Eine gemeinsame Diagnose: Europa steuert auf eine Sicherheitskrise zu
Wie zwei Chefärzte am Sterbebett eines Patienten sind Präsident Putin und Präsident Trump sich in der Diagnose einig: Europa stehe vor einer Auslöschung der Zivilisation. Die Worte stammen aus den USA, doch im Kreml herrscht vollständige Zustimmung. Eine amerikanisch russische Einigkeit über Europas Verfall müsste eigentlich eine beinahe panikartige Reaktion in den europäischen Hauptstädten auslösen.
Die Ausgangslage ist unangenehm. In der vergangenen Woche drohte Präsident Putin Europa ausdrücklich mit Krieg. Wenige Tage später veröffentlichten die USA ein neues Strategiepapier, das klar signalisiert, dass Amerika nicht länger als Garant für die Sicherheit Europas auftreten will. Die Botschaft ist eindeutig. Sicherheit und damit militärische Aufrüstung seien Angelegenheiten der Europäer selbst. Im Kreml sagt Sprecher Dmitri Peskow in einem Fernsehinterview über das neue amerikanische Papier, dass die Anpassungen in vieler Hinsicht der russischen Vision und Denkweise entsprächen. Peskow betont seine Zufriedenheit darüber, dass die Trump Regierung eine Stabilisierung der Beziehungen zwischen Russland und den USA anstrebe. Er begrüßt, dass die Trump Administration Dialog und den Aufbau guter Beziehungen bevorzuge.
Europa steht damit zwischen zwei Atommächten. Auf der einen Seite eine regionale Supermacht als direkter Nachbar von sechs NATO-Staaten, die über reichlich Atomwaffen verfügt. Sollte die Ukraine überrannt werden, rückt Russland noch näher. Auf der anderen Seite die USA, Europas Sicherheitsgarant während der gesamten Existenz der NATO. Unter Präsident Trump werden sie diese Rolle jedoch nicht mehr ausfüllen.
Trotzdem bleiben die Reaktionen in Europa zurückhaltend. Kaja Kallas, die EU-Chefdiplomatin und außenpolitische Leiterin, sagte am Wochenende, dass die USA weiterhin der wichtigste Verbündete seien. Die Regierungschefs der großen europäischen Länder Deutschland, Frankreich und Großbritannien konzentrieren sich vor allem auf das Treffen in London mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Man versucht, eine gemeinsame Antwort auf den Friedensplan für die Ukraine zu finden, der zu diesem Zeitpunkt weitgehend eine gemeinsame Einschätzung zwischen den USA und Russland darstellt.
Die ausgebliebenen Reaktionen in Europa hängen vermutlich damit zusammen, dass man nach knapp elf Monaten mit Donald Trump gelernt hat, dass nicht jede Äußerung aus dem Oval Office sofort Alarm auslösen muss. Das Klügste sei es, wie Besuche verschiedener Regierungschefs im Weißen Haus gezeigt haben, Trumps leicht entzündliche Eitelkeit anzusprechen. Lob für den Präsidenten kann die Stimmung schnell drehen. Mehr Lob wirkt noch besser. Das darf jedoch nicht bedeuten, dass Europa die Botschaft des 33 Seiten langen Dokuments ignoriert, das sich damit beschäftigt, ob Europa weiterhin Europa bleibt. Das ist so gemeint, dass die Warnung vor einer Auslöschung der Zivilisation auf die Aussicht einer Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung in Europa abzielt. Präziser formuliert: Die Trump Regierung befürchtet offen, dass Europa von Nicht-Europäern übernommen werde.
Das strategische Weltbild der Trump-Regierung
Die Formulierungen ähneln stark der aufsehenerregenden Rede von Vizepräsident J. D. Vance auf der Sicherheitskonferenz in München zu Beginn des Jahres. Sie drücken Sorge aus über EU-Aktivitäten, die politische Freiheit und Souveränität untergraben würden, über Migrationspolitiken, die den Kontinent veränderten, über Zensur der Meinungsfreiheit und Unterdrückung politischer Opposition sowie über Verlust nationaler Identitäten. Noch deutlicher heißt es, dass bei Fortsetzung der aktuellen Trends die Mehrheiten in mehreren europäischen Ländern nicht europäisch würden. Dann wäre der Kontinent in zwanzig Jahren oder früher nicht wiederzuerkennen.
