Politik

Deutschland verliert den Osten und damit eine große Chance

Lesezeit: 13 min
07.01.2018 00:43
Der lange Schatten verfehlter Orientierungen macht Ostdeutschland zu einer wachsenden Bürde für die weitere Entwicklung Deutschlands. Eigentlich wären jedoch die Menschen im Osten Garanten des Wachstums.

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Ein Jahr der Phrasendrescherei liegt hinter uns und vor uns wohl eins oder einige, in dem die Potemkinschen Dörfer wieder abgebaut werden oder in sich zusammenfallen, so dass die nackte Wahrheit ausgebreitet erkennbar wird. Bevor sie vor den nächsten Wahlen wieder aus der Magazinen herausgeholt und in oftmals praktizierter Weise genutzt werden. Der idealistische Glaube an die Intelligenz und das Gute im Menschen wird zunehmend mit den harten Erfahrungen der Wirklichkeit konfrontiert, der es immer unwahrscheinlicher erscheinen lässt, dass die Bereitschaft zur Veränderung rechtzeitig vor dem Erreichen des Abgrunds ausreichend Kraft gewinnt.

Der Aufwand, der in die Vorbereitung der Bundestagswahl investiert wurde, war erheblich. Die wesentliche Aufgabe bestand wohl darin, den Wähler von den Themen abzulenken, die ihn immer mehr bewegen, für die man aber keine Antworten geben kann oder geben will: Die sich abzeichnenden Entwicklungen am Arbeitsmarkt, Altersarmut, die Folgen der Niedrigzinspolitik, die zunehmende soziale Ungleichheit in der Gesellschaft wie auch die vorherrschende Orientierungslosigkeit. Die Wahrnehmung, dass beim Kanzlerduell mehr als eine ¾ Stunde nur das Flüchtlingsthema und vieles gar nicht diskutiert wurde, muss zu einem tieferen Nachdenken darüber führen, ob das nicht vielleicht Methode war. Für die nicht den Sendern die Verantwortung zugeschoben werden kann.

Hinter dem Flüchtlingsthema trat fast alles zurück, obwohl durch den Einsatz der Russen in Syrien- wie würde Deutschland heute dastehen, wenn das nicht passiert wäre-, und Maßnahmen in Nordafrika der Zustrom von Flüchtlingen massiv zurückgegangen ist. Der Volksseele überlässt man diesmal anstelle der Juden die Flüchtlinge und im Theater wird die Obergrenze gespielt. Die wahrgenommene Empörung über die Entwicklung im Osten wird auf die Flüchtlinge kanalisiert und weggezogen von einer möglichen Empörung, die sich gegen die Eliten richten kann. Das kann eine Weile gutgehen. Doch wenn man sich den eigentlichen Problemen nicht zuwendet, kann es richtig schiefgehen.

Als dann auch Deutschland zur Zielscheibe von nicht verhinderten Anschlägen wurde, konnten bei derartig geschürten Ängsten auch die Wahlforscher des Deutschlandtrends im Januar vermelden, dass hinsichtlich der Frage, worum sich die Bundesregierung 2017 kümmern sollte, 41 Prozent dafür die Flüchtlingspolitik und die innere Sicherheit hielten, 7 Prozent die soziale Gerechtigkeit, 4 Prozent die Bildung, 4 Prozent die Arbeitslosigkeit und 3 Prozent das Kümmern um die eigene Bevölkerung. Der Anteil von 19 Prozent für Sonstiges deutete an, dass selbst ein großer Teil der befragten Bürger noch Themen kennt, hinsichtlich derer sie die Wahlforscher wohl nicht befragen wollten. Ausgestattet damit, konnten die Politiker den umnebelten Bürgern die wirklich wichtigen Themen rauf und runter durchdeklinieren.

Das Ergebnis dieser Bemühungen ist bekannt. Die AfD holte aus dem Stand 12,6 Prozent. In Sachsen wurde sie mit 27 Prozent stärkste Partei vor der CDU, in Sachsen-Anhalt bestätigte sie mit 19,6 Prozent, dass das Ergebnis der Landtagswahlen mit 24,3 Prozent keine Eintagsfliege war und im Durchschnitt der ostdeutschen Bundesländern waren es 21,5 Prozent. Die Reflexe darauf glichen den üblichen Ritualen. Jede Partei wusste die Wahlergebnisse in der Öffentlichkeit schönzureden. Allenfalls gab es noch die Ergänzung: Wir haben verstanden. Hinter den Kulissen aber lichteten sich die Reihen und wurde nach Verantwortlichkeiten gesucht, ohne für die eigene Verantwortung in der Lage zu sein, sie zu diskutieren.

