Soziale Brennpunkte: Wohnquartiere zunehmend überfordert
Der gesellschaftliche Zusammenhalt hat in den vergangenen Jahren erhebliche Risse bekommen: Die zunehmende Fragmentierung in der Gesellschaft ist für 3.000 Wohnungsunternehmen mit etwa 6 Millionen Mietwohnungen im Bestand direkt in den Wohnquartieren spürbar.
Eine neue Studie von GdW und InWIS warnt vor sozialen Kipppunkten in vielen Quartieren – und fordert eine bessere politische Steuerung, denn immer mehr Wohnquartiere in Deutschland stehen unter massivem sozialem Druck.
Studie: Immer mehr Wohnquartiere unter sozialem Druck
In bestimmten Stadtteilen bündeln sich gesellschaftliche Herausforderungen wie Armut, Migration, Wohnungsmangel, Überalterung und Einsamkeit – mit zunehmend dramatischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Das sind Ergebnisse der Studie „Überforderte Quartiere. Engagement – Auswege – Lösungen“, die das Institut für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung (Inwis) für den Spitzenverband der Wohnungswirtschaft GdW erstellt hat.
Überforderte Quartiere: Wohnungswirtschaft alleingelassen?
227 Stadtteile in Deutschland werden der Studie zufolge aktuell im Programm „Sozialer Zusammenhalt“ gefördert – mindestens 345 weitere zeigen demnach ebenso kritische soziale Indikatoren, erhalten aber keine Förderung.
Gerade in den sogenannten Großwohnsiedlungen leben überdurchschnittlich viele Empfänger staatlicher Transferleistungen: Das führe zu einer Schrumpfung des Einzelhandelsangebots, zur Bildungssegregation und einem „Milieu der Ärmlichkeit“.
Soziale Probleme: Kommunen strukturell überfordert
Auch die Altersstruktur vieler Stadtquartiere hat sich in den vergangenen Jahren verändert: Der Anteil der über 65-Jährigen liegt in manchen Vierteln bereits bei mehr als 30 Prozent, Tendenz steigend.
„Unsere Analyse zeigt, dass wir es nicht mehr nur mit überforderten Nachbarschaften, sondern mit ganzen überforderten Quartieren zu tun haben“, erklärt Studienautor Prof. Dr. Torsten Bölting, Geschäftsführer des Inwis.
Diese Quartiere seien geprägt von einer Kumulation sozialer Probleme. „Die Wohnungswirtschaft allein kann diese Probleme nicht lösen, obwohl sie vielerorts zentrale Integrationsarbeit leistet. Politik und Gesellschaft müssen jetzt strukturelle Antworten liefern – nicht irgendwann, sondern sofort.“
GdW: Förderung „Whatever it takes“
Wie aus der Studie hervorgeht, sind auch viele Kommunen strukturell überfordert. Es fehlen nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch personelle Ressourcen und Kompetenzen, um die komplexen Herausforderungen in den Quartieren aktiv zu managen. Klassische Förderprogramme reichen nicht aus, um der Lage Herr zu werden; es sind integrierte, langfristige Lösungen nötig.
„Unsere Wohnungsunternehmen sind mit rund sechs Millionen Wohnungen so etwas wie seismographische Frühwarnsysteme. Was sie heute melden, ist beunruhigend: Die Spannungen in den Quartieren nehmen zu, die Bereitschaft zur Integration nimmt ab“, kommentiert GdW-Präsident Axel Gedaschko die Ergebnisse und fordert ein Umdenken.
„Wir brauchen pragmatische Lösungen – nach dem Motto: 'Whatever it takes'“, so Gedaschko. Außerdem eine zentrale Kompetenzstelle „Zusammenleben im Quartier“ auf Bundesebene, mehr finanzielle und personelle Ressourcen für die Quartiersarbeit vor Ort und vereinfachte und flexiblere Förderrichtlinien.
Mögliche Lösungen: Wohnungsunternehmen spielen zentrale Rolle
Die Studie unterstreicht laut GdW, dass Wohnungsunternehmen durch die Nähe zu den Mietern eine zentrale Rolle spielen könnten, würden sie nur besser in die politische Steuerung und Förderung eingebunden – und würden die Quartiersarbeit, das Engagement für altersgerechtes Wohnen und die Rolle als „Kümmerer vor Ort“ systematisch unterstützt und gefördert.
Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse sei seit der Grundgesetzreform 1994 in Artikel 72 festgeschrieben. Bund, Länder und Kommunen hätte also einen klaren Auftrag, auch wenn es um die Entwicklung der urbanen Wohnquartiere gehe.
In der Studie werden Handlungsempfehlungen formuliert:
- Das isolierte Nebeneinander staatlicher Zuständigkeiten muss abgebaut werden. Dazu sollten alle relevanten Akteure an einen Tisch gebracht werden – von Kommunen und Wohnungswirtschaft bis hin zu Pflegekassen, Wohlfahrtsverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen.
- Es braucht neue Finanzierungsmodelle für die Daseinsvorsorge, eine systematische Evaluierung bestehender Sozialleistungen sowie regulär verfügbare, kooperative Fördermodelle vor Ort. Ziel ist es, aus überforderten Quartieren wieder stabile Nachbarschaften zu entwickeln, in denen funktionierende Infrastrukturen, Vertrauen und soziale Teilhabe den Zusammenhalt stärken.
Fazit: Sozialer Frieden in Gefahr, wenn die Politik nicht gegensteuert
In Deutschland haben sich in immer mehr Wohnquartieren der Wohnungsunternehmen in den vergangenen zehn Jahren die sozialen Konflikte verschärft. Es mangelt vermehrt an Toleranz unter den Mietern. Gegenüber Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit wächst die Gleichgültigkeit. Zugenommen haben zudem Altersarmut und Isolation.
Der gesellschaftliche Zusammenhalt hat in den letzten Jahren erhebliche Risse bekommen. Wenn der Staat sich weiter aus den Problemen heraushält oder gar zurückzieht und die Steuergeld anderweitig ausgibt, anstatt Hilfsangebote in Brennpunkt-Wohnquartieren zu finanzieren, wird der soziale Frieden und der Zusammenhalt der Gesellschaft in Deutschland weiter schwinden.