhesusaffen (87). Häufigster Grund für den Einsatz ist, neue Arzneimittelkandidaten zu testen, bevor sie erstmals am Menschen erprobt werden. Dabei geht es insbesondere um Nebenwirkungen bei wiederholter Gabe sowie um mögliche Schäden bei der Entwicklung eines Embryos im Mutterleib.

Menschenaffen – also Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans – werden in der Europäischen Union nicht für Tierversuche gezüchtet oder gehalten. Laut Stilling dürften entsprechende Versuche weltweit eingestellt worden sein.

Wie realistisch ist ein kompletter Ausstieg?

Die EU hat im Jahr 2010 das Ziel formuliert, Tierversuche schrittweise und letztlich vollständig zu ersetzen. Einen konkreten Ausstiegsplan gibt es jedoch nicht. Viele Forschende und Institutionen argumentieren, Tierversuche sollten erst dann durch tierversuchsfreie Methoden ersetzt werden, wenn dies wissenschaftlich machbar ist.

In einem aktuellen Schritt werden etwa bestimmte Medikamententests, die sogenannten Kaninchen-Pyrogentests, zum ersten Juli vollständig durch tierfreie Verfahren ersetzt. Kaninchen wurden bislang eingesetzt, um zu prüfen, ob Arzneimittel mit fieberauslösenden Substanzen verunreinigt sind.

Die Europäische Bürgerinitiative (EBI), die mehr als 1,2 Millionen Unterschriften sammelte, forderte unter anderem einen Masterplan mit konkreten Zielvorgaben zum Ausstieg. Die EU-Kommission antwortete, sie habe in den vergangenen zwanzig Jahren über eine Milliarde Euro in die Entwicklung, Validierung und Einführung alternativer Methoden investiert.

Folgen eines nationalen Verbots

Die zuständige Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erklärte 2022 in einem Thesenpapier: "Ein grundsätzliches Verbot von Tierversuchen bewirkt nicht gleichzeitig das Ende der Notwendigkeit von Tierversuchen."

Dann wären Forschende in Deutschland auf biomedizinische Forschung im Ausland angewiesen. Dort hätte man keinen Einfluss auf die Haltungsbedingungen der Tiere.

Wie Versuchstiere leben

Mäuse etwa leben meist in einer Box mit Einstreu. Dazu erhalten sie ein Papierpaket mit Holzwolle und anderen Materialien, um ein Nest zu bauen, ebenso eine Rolle und Spielmaterial. Kaninchen bekommen die Möglichkeit, zu hüpfen.

Die Bedingungen seien etwa bei Schweinen und Schafen in der Forschung besser als in der konventionellen Landwirtschaft, sagt Stilling von "Tierversuche verstehen". "Da wird sehr genau auf Hygiene und Fütterung geachtet." Neumann von "Ärzte ohne Tierversuche", selbst Tierärztin, ergänzt, dass es zwar stark um Hygiene und Praktikabilität gehe, aber die Haltungsbedingungen nicht artgerecht seien.

Forscher Hippenstiel sagt: "Niemand hat so ein hohes Interesse daran, dass es den Tieren gutgeht, wie die Forschenden, die die Tierversuche durchführen." Denn sie seien auf eine gute Haltung angewiesen, um keine verfälschten Ergebnisse zu erhalten. Hippenstiel ist auch Sprecher von Charité 3R, dessen Ziel es ist, das 3R-Prinzip – also Tierversuche ersetzen (Replace), die Zahl der Tiere verringern (Reduce) oder Belastungen mindern (Refine) – in Forschung und Lehre an der Charité zu verankern.

Wo Tierversuche bereits verboten sind

Für die Entwicklung von Kosmetika und Waschmitteln dürfen keine Tiere verwendet werden. "Die Leitidee ist: Wir wollen kein Tierleid für Luxus", sagt Stilling. Allerdings können im Rahmen des Arbeitsschutzes Tierversuche angeordnet werden.

Auch ist es nicht erlaubt, Tiere für die Herstellung und Erprobung von Waffen und Munition einzusetzen. Gleiches gilt für Tabakerzeugnisse. Doch um Gefahren dieser Produkte zu erforschen, fänden laut Neumann noch Tierversuche statt. So müssten Tiere bei Rauchversuchen stundenlang Zigarettenrauch einatmen.