Sie reichten von „Die Menschen wollen wissen, wie Deutschland seine Identität bewahrt.“ über „Je besser es vielen Menschen mit DDR-Biografie inzwischen gehe, desto größer sei bei vielen die Angst, wieder alles zu verlieren“ zu „Die Leute wollen, dass Deutschland Deutschland bleibt. Sie wollen keine Parallelgesellschaften und keinen Anstieg der Kriminalität.“ und „Wir haben Platz gelassen rechts von der Mitte. Viele unserer Anhänger haben uns nicht mehr für wählbar gehalten.“. Sie zeugten von aus fehlender analytischen Tiefe und fehlenden eigenen Konzepten erwachsender Ohnmacht. Daraus lässt sich auch erklären, warum man selbst die erklärten Absichten zum Umgang mit der AfD seit dem 18. Oktober vergessen zu haben scheint: Man spielt seitdem erst mal Koalitionsverhandlungen. Das macht viel mehr Spaß.

Doch auch da zeigt sich das Dilemma von Parteien: Wer von Berufs wegen statt aus Berufung wirkt, hat zunächst mal- menschlich durchaus legitim-, sein eigenes Fortkommen im Blick und- daraus dann abgeleitet-, den Nutzen für sein Klientel. Er folgt im Regelfall klaglos zentralen Vorgaben und stellt sie erst in Frage, wenn die Quantität der Erfahrungen, dass sie falsch sein könnten, eine neue Qualität erreicht, die das eigene Fortkommen gefährdet. Zwei Klientelen scheint eine Partei zu fehlen, die sie vertritt und sie werden eher abgefunden, als dass sie als ausschließliches Ziel allen Wirkens betrachtet werden: Das einfache Volk und Deutschland.

Dabei hätte 2017 ein Jahr werden können, in dem gerade auch Sachsen-Anhalt weit über Deutschland und über das Jahr hinaus Aufmerksamkeit auf sich hätte lenken können, da es etwas Besonderes zu bieten hatte: 500 Jahre Reformation. Wer meint, dem wäre so gewesen, irrt, denn es wurde fast ausschließlich nur touristisch ausgeschlachtet. Dabei könnte man in einem Land mit der zweitgrößten Arbeitslosenquote und der ebenfalls zweitgrößten Armutsgefährdung aller Bundesländer und dem Land, dass hinsichtlich seiner Bevölkerung bis 2035 am meisten schrumpfen wird, ein natürliches Interesse vermuten, über den Tag hinaus wirkende Konzepte zu finden, mit denen die Anwartschaft auf die roten Laternen verloren geht.

Mit seinem gedanklichen Konstrukt „Sachsen-Anhalt für Deutschland“ war der Verfasser bemüht, eine Initiative ins Leben zu rufen, „die in der Wirkung nach innen zielgerichtetes Handeln ermöglicht, Kräfte konzentriert, Initiativen weckt und dafür Freiräume schafft und in ihrer Wirkung nach außen den Blickwinkel auf Sachsen-Anhalt richtet und Äquivalente zu anderen Initiativen schafft.“ Als Aspekt dessen schrieb er- auch unter dem Eindruck der zurückliegenden Landtagswahlen, bei denen die etablierten Parteien verloren und die AfD aus dem Stand 24,3 Prozent erreichte-, am 01.12.2016 an den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Rainer Haseloff:

