Deutschland

Mit dem Bürgergeld verabschiedet sich Deutschland als Wirtschaftsmacht

Lesezeit: 6 min
26.11.2022 09:07
Deutschland führt ein „Bürgergeld“ ein. Ähnlich paradiesische Zustände gab es zuletzt in den neunziger Jahren und machten das Land zum „kranken Mann Europas“.
Mit dem Bürgergeld verabschiedet sich Deutschland als Wirtschaftsmacht
Hubertus Heil im Vermittlungsausschuss zum Bürgergeld. (Foto: dpa)

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Deutschland führt ein so genanntes „Bürgergeld“ ein, das ab 1. Jänner 2023 den Druck auf die Arbeitnehmer beseitigen soll, einen Job anzunehmen. Es wird nicht mehr um eine schnelle Vermittlung gehen. Eine bessere Ausbildung und eine Beschäftigung mit einer Langfristperspektive rücken in den Vordergrund. Auch wird nicht nur das Arbeitslosengeld in der neuen Form als Bürgergeld erhöht, die vielfältigen Sozialleistungen sollen noch stärker als bisher die Wohn- und Heizkosten mildern.

Kurzum, es wird gemütlich in Deutschland. Ähnlich paradiesische Zustände gab es schon in den neunziger Jahren und machten das Land, in dem man nicht arbeiten musste, zum „kranken Mann Europas“. Bis ab 1998 die rot-grüne Regierung unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder den Wildwuchs des Sozialstaats beseitigte und die Voraussetzungen für den spektakulären Aufschwung der Folgejahre schuf. Diese Erfolgsstory beendet nun Rot-Grün-Gelb mit dem Bürgergeld und wird dabei von CDU/CSU unterstützt.

Parteien haben offenbar ein Seelenleben, das so kraus ist wie bei Individuen

  • Die SPD hat in den vergangenen zwanzig Jahren die Schröder-Reformen als traumatischen Schock empfunden und ist nun erleichtert, wieder als Partei der Volksbeglückung und -versorgung agieren zu können. SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz wird nicht müde zu betonen, dass das Land die finanzielle Kraft für das Bürgergeld hätte. Dass es diese Potenz ohne die Schröder-Reformen nicht gäbe, bleibt unbeachtet.
  • Die damaligen Reformen werden unter dem Schlagwort Hartz-IV vor allem der SPD angelastet. Peter Hartz war zu dieser Zeit Personalvorstand von VW und konzipierte die Details der Änderungen. Jetzt soll das Wort Hartz aus dem politischen Vokabular verschwinden. Auch „Bürgergeld“ statt „Arbeitslosengeld“ ist als Sprachreform gedacht.
  • Die Grünen sind recht zufrieden, dass ihre Regierungsbeteiligung in der Ära Schröder nicht so präsent ist. Jetzt ist man offenkundig froh, Teil der aktuellen, Gaben verteilenden Regierung zu sein.
  • Die FDP, die dritte im Bunde der aktuellen „Ampel“, tröstet sich mit einem neuen Begriff ­ „Das liberale Bürgergeld“ ­ und einer geistigen Kapriole, die so lautet: „Individuelles Ziel muss sein, sich aus der Abhängigkeit von Sozialleistungen zu befreien“. Die Deutung dieses Satzes ist nicht einfach, man kann aber vermuten, dass die FDP meint, der Bürger, die Bürgerin soll durch die Sozialleistungen des Bürgergelds die Abhängigkeit von den Sozialleistungen abwerfen und frei werden. Womit das Bürgergeld in die freiheitlichen Grundsätze passt.
  • Nicht viel einfacher hat es die Union von CDU und CSU mit ihrer Psyche. Bundeskanzler Helmut Kohl regierte mit der FDP als Koalitionspartner von 1981 bis 1989 und in dieser Ära schlitterte Deutschland in die von der Sozialpolitik verursachte Lähmung und wurde zum „kranken Mann Europas“. Man traute sich nicht, den Versorgungsstaat zu korrigieren. Dann schuf die SPD unter Schröder neue Bedingungen, von denen ab 2005 Angela Merkel profitierte. Die CDU-Bundeskanzlerin nahm paradoxer Weise sogar kleine Abmilderungen der Schröder-Reformen beim Rentenantritt vor. Jetzt ruiniert die SPD das Schröder-Erbe und was tut die Union? Sie trägt das Bürgergeld mit. Um den Schein einer Opposition zu wahren, wurden mit einem Veto im Bundesrat und vermeintlich beinharten Verhandlungen marginale Veränderungen durchgesetzt. Und nun sind alle, SPD, Grüne, FDP, CDU und CSU zufrieden auf dem Weg zurück in die neunziger Jahre.

