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Deutschland droht die De-Industrialisierung

Das deutsche Geschäftsmodell, das auf billigem russischem Gas beruhte, bricht zusammen. Am stärksten in ihrer Existenz gefährdet sind die kleinen Unternehmen.
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12.09.2022 11:50
Aktualisiert: 12.09.2022 11:50
Lesezeit: 4 min
Deutschland droht die De-Industrialisierung
Drohende Deindustrialisierung: Hat Deutschland eine Zukunft als Agrarland? (Foto: dpa) Foto: Julian Stratenschulte

Deutschlands Industrie, die in weiten Teilen von billigem russischen Erdgas abhängt, steht angesichts des Wirtschaftskriegs gegen Russland vor einer schweren Prüfung. Erschwerend kommt hinzu, dass Deutschlands größter Handelspartner China einen schweren wirtschaftlichen Abschwung verzeichnet. Im vergangenen Jahr hat China deutsche Waren im Wert von 100 Milliarden Euro gekauft hat, darunter Autos, medizinische Geräte und Chemikalien.

"Die Substanz unserer Industrie ist bedroht", warnte im August Siegfried Russwurm, Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Die Situation sehe für viele Unternehmen "giftig" aus, zitiert ihn der Economist. Über die globalisierten Lieferketten könnte sich das Gift auf den Rest der industrialisierten Welt ausbreiten, der wiederum in hohem Maße von deutschen Herstellern abhängig ist.

Die schwierige Lage der deutschen Wirtschaft zeigt sich bereits auf dem Aktienmarkt. Der deutsche Aktienindex hat unter den diesjährigen Marktturbulenzen stärker gelitten als die Indizes in anderen Ländern. In Dollar gerechnet ist der Dax im bisherigen Jahresverlauf bereits um 27 Prozent gefallen. Dieser Rückgang ist fast doppelt so stark wie beim Britischen FTSE 100 oder beim amerikanischen S&P 500.

Das größte Problem der deutschen Industrie sind die explodierenden Energiekosten. Der Strompreis für das nächste Jahr hat sich bereits um das 15-fache erhöht, der Gaspreis um das Zehnfache, so der BDI. Im Juli verbrauchte die Industrie 21 Prozent weniger Gas als im Vorjahresmonat. Das liegt nicht daran, dass die Unternehmen die Energie effizienter genutzt haben. Vielmehr ist der Rückgang auf eine dramatische Verringerung der Produktion zurückzuführen.

Seit Juni hat das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) seine Prognose für das Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr um 0,7 Prozentpunkte auf 1,4 Prozent nach unten korrigiert. Es rechnet nun damit, dass die deutsche Wirtschaft im kommenden Jahr schrumpfen wird und dass die Inflation mit 8,7 Prozent noch höher ausfallen wird als im laufenden Jahr.

Kleinere Unternehmen am stärksten betroffen

Laut einer im Juli durchgeführten Umfrage des Beratungsunternehmens FTI-Andersch unter 100 Mittelständlern haben kleinere Unternehmen mehr zu kämpfen als größere. Fast ein Viertel der Unternehmen mit weniger als 1.000 Beschäftigten hat Aufträge storniert oder abgelehnt oder plant dies zu tun, verglichen mit 11 Prozent der Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten.

So kämpfen etwa die rund 10.000 Bäcker wie nie zuvor im Nachkriegsdeutschland um ihre Existenz. Sie brauchen Strom und Gas, um Öfen zu heizen und Knetmaschinen zu betreiben, während sie gleichzeitig mit den höheren Kosten für Mehl, Butter und Zucker sowie für die Bäcker zu kämpfen haben. Eine Verkäuferin der 127 Jahre alten Bäckereikette Wiedemann in Berlin berichtet, dass das Unternehmen versucht, Energie zu sparen, indem es alle Brote in der Zentrale backt.