"Es ist nicht ausreichend, ein Land nur erfolgreich zu managen, sondern man muss ihm auch Orientierung geben, da der Erfolg dort in der Breite nicht wahrgenommen und auf den Stimmzetteln goutiert wird. Ich war vor ca. drei Wochen auf einer Innovationsveranstaltung im Bundeswirtschaftsministerium. Der Entwicklungsleiter eines größeren Unternehmens diskutierte die Notwendigkeit, die Mitarbeiter neben die Spur zu bringen. Müssen wir nicht alle mit Blick auf das nachlassende Interesse an Kirche und die Wahlergebnisse ein natürliches Interesse haben, neben die Spur zu kommen und neben die Spur zu führen? Ist nicht die heutige Kirche in ihrer evangelischen, aber auch katholischen, Weise Folge dessen, dass Luther neben die Spur gelangte und so zu seiner Innovation kam: Den Thesen als Quelle der Reformation? Ich habe schon mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass man Papst Franziskus als den lebenden Luther betrachten kann, der in seiner Weise bemüht ist, neben die Spur zu führen. Sollten wir das Licht in Rom nicht nach Sachsen-Anhalt bringen, damit wir nicht nur das Ursprungsland der Reformation sind, sondern das Land der Reformation werden?"

Wie wäre die Bundestagswahl- insbesondere im Osten-, ausgegangen, wenn Papst Franziskus Wittenberg besucht hätte und, selbst wenn nicht dieses, die Politik dem Volk vermittelt hätte: Wir haben verstanden- wir müssen und wir werden Deutschland reformieren. Voraussetzung wäre sicher die Eingebung bei den Kirchen gewesen, dass Wunden zu heilen wichtiger ist als das Abendmahl und bei der Politik, dass die Herzen der Menschen zu erreichen wichtiger ist als materielle Versprechungen, die man noch dazu oft nicht einhält.

Doch statt Orientierung zu geben, wurde dem Mammon gehuldigt und wäre Jesus unter uns, so hätte er wohl manchen Veranstaltungsort ausgekehrt. Nach einer ersten Übersicht lagen die Kosten der Lutherdekade bei 250 Millionen EUR, doch die Annahme, dass da mehr im Spiel war, dürfte nicht abwegig sein. Vollkommen unklar bleibt aber, in welcher Höhe die Einnahmen lagen und wie mit ihnen verfahren wurde. Wenngleich die ursprüngliche Bemühung, Kondome mit Luther-Sprüchen zu verkaufen, nicht so richtig aufging- wobei man sie immer noch kaufen kann: Die Landesbischöfin von Sachsen-Anhalt freut sich über 1 Million verkaufte Luther-Playmobil-Figuren und hat nichts gegen ein Luther-Bier, wenn es hilft, das Evangelium zu verkaufen. Darüber hinaus gibt es Luther-Socken, Luther-Pralinen, T-Shirts und vieles mehr. Ganz offensichtlich hat sich die Kirche ein Beispiel am Staat genommen: Wie dieser zunehmenden Spannungen in der Gesellschaft meint, mit verstärkten Sicherheitsanstrengungen begegnen zu müssen, tut das die Kirche, indem Sie wegen des immer größeren- und nach dem Lutherjahr wahrscheinlich noch verstärkenden-, Mitgliederschwunds noch ein bisschen Holz im Wald sammelt, damit es im aufkommenden Winter nicht zu kalt wird.

Wie kann es sein, dass ein Landstrich, der mit großem Enthusiasmus in das Projekt der deutschen Einheit eingestiegen ist, in großen Teilen ernüchtert ist, die Bundeskanzlerin mit Eiern bewirft und in erfahrener Weise das politische Wirken goutiert? Kann man dafür fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer noch das Leben in der DDR verantwortlich machen, wenn doch am Anfang davon so wenig zu spüren war? Reicht es aus, dafür die fehlende Erfahrung der DDR-Bürger mit Migration zu behaupten, was dann in besonderem Maß noch für die mal im sogenannten "Tal der Ahnungslosen" lebenden Sachsen gelten würde?

Es erscheint überfällig, ein anderes Bild zu malen, das analytisch tiefer geht, um dem Verstand eine Grundlage zu liefern, mit dem er zu belastbareren, nachhaltigeren Konzepten vordringt. Ein Bild, das abseits all der Bemühungen, aus unheilvollen Webfehlern der DDR und der friedlichen Revolution die Probleme im Osten zu erklären, den Versuch unternimmt, die Welt aus den Realitäten heraus nachvollziehbar zu machen und nicht aus kruden, beauftragt ersponnenen Theorien in ähnlicher Weise wie damals zu erklären, als es darum ging, dass sie nicht rund sein darf. Das Bild mag vielleicht etwas verstörend sein, aber es dient einem guten Zweck: Einen Beitrag zu leisten für die Zukunft unseres Vaterlandes.