Ein Jahr „Sabbatical“-Karenz für alle, die gerne eine Auszeit nehmen

Das Bürgergeld ist eine Leistung der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Fortsetzung des Arbeitslosengelds II. Die Sätze werden am 1. Jänner angehoben. Der Normalbetrag steigt von 449 um 53 auf 502 Euro, die übrigen Kategorien für Jüngere werden entsprechend angepasst. Wer bisher Arbeitslosengeld bezogen hat, bekommt automatisch Bürgergeld, wer bedürftig ist, bezieht ab Januar das neue Bürgergeld. Im ersten Jahr wird das Vermögen der Anspruchsberechtigten bis zu 40.000 Euro geschont, für jedes weitere Haushaltsmitglied werden 15.000 nicht angetastet. Der Wohnungszuschuss wird ebenfalls im ersten Jahr jedenfalls in voller Höhe ausgezahlt, erst in der Folge wird nur eine vom Jobcenter als „angemessen“ eingestufte Wohnung subventioniert. Zum Bürgergeld wird man 30 statt bisher 20 Prozent dazu verdienen können.

Das bereits erwähnte Kernstück der Reform besteht allerdings im Abschied vom Grundprinzip, jeder, jede Arbeitslose sollte so rasch wie möglich einen Job bekommen. Das Ziel ist künftig die Vermittlung in Langzeitbeschäftigungen. Auch will man die Ausbildung forcieren, um neue Kompetenzen zu schaffen. Nach wie vor gilt die Regel, dass das Arbeitslosengeld, das künftig Bürgergeld heißt, bei der Nicht-Annahme von Jobs bis zu maximal 30 Prozent gekürzt werden kann. Diese Regel ist allerdings zahnlos, wenn man nur eine Stelle annehmen muss, die eine längere Anstellung verspricht, oder Schulungen besucht.

Kurzum: Das Bürgergeld eröffnet Menschen, die das neue System ausreizen wollen, einen einjährigen Urlaub auf Kosten des Staates. In dieser Zeit werden auch die Wohnung und die Heizung finanziert. Das Ersparte wird nicht angetastet. Wenn mehrere Personen im Haushalt in den Genuss des Bürgergelds kommen, ergibt sich ein ansehnlicher Betrag, der auch durch einen Zuverdienst gesteigert werden kann. Warum sollte jemand das gesetzlich abgesicherte Angebot nicht annehmen? Auch wird niemand behaupten, dass das Arbeitsleben ein Quell ständiger Freude ist, da erscheint ein Jahr Auszeit durchaus attraktiv. Zudem kann man schon bisher in einigen Bereichen unter günstigen Bedingungen ein als „Sabbatical“ bezeichnetes Karenzjahr in Anspruch nehmen. Diesen Luxus bietet nun die Politik allen Arbeitnehmern, letztlich sogar allen Erwerbstätigen.

Deutschland lässt derzeit eine Wirtschaftsleistung von 40 Milliarden Euro liegen

Selbstverständlich wird das Bürgergeld von den Erfindern nicht so dargestellt, sondern als Hilfe für die Menschen in der sich abzeichnenden Krise gesehen. Man agiert unter dem Motto „Niemand wird allein gelassen!“ Alle Erfahrungen, nicht nur im Deutschland der neunziger Jahre, zeigen, dass derartige Hilfen die Menschen aus dem Arbeitsprozess treiben.

Das gegenteilige Signal wäre das Gebot der Stunde: Die Wirtschaft steht vor enormen Herausforderungen, die nur bewältigt werden können, wenn eine generelle Stimmung unter dem Motto „Ärmel hochkrempeln“ herrscht. Es geht um die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Globus, gegenüber den USA, China, Indien und anderen. Es ist sicher nicht der Moment für ein allgemeines „Sabbatical“.

Der Eifer der Politik, die Menschen in der Krise nicht allein lassen zu wollen, ist aktuell nicht begründet. Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland hat, wie das Statistische Bundesamt ausweist, mit 45,6 Millionen Personen den historisch höchsten Stand erreicht und den bisherigen Spitzenwert vom November 2019 übertroffen. Erwerbslos sind 1,3 Millionen. Man kann also nicht von einer Krise auf dem Arbeitsmarkt sprechen, auch wenn allgemein eine Abschwächung der Konjunktur erwartet wird. Die Daten der Bundesagentur für Arbeit weisen in die gleiche Richtung: Mit 2,44 Millionen Arbeitslosen errechnet sich eine Quote von 5,3 Prozent.