Das hat jedoch keine faktische Grundlage. Prognosen von Eurostat und UN World Population Prospects zeigen nicht, dass sich selbst in Ländern mit relativ hoher Einwanderung wie Schweden, Deutschland, Großbritannien und Frankreich die Bevölkerungsstruktur in den kommenden zwanzig Jahren radikal verändern wird. Die einzige durchgängige Tendenz ist ein Rückgang der Bevölkerungszahlen.
Die amerikanische Botschaft, dass Europa die Hauptverantwortung für seine eigene Verteidigung übernehmen müsse, ist nicht neu. Europa ist dabei, doch es geht langsam. Zu langsam nach Ansicht vieler Experten, die auf die Geschwindigkeit verweisen, mit der Russland eine Kriegswirtschaft aufgebaut hat. In einer demokratischen EU mit regelgebundenen Entscheidungsprozessen sind grundlegende Veränderungen notorisch langsam. In Deutschland beschloss man vor dem Wochenende, dass die Zahl der Soldaten bis 2035 um 50 Prozent auf 260.000 steigen soll. Es gibt jedoch (noch) keine echte Wehrpflicht. Die 18-Jährigen müssen lediglich einen Gesundheitsbogen ausfüllen, der zur Einschätzung dienen soll, ob sie gute Soldaten werden könnten.
Europas Sicherheitskrise spitzt sich zu
Auch ohne Wehrpflicht sei dies laut Verteidigungsminister Boris Pistorius ein bedeutender Wandel in Deutschland. Er sagte zu Journalisten in Berlin, dass dies eine der größten gesellschaftlichen Veränderungen im Bereich Sicherheit und Verteidigung seit vielen Jahren sei. Dies betreffe eine ganze Generation sowie zukünftige Generationen, die sich mit diesen Fragen bisher nicht befassen mussten, weil die Bedrohung nicht existierte, so das dänische Portal Borsen.
Die Bedrohungen werden jedoch schnell realer. Aus den USA kommen subtilere Signale, da im neuen Sicherheitsdokument der Trump Regierung steht, dass sich die USA mit patriotischen europäischen Parteien verbünden sollen. Dies ist ein bekanntes Codewort für rechtsextreme Bewegungen in Europa. Aus Russland kommen offenere Signale. Das Land rüstet militärisch auf, um die europäische NATO-Flanke herauszufordern. Ideologisch arbeitet es mit denselben rechtsgerichteten Kräften zusammen wie die USA. Timothy D. Snyder, renommierter Geschichtsprofessor an der Yale University, sagt der New York Times über das neue amerikanische Strategiepapier, dass dessen Sprache der des russischen nationalen Sicherheitsdokuments auffallend ähnlich sei. Er betont, dass es an reine russische Propaganda erinnere. Das amerikanische Sicherheitsdokument orientiere sich nun in fundamentaler ideologischer Hinsicht an den russischen Positionen.
Putin und Trump scheinen sich erschreckend einig darüber zu sein, wer über Europas Schicksal entscheiden soll. Für Deutschland hat diese Konvergenz zwischen Washington und Moskau tiefgreifende Folgen. Die Bundesrepublik ist wirtschaftlicher Kern der EU und sicherheitspolitisch stark auf das transatlantische Bündnis angewiesen. Eine Erosion der amerikanischen Schutzgarantie zwingt Berlin zu einer beschleunigten militärischen Aufrüstung. Die deutsche Innenpolitik wird zugleich stärker von Debatten über Migration, Identität und strategische Autonomie geprägt. Europas Sicherheitskrise wird damit zu einer zentralen Herausforderung für Deutschland.
Europa befindet sich in einer gefährlichen Phase geopolitischer Verschiebungen. Die strategische Annäherung zwischen Russland und den USA unter Präsident Trump stellt die Grundpfeiler europäischer Sicherheit infrage. Die EU reagiert zu zögerlich. Gleichzeitig wächst die Bedrohung von außen und innen. Die Zukunft Europas hängt davon ab, ob der Kontinent bereit ist, seine sicherheitspolitische und politische Selbstständigkeit zu stärken.