Die Grundfarben dieses Bildes sehen so: Der Osten Deutschlands wurde vom Westen annektiert, vorhandene Wettbewerbskraft plattgemacht, mit westdeutschen Gedankengut gefüttert, als Markt und dann als Billiglohnland aufgebaut. Das Bild so zu malen, vernachlässigt bewusst viele feine Pinselstriche- die einem verklärten Blick auf die Lage durchaus zuträglich wären-, weil das Grobe es ermöglicht, vieles zu ignorieren, das bei dem Bemühen, analytisch zum Kern vorzudringen, nur stört. Diese Ausgangslage gibt den Blick darauf frei, dass der gelernte Ostbürger zwar nach dem Fall der Mauer in den Westen und sonst wohin reisen konnte, währenddessen aber seine Heimat verlor. Nicht nur ideell, sondern auch materiell.

Während die Ossis sich die Welt eroberten, kamen die Wessis in den Osten und eroberten ihn. Für die Ossis gab es statt Glasperlen die Freiheit- für die Wessis zwar keinen Kontinent, aber doch zumindest eine nicht geringe Ausdehnung in Richtung Osten. Nach Jahren einer kontinuierlichen Entwicklung, in der nun langsam auch dem Letzten klar wird, dass es mit der angewandten Methodik nie eine Angleichung der Lebensverhältnisse von Ost und West geben wird, entstehen Spannungen, die über die Eierwürfe auf die Kanzlerin, Pegida, die AfD und inzwischen auch die Wahlergebnisse das Licht der Öffentlichkeit finden, aber schon länger und in größerem Umfang gesellschaftsinhärent sind. Wenn sich die etablierten Parteien nun an unmittelbarem reiben, ohne das Ursächliche zu erkennen, transparent machen und sich ihm stellen, so zeugt das nicht nur von Unfähigkeit, sondern leistet der Dynamik dieser Entwicklung weiter Vorschub.

Der MDR hat sich 2016 damit beschäftigt und gefragt: „Wer beherrscht den Osten?“ Fast zweieinhalb Millionen Westdeutschen zogen seit 1990 in den Osten und der Anteil der Westdeutschen in Verwaltung, Justiz und Gewerkschaften beträgt zwischen 80 und 95 Prozent, 80 Prozent aller Hochschulen werden von Westdeutschen geleitet und 94 Prozent aller Vorsitzenden Richter stammen aus dem Westen. Ähnlich sieht es bei Bankern, Staatssekretären, in den Finanzämtern und beim Verfassungsschutz aus. Ostdeutsche sind in gesellschaftlichen Führungspositionen nicht adäquat repräsentiert und der Anteil von Frauen in Führungspositionen ist größer als der von Ostdeutschen. Derartiges beeinflusst natürlich jegliches Leben und Wirken.

Eines soll klar herausgestellt werden: Für jeden Einzelnen, der kam, war es eine Chance, die zu ergreifen ihm zugestanden werden muss und die damit verbundene Bereitschaft, sich zu verändern, muss schon deshalb gewürdigt werden, weil die fehlende individuelle Bereitschaft zur Veränderung heutzutage eines der größten Probleme für die gesellschaftliche Fortentwicklung ist. Für den Anspruch, die deutsche Einheit zu vollziehen, waren die damit verbundenen Implikationen aber eine Katastrophe.

Die, die kamen, brachten ihre Netzwerke, ihr Denken, ihre Kultur, ihr Verständnis von Gott und der Welt mit und meinten, den Osten in ihrem Sinn missionieren zu können. Was aber nur dem Anspruch geschuldet war, darüber erst die Macht und dann die Werte auf sich konzentrieren zu können. Wenn es den Ostdeutschen nicht wie den Indianern erging, so mag das allein daran gelegen haben, dass die menschliche Zivilisation inzwischen eine weitere Wegstrecke zurückgelegt hat. Nicht zuletzt war die Entwicklung des Ostens aber auch ein riesiges Konjunkturprogramm für den Westen.

Ganz offensichtlich treten mehr und mehr einige Webfehler hervor, die zunehmend das Potential haben, den Substanzwert Deutschlands zu schwächen. Wie Viele aus dem Westen in den Osten, gingen Viele ähnlicher Eignung mit sehr guter Qualifikation vom Osten in den Westen und erbringen einen nicht geringen Anteil an der westdeutschen Wirtschaftsleistung- wobei sie aber selten für Führungspositionen geeignet erscheinen.