Was mit den Tieren nach den Versuchen geschieht

Die meisten Tiere werden nach den Versuchen getötet, um ihre Organe zu entnehmen und zu analysieren. In der Regel werden ihre Körper danach verbrannt. Mäuse dürfen nur dann als Futter etwa für Raubvögel an Zoos oder Tierparks abgegeben werden, wenn sie nicht gentechnisch verändert wurden – was auf die Mehrheit nicht zutrifft. Die EU-Gentechnik-Verordnungen verbieten dann eine Verfütterung.

"Tiere wie Katzen, Hunde, Affen werden häufiger mehrfach für verschiedene Tierversuche eingesetzt. Ein Affe kann mehrere Jahrzehnte genutzt werden", erklärt Tierärztin Neumann. "Nur in wenigen Ausnahmefällen werden Tiere aus dem Labor vermittelt."

Neumann weist auch auf sogenannte Überschusstiere hin, die zum Beispiel nicht die gewünschte Genveränderung besitzen. Diese Tiere werden gezüchtet, können aber nicht verwendet werden. 2023 waren das 1,38 Millionen Tiere. Diese würden laut Neumann direkt getötet.

Warum vor allem Mäuse verwendet werden

Das hat vor allem praktische Gründe. Ihre Haltung ist weniger aufwendig als die von Großtieren – sie sind kostengünstig und gut handhabbar. Zudem vermehren sie sich sehr schnell.

Hinzu kommt der Gewöhnungseffekt: Da schon so lange an Mäusen geforscht wird, verfügen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über viele Daten und molekulare Werkzeuge. Und nicht zuletzt: Man entdeckte früh, wie sich Mäuse genetisch manipulieren lassen.

Übertragbarkeit auf den Menschen

Viele Funktionen seien bei Mäusen sehr ähnlich, sagt Stilling. "Eine Maus ist auch ein Säugetier und hat größtenteils die gleichen Organe wie ein Mensch." Unter dem Mikroskop lasse sich eine Maus-Nervenzelle nicht von einer menschlichen unterscheiden.

"Trotzdem sind Menschen keine siebzig Kilogramm schweren Mäuse", sagt er. Sie unterschieden sich nicht nur in der Größe, sondern auch im Stoffwechsel. "Das ist den Forschenden durchaus bewusst." Das Mausmodell sei ein Abbild – daher nie hundertprozentig exakt. "Das gilt für alle Modelle – nicht nur für Tierversuche. Deswegen kombiniert man verschiedene Methoden."

Wo Alternativen stehen und was sie leisten können

Tierversuchsfreie Methoden gewinnen an Bedeutung, darunter Organchips, Zellkulturen und computergestützte Modelle. "Zum Beispiel verwenden wir eine Alternativmethode aus künstlichen menschlichen Herzmuskelzellen", sagt Charité-Forscher Hippenstiel. "Damit kann man untersuchen, wie sich Medikamente auf Herzmuskelzellen auswirken. Aber die Methode ist völlig ungeeignet, um zu zeigen, wie sich eine mitwachsende Herzklappe verhält." Dazu sei ein Großtier nötig, das leben und wachsen müsse.

Zudem werden zunehmend Mini-Organe gezüchtet, an der Charité etwa Mini-Lungen. "Die sind noch nicht perfekt, sie haben keinen Blutkreislauf, atmen nicht, bewegen sich nicht, dort können keine Zellen aus anderen Organen einwandern", sagt er. Als Modell seien sie für bestimmte Zwecke geeignet – und für andere eben nicht.

Neumann von "Ärzte gegen Tierversuche" meint hingegen: "Das Potenzial dieser modernen Methoden ist enorm. Und der entscheidende Vorteil zum Tierversuch ist, dass sie auf menschlichen Daten und Zellen basieren. Also für den Menschen relevante Ergebnisse liefern."

Einig sind sich Ärzte und Forschende darin, dass 3D-Humanmodelle und Stammzelltechnologien immer wichtiger werden. In solche technischen Entwicklungen sollte deutlich mehr investiert werden, fordern sowohl Hippenstiel als auch Neumann. Derzeit werde zu wenig Geld bereitgestellt, um den Fortschritt zu beschleunigen.

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