Eine weitere aktuelle Umfrage des BDI unter 600 mittelständischen Unternehmen ergab, dass fast jeder Zehnte seine Produktion wegen der hohen Inputkosten unterbrochen oder reduziert hat. Mehr als 90 Prozent gaben an, dass die explodierenden Energie- und Rohstoffpreise eine große oder existenzielle Herausforderung darstellen. Jeder Fünfte denkt darüber nach, seine Produktion ganz oder teilweise ins Ausland zu verlagern.

Größere energieintensive Unternehmen wie die Chemie- oder Stahlindustrie stehen zudem vor der Herausforderung, dass sie mit Firmen in anderen Ländern konkurrieren, wo die Energiekosten niedriger sind. Der Chemiegigant BASF, der Erdgas sowohl als Energieträger als auch als Rohstoff einsetzt, hat seine Produktion bereits gekürzt und muss sie möglicherweise weiter reduzieren. Der Stahlkonzern Thyssenkrupp hat seit Januar die Hälfte seines Marktwerts verloren.

Große Konzerne haben oft Fabriken in anderen Ländern, wo Energie billiger ist. Aber viele, darunter auch BASF mit seinem riesigen Komplex in Ludwigshafen, produzieren dennoch weiterhin viel im eigenen Land. Selbst wenn sich die Rohstoffkosten abschwächen, wie es bei einigen der Fall ist, und die Regierung die Energieversorgung unterstützt, wie sie versprochen hat, wird der Kostendruck nicht verschwinden.

Insbesondere müssen sich die Unternehmen dieses Jahr auf harte Lohnverhandlungen mit den Gewerkschaften einstellen. Die Verhandlungen zwischen der IG Metall, der größten deutschen Gewerkschaft, und den Arbeitgebern der mächtigen Autoindustrie stehen kurz vor dem Beginn. "Die IG Metall wird nichts unter 8 Prozent Erhöhung akzeptieren", prognostiziert Ferdinand Dudenhöffer vom Centre Automotive Research.

Es wird für die deutschen Unternehmen auch immer schwieriger, die gestiegenen Kosten an die Verbraucher weiterzugeben. Hakle, ein großer Hersteller von Klopapier, hat Insolvenz angemeldet, weil er den enormen Anstieg der Produktionskosten nicht an die Kunden im Lebensmitteleinzelhandel und im Drogeriesektor weitergeben konnte.

Kostensenkung und Abwanderung aus Deutschland

Nach mehreren fetten Jahren werden die Auftragsbücher der Autohersteller nun immer dünner, da die Inflation ein Loch in die Geldbörsen der Autokäufer reißt. Die nächsten zwei oder drei Jahre werden sehr mager ausfallen, prognostiziert Dudenhöffer. Die Autofirmen werden die Kosten senken, indem sie die Ausgaben für Verwaltung, Forschung und Entwicklung kürzen. Einige werden wahrscheinlich ihre Produktion in kostengünstigere Länder verlagern.

Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Privatbank Berenberg, prognostiziert, dass 2 bis 3 Prozent der deutschen Industrieunternehmen, die energieintensive Produktionsprozesse nutzen, ihre Produktion ins Ausland verlagern werden, da die Energiepreise wahrscheinlich noch eine Weile hoch bleiben werden. Ein höherer Anteil der Industrieunternehmen wird voraussichtlich seine Produktion in diesem und im nächsten Winter drosseln.

ArcelorMittal, ein weiterer Stahlriese, hat angekündigt, zwei Werke in Norddeutschland zu schließen und die Mitarbeiter in den Urlaub zu schicken. Die Stickstoffwerke Piesteritz, Deutschlands größter Hersteller von Ammoniak und Harnstoff, zwei wichtigen chemischen Grundstoffen, haben ihre Ammoniakfabriken in Sachsen-Anhalt geschlossen.

Die Schließung hat zu einer Verknappung von AdBlue geführt, einem Grundstoff, der für die Reinigung der Motoren von Diesel-LKWs von entscheidender Bedeutung ist, und zeigt, wie sich solche Maßnahmen auf die Lieferketten auswirken. Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtschaft warnt davor, dass "eine wirtschaftliche Lawine auf Deutschland zurollt".

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