Dafür fehlt aber der auf die Verwaltung des, als Billiglohnland attraktiven, Ostens getrimmten Führungselite ein über Artikulationen hinausgehender kultureller Anspruch, aber auch die analytisch-konzeptionelle Kraft, über Jahrzehnte inzwischen vergessene Bevölkerungsschichten an die gesellschaftliche Identität zu binden und die stillen Reserven im Humankapital des Ostens zu aktivieren. Das geschieht nicht zuletzt aus Sorge, der Status Quo der realen Macht- und Besitzverhältnisse könnte vielleicht gefährdet werden. Daher werden sich die speziellen Probleme im Zusammenhang mit den generellen Problemen unserer Zeit noch weiter verschärfen, zumal es schwierig werden dürfte, den Osten einfach wie einen toxischen Kredit in eine Bad Bank auszulagern.

Jegliche Bemühungen, mit freiem Geist zunehmend komplexere Lagen zu verstehen und sie mit komplexen Lösungsansätzen gestalten zu wollen, werden zunehmend mit der Durchsetzungskraft der Ignoranz und anderen Methoden bekämpft.

Dazu kommt etwas, was aus der Natur bekannt ist: Wenn der Stickstoffgehalt steigt, gedeiht das Leben, dass die Sonne scheut. Sachsen-Anhalt zeigt auf, wie es ist, wenn die Ressourcen knapp und die Verteilungskämpfe größer werden. Souveränes, selbstbestimmtes Handeln ist immer weniger erkennbar. Es wird immer mehr von Abhängigkeiten dominiert. Die Folge ist eine Verarmung individueller und gesellschaftlicher Breite und Tiefe.

Das ja schon nur beschränkt zur Verfügung stehende intellektuelle wie auch das moralisch-ethisch verfügbare Kapital wird nicht unwesentlich dadurch weiter aufgebraucht, dass es sich darauf einlässt und konzentriert, Teil von Communities zu sein, die dem Anspruch Weniger zu folgen haben. Als Beispiel mag eine Berateraffäre gelten, die in Sachsen-Anhalt nicht kleine Wellen schlägt, bei der durch den inzwischen abgetauchten Finanzminister von Sachsen-Anhalt, Jens Bullerjahn, ein Millionenvertrag am Landtag vorbei über den Chef der Investitionsbank Sachsen-Anhalt an den Chef des Instituts für Strukturpolitik und Wirtschaftsförderung in Halle geschleust wurde. Die mediale und politische Bemühung, dass als ein System Bullerjahn zu verkaufen, schlägt fehl, weil die entscheidende Frage damit nicht beantwortet werden kann: Cui bono? Im Altdeutschen würde man sagen, er war nur eine der langfristig über Jahre aufgebauten Marionetten zur Erreichung eines noch besseren Zugriffs auf die öffentlichen Mittel.

Wenn der Fall Weinstein inzwischen begonnen hat, auch von Deutschland Besitz zu ergreifen und immer mehr Frauen über ähnliche Fälle in Deutschland klagen, so muss konstatiert werden, dass das Leben noch sehr viel breiter ist. Vielfach geht es gar nicht um Sex. Derartige Mächte greifen sich bei den Frau die Körper und bei den Männern die Seele. Und die, die dafür aus irgendwelchen Gründen resistent sind- Freigeister, Querdenker-, werden ignoriert, belächelt, isoliert und bekämpft. Es wird Zeit, dass sich die Männer ein Vorbild an den Frauen nehmen.

Dieses alles zu beschreiben und zu erkennen ist wichtig, um eine Vorstellung von der Apokalypse zu bekommen, auf die unsere Gesellschaft zunehmend zusteuert. Und, woraus sie erwächst. Die etablierten Parteien wie auch die Medien schaffen es zunehmend nicht, für die Eliten den Laden zusammenzuhalten. Sie haben viel zu viel damit zu tun, deren lobbyistische Interessen durchzusetzen. Der Aufwand das zu leisten, wird immer größer, da ein Mehr nach immer mehr verlangt, dieses Mehr aber zu immer komplexeren und immer schwerer lösbaren Problemen führt.