Vollends übersehen wird die dramatische Dimension des Arbeitskräftemangels. Mehr als 500.000 Stellen können nicht besetzt werden, weil das erforderliche Personal fehlt. Die Politik scheint nicht zu wissen, dass auf diese Weise im Jahr eine mögliche Wirtschaftsleistung von 40 Milliarden Euro liegen gelassen wird. Und das in einer Zeit, in der die Wirtschaft kaum wächst. Das Gebot der Stunde für die Politik wäre also alles zu unternehmen, um die Menschen zur Annahme der angebotenen Arbeitsplätze zu animieren. Die Einladung zu einem „Sabbatical“ hat die gegenteilige Wirkung.

Jede übertriebene Arbeitslosenunterstützung, und nichts Anderes ist das Bürgergeld, macht die Arbeitslosigkeit attraktiv und hält viele Menschen davon ab, einen Job anzunehmen. Ein zusätzlicher Effekt ist in den Lock-Downs der Corona-Krise entstanden, als es sich mit dem Geldsegen des Staates gut leben ließ. In der Folge wollen heute viele Menschen gar nicht arbeiten oder stellen nicht erfüllbare Phantasie-Forderungen. Trotz dieses Phänomens hat Deutschland gegenwärtig den höchsten Stand an Erwerbstätigen in der Geschichte. Es hat also eine Verwerfung des Arbeitsverhaltens stattgefunden, die noch in etwa zu bewältigen ist.

Statt „Sabbaticals“ zu ermöglichen, sollte man singen „jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt“.

Geld und Leistung sind ein untrennbares Paar. Das kann die Politik nicht ändern.

Unter Druck sieht sich die Politik nicht nur, weil die Sozialdemokraten den Sozialismus wiederentdeckt haben. Die Lebenshaltungskosten sind dramatisch gestiegen und da fühlt sich die Politik verpflichtet zu helfen. Die Inflationsrate beträgt insgesamt 10,4 Prozent, die Energiepreise sind um 43 Prozent höher als vor einem Jahr, die Nahrungsmittelpreise um 20,3 Prozent. Das sind die Angaben des Statistischen Bundesamts, die Erfahrung zeigt, dass die tatsächlichen Steigerungsraten meist höher sind als die offiziellen Auswertungen.

Allerdings ist die aktuelle Teuerungswelle eine Folge der in der Corona-Krise betriebenen Geldschwemme, die durch keine Wirtschaftsleistung abgesichert war. Kurzarbeitsgeld, Subventionen an Unternehmen zum Ausgleich von im Lock-Down nicht realisierten Umsätzen und Gewinnen, staatliche Firmenrettungen und sonstige Maßnahmen brachten und bringen immer noch Milliarden in Umlauf.

Die aktuelle Teuerung sorgt nun für den unvermeidlichen Ausgleich, mit den hohen Preisen werden die Wohltaten der Corona-Förderungen zurückgezahlt. Man muss warten, bis das künstlich geschaffene Geld über die Teuerung dem Finanzierungskreislauf entzogen ist und das Preisniveau wieder der Realität entspricht. Dazu leisten die Konsumenten und Investoren den wirksamsten Beitrag, indem sie durch die Drosselung der Nachfrage die Anbieter zur Preisdisziplin zwingen.

Die Politik tut nichts, um den fundamentalen Umstand zu kommunizieren, das Geld und Leistung ein untrennbares Paar bilden. Im Gegenteil. Man ist eifrig bemüht, nur den Ukraine-Krieg und den russischen Gaspreis als einzige Ursachen der hohen Inflation hinzustellen. Dass man selbst mit der Überförderung in der Corona-Krise für eine Geldentwertung gesorgt hat, wird nicht angesprochen. Mehr noch: Im vergangenen Sommer wurde ein weiteres 30-Milliarden-Förderungspaket geschnürt, um die Auswirkungen der Inflation abzufedern. Nur: Was bedeutet das im Klartext. Man finanziert mit künstlich geschaffenem Geld die Preise, die bereits durch künstlich geschaffenes Geld entstanden sind. Also bekämpft man nicht die Inflation, sondern treibt sie weiter in die Höhe. Und jetzt wird mit dem Bürgergeld das nächste Füllhorn geöffnet.

Vertretbar und notwendig wäre nur eine Unterstützung der tatsächlich Bedürftigen wie der Mindestrentner, der Bezieher von Grundsicherung und der Arbeitslosen mit minimalen Bezügen. Bei diesen Personengruppen wäre die Sozialpolitik zur Hilfe verpflichtet. Das ist ein Grundprinzip einer solidarischen Gesellschaft. Bei der übrigen Bevölkerung ist jetzt die Rückzahlung der Corona-Geschenke angesagt. Und ein optimaler Einsatz, um die Konkurrenzfähigkeit des Landes und somit den Wohlstand zu sichern.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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