„Dem deutschen Volk“ kann nicht mehr kaschieren, dass das Volk immer mehr nur Objekt und nicht Subjekt des Handelns ist. Die toxische Mischung aus fehlenden Leitbildern und Zukunftskonzepten, in der Tendenz zwangsläufigen Verwerfungen am Arbeitsmarkt und der fehlenden Bindung der Eliten an das öffentliche Wohl trägt in sich erheblich sicherheitspolitische Risiken und ist eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland.

Deutschland läuft Gefahr, sich an seiner ostdeutschen Provinz- und dazu kommen noch Europa, die übernommenen Verantwortungen und die Resistenz für neues Denken-, zu verschlucken. Es ist wie mit den Zähnen. Wenn ein kariöser Zahn unbehandelt bleibt und vielleicht noch eine Brücke übergeholfen bekommt, zerbröselt der Zahn langsam von innen. Hinsichtlich dessen dürfte Klarheit bestehen: Die Wahrscheinlichkeit, dass aus dem bestehenden Herangehen heraus Ostdeutschland wirtschaftlich noch einmal aufholt- auch, dass die EZB- Verpflichtungen substanziell sinken, Griechenland seine Kredite vollständig zurückzahlt oder Italien seine Banken in den Griff bekommt-, geht gegen Null und die Wahrscheinlichkeit, dass es noch schlimmer wird, steigt exponentiell.

Gelingt es nicht, dieser möglichen Entwicklung entgegenzutreten, versinken die Kinder und Kindeskinder im Morast dessen, wessen zuzuwenden sich die gegenwärtige Generation als unfähig erweist. Wenn in einem solchen Zustand weiter über Europa schwadroniert wird, ergeht es der Gesellschaft wie dem Zahn, dessen Zustand auf den Knochen übergeht. Insofern werden die Deutschen es sich überlegen müssen, ob ein „weiter so“ der Pfad ist, der Zukunft verheißt oder der in einer Sackgasse endet.

Dem immer schneller fließenden Strom des Geschehens ausgesetzt, fällt es zunehmend schwerer, zu erkennen, wie sich die Randbedingungen verändern. Dem Übergang von den bewaldeten Bergen ins flache Land gleich, nimmt man noch wahr, dass immer weniger mit den Händen und immer mehr mit dem Kopf geschaffen wird. Schwerer fällt es dann schon, festzustellen, dass der Sinn dessen, was man hört oder liest, nicht mehr verstanden wird, nicht mehr durchdrungen wird und nicht mehr als Ausgangspunkt für die eigene Leistung genutzt werden kann. Das aber frühzeitig zu erkennen, wäre wichtig, um im Strom nicht zu ertrinken. Denn eine andere Zeitenwende bahnt sich ebenfalls an.

Künstliche Intelligenz macht dem Menschen die Stelle als höchstentwickeltes Leben streitig. Die Fortschritte in der Genetik, der Informations- und Kommunikationstechnik, der Robotik und bei Industrie 4.0 sind dafür die Wegbereiter. Nach Meinung derer, die gegenwärtig viel Geld bekommen, um diese Fortschritte weiter auszubauen- man kann fast glücklich darüber sein, dass dabei nicht wenige sind, die eine hohe Kompetenz besitzen, Fördermittel auf sich zu konzentrieren, aber ansonsten eher inkompetent sind-, wird der damit massiv verbundene Arbeitsplatzabbau durch neue Arbeitsbereiche kompensiert. Doch die Stimmen mehren sich, dass die Menschheit sich einer neuen Phase ihrer Entwicklung nähert, die der Gesellschaft vollkommen neue Anforderungen abverlangt und Deutschland wird auf Grund der hohen Lohnkosten von dieser Entwicklung besonders betroffen sein. Nach einer aktuellen Studie des McKinsey Global Institute werden in Deutschland 2030 bis zu 12 Millionen Deutsche einen neuen Job suchen. Diese Entwicklung hat eine ähnliche Qualität wie der Übergang zum aufrechten Gang. Allerdings mit umgekehrten Vorzeichen.

Die Fähigkeit jedes Menschen, im Rahmen seiner Kernkompetenz weiter kontinuierlich Leistung erbringen zu können, sinkt ebenso und noch dazu exponentiell wie die, Sachverhalte zu verstehen, zu bewerten und einzuordnen. Das gilt für alle Intelligenzniveaus und alle gesellschaftlichen Schichten. Gründe dafür sind nicht nur in den vielfältigen gesellschaftlichen Entwicklungen zu finden, sondern liegen insbesondere auch an der fehlenden Bereitschaft zur Auseinandersetzung und der fehlenden Anerkenntnis der eigenen Beschränktheit, die wiederum eine wesentliche Voraussetzung wäre, um den Willen zu entwickeln, sich aus der bestehenden Verfasstheit heraus zu entwickeln. Diese Entwicklung erfasst zunächst primär die westliche Welt, weil sie als Erste die Grenzen dessen auslotet, zu dem Menschen in der Lage sind.

Daher wird das Heer der Abgehängten schon in den nächsten 10 Jahren weiter massiv wachsen. Dafür benötigt man Antworten. Die immer mehr ausufernden Sicherheitsanstrengungen, deren eigentliches strategisches Ziel eine Reaktion auch auf diese zwangsläufigen Entwicklungen sein soll, sind darauf nur hilflose Antworten und auch dafür mögen Filme wie Blade Runner oder Die Tribute von Panem der Vorstellungskraft auf die Sprünge helfen, wenn man davon absieht, dass auch da unklar bleibt, wie die siegreichen Abgehenkten dann in der Lage sein sollen, die Welt zu retten. Selbst der Ruf der Lobbyisten nach Digitalisierung dürften keine nachhaltigen Lösungsansätze bieten. Die Digitalisierung ist ein natürlicher Entwicklungsschritt und für vieles hilfreich, doch entscheidend ist die allumfassende Entwicklung der individuellen Möglichkeiten der Menschen, die nicht nur kreativ und intellektuell gegeben sind, sondern beispielhaft auch hinsichtlich moralisch-ethischer Aspekte, der Belastbarkeit, der Flexibilität, der Logik, analytisch-konzeptioneller Fähigkeiten oder auch der Bereitschaft zum Handeln in schwierigen Situationen. Dafür, aber auch generell, werden gesellschaftliche Innovationen benötigt.

Wer sich die Apokalypse nicht ausmalen kann, bekommt in BLADE RUNNER mit Harrison Ford und Ryan Gosling ein paar Anregungen- wobei das sicher nur in Teilen gelingt. Aus der Eingrenzung innerer und äußerer Freiheitsgrade erwachsene Uniformität, mechanisches statt kreatives Denken, blinde Gefolgschaft, die Konzentration von Ressourcen, Macht und Reichtum bei Wenigen gegen die Bedürfnisse der Meisten: Das sind die Zutaten, mit denen wir uns heute schon auf den Weg dorthin bewegen.

 

***

Bernd Liske ist Inhaber von Liske Informationsmanagementsysteme. In seinen Analysen und Konzepten setzt er sich mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen unserer Gesellschaft auseinander, um so einen Beitrag zur Erhaltung des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu leisten. Seine Bemühungen sind darauf gerichtet, die Leistungsfähigkeit von Individuen und die Wirksamkeit von Strukturen zu stärken. Im BITKOM war er seit dessen Gründung bis Mai 2015 Mitglied des Hauptvorstandes. Im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen bei der Bewältigung der NSA-Affäre wurde er aus dem BITKOM ausgeschlossen, wogegen er gegenwärtig gerichtlich vorgeht.

Bernd Liske (Jg. 1956 / studierter Mathematiker) ist Inhaber von Liske Informationsmanagementsysteme. In seinen Büchern und Artikeln setzt er sich mit sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen unserer Gesellschaft auseinander, um so Beiträge für die Erhaltung des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu leisten. Die in seinem Buch Aphorismen für die Menschwerdung des Affen – Wie der Mensch zum Menschen und wie die Demokratie ihrem Anspruch gerecht werden kann veröffentlichten Aphorismen betrachtet er als Open-Source-Betriebssystem zur Analyse und Gestaltung individueller, unternehmerischer und gesellschaftlicher Prozesse. Das den Aphorismen vorangestellte Essay über die „Auseinandersetzung als Beitrag für die Menschwerdung des Affen“ beschäftigt sich insbesondere mit der Natur der Demokratie und stellt Wege zur Diskussion, wie die westlichen Demokratien eine nachhaltige Zukunft gestalten können.


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