Die hohen Umfragewerte für die AfD in Deutschland und ihre Kandidatenwahl für das Europaparlament haben ein Schlaglicht auf die kommenden Europawahlen im Juni 2024 geworfen. Eine Wahl, die oft im Schatten der nationalen Wahlen steht, bei der aber viel auf dem Spiel steht. Rechte Kräfte gewinnen in einer Zeit der multiplen Krisen an Momentum. In Deutschland hat die AfD mit Maximilian Krah einen Spitzenkandidaten aufgestellt, der sogar in der rechtesten Fraktion des Europaparlaments, der ID, als radikal gilt. Neuesten Prognosen zufolge könnte nicht nur die AfD sondern auch die weiteren rechtspopulistischen Parteien aus anderen EU-Mitgliedsstaaten mit deutlichen Zuwächsen im Europaparlament rechnen, denn in immer mehr EU-Mitgliedsstaaten sind sie inzwischen an der Regierung beteiligt. Die Europawahlen vom 6. bis 9. Juni könnten deshalb Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyens bisher eher solide Basis der Europafreunde schwächen und zu einem Rechtsruck in den europäischen Institutionen führen. Von einem möglichen EU- und Euro-Austritt haben die Parteien weitgehend Abstand genommen, wollen allerdings die EU „von innen her “ reformieren. Das heißt, weniger gemeinsame Ziele, weniger Auflagen, weniger Einmischung durch EU-Behörden, mehr Nationalstaat.
Weltanschauliche Ausrichtung Basis der Fraktionen
Das Europaparlament wird jeweils für fünf Jahre gewählt. Es vertritt die Interessen der Bevölkerung der Mitgliedstaaten und ist kein unwichtiges politisches Gremium. Seit seiner Gründung 1958 hat es stetig an Bedeutung und Mitbestimmung zugewonnen. Es diskutiert über alle wichtigen Themen, beschließt Richtlinien und Verordnungen, die den Kurs Europas bestimmen, entscheidet mit über den Haushalt und - abhängig vom Wahlergebnis - auch über die Besetzung der mächtigen EU-Kommissionspräsidentschaft.
Für die parlamentarische Arbeit haben sich die 705 MdEPs in sieben Fraktionen zusammengeschlossen, die jeweils eine ähnliche weltanschauliche Ausrichtung haben und mindestens 25 Mitglieder (3%) aus einem Viertel der 27 Länder haben müssen. Einen Fraktionszwang gibt es dabei allerdings nicht, was dazu führen kann, dass sich die Bündnisse im Einzelfall verschieben. Rechtspopulisten und Euroskeptiker finden sich vor allem in den beiden Fraktionen EKR (Europäische Konservative und Reformer) und ID (Identität und Demokratie) sowie in der Gruppe der Fraktionslosen.
Die EKR ist ein Zusammenschluss konservativer und EU-skeptischer Parteien aus 16 Ländern. Sie setzt sich für eine Begrenzung der EU-Kompetenzen, Subsidiarität und wirtschaftliche Liberalisierung ein, fordert mehr „Eurorealismus“ und eine restriktivere Asylpolitik. Hier sind besonders stark die polnische PiS, die Frattelli d’Italia und die spanische Vox-Partei vertreten.
Die ID-Fraktion setzt sich aus Mitgliedern rechtspopulistischer, nationalistischer, EU-skeptischer und rechtsradikaler Parteien aus neun Ländern zusammen. Darunter die italienische Lega, das französische Rassemblement National, die deutsche AfD, die Schwedendemokraten und die österreichische FPÖ. Sie setzt sich für nationale Souveränität, eine restriktive Einwanderungspolitik und einen begrenzten Einfluss der Europäischen Union ein.
Die beiden rechten Fraktionen hoffen auf kräftigen Zuwachs und selbst die Mitte-Rechts-Fraktion der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) arbeitet unter ihrem Vorsitzenden Manfred Weber an einer Annäherung an die EKR und deren Vorsitzender, Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni. Mit dieser Politik grenzt sich Weber von seiner Parteifreundin und Rivalin Ursula von der Leyen ab, deren Machtbasis die Rechten zerstören wollen.
Projektion für einen möglichen Wahl-Ausgang
Für die kommende Wahl scheint sich das für die EVP noch nicht auszuzahlen, wie eine Projektion des „(europäischen) Föderalist“ zeigt, die Ergebnisse aus Nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten bis Anfang Juli 23 auswertet und zusammenführt.
Nach dieser Projektion könnten sich die beiden stärksten Fraktionen im EU-Parlament, die EVP (von bisher 166 auf 160 Sitze) und die Fraktion der Sozialdemokraten und Sozialisten, S&D (von bisher 143 auf dann 136) mit nur leichten Verlusten relativ stabil halten. Renew, der Zusammenschluss der Liberalen, rutscht von 101 auf 94 Sitze.
Deutlicher Verlierer der kommenden Wahlen könnte die Fraktion der Grünen und Regionalparteien (Grüne/EFA) sein. Die bisher viertgrößte Fraktion im EU-Parlament verlöre demnach 24 ihrer Sitze (von jetzt 72 auf 48) und müsste sich hinter EKR und ID auf Platz sechs einreihen. Linke und Kommunisten könnten, gemessen am Beginn der Wahlperiode, leicht hinzugewinnen (jetzt 37 auf 41 Sitze).
Zuwächse können laut der Projektion hingegen EKR (von jetzt 66 auf 79 Sitze) und ID von 62 auf 70 Sitze erwarten. Verstärkung könnten sie darüber hinaus von neuen oder bisher fraktionslosen Parlamentariern bekommen. Die EKR mit Éric Zemmours Partei Reconquête aus Frankreich, die aller Voraussicht nach ins EU-Parlament einziehen wird, und die ID mit Kandidaten der ungarischen Regierungspartei Fidesz, die derzeit als Fraktionslose im EU-Parlament sitzen. Damit kämen beide nahe an die liberale Renew-Fraktion heran. Würden sie sich zusammenschließen, hätten sie laut dieser Analyse sogar gute Chancen, mit EVP und S&D um den Platz als stärkste Fraktion im Parlament zu ringen.
Rechte Parteien planen Zusammenschluss
Die rechten Parteien haben sich dafür längst in Stellung gebracht: Schon im Sommer 2021 haben sich die 15 Parteichefs in Warschau auf einen gemeinsamen Schulterschluss im EU-Parlament geeinigt. Marine Le Pen schwärmte von einer künftigen zweiten Kraft im EU-Parlament, wie „Zeit-online“ berichtete. Auch Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki sprach demnach von einem „Wendepunkt in der Geschichte Europas, der Europäischen Union und der souveränen EU-Mitgliedstaaten“. Es gelte, „der Usurpation, die die Macht in den Händen der europäischen Eliten konzentriert, einen Riegel vorzuschieben“.
Zusammen mit dem italienischen Lega-Chef Matteo Salvini, Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, dem Vorsitzenden der polnischen Regierungspartei PiS, Jarosław Kaczysnki, dem Vorsitzenden der spanischen Partei Vox, Santiago Abascal und anderen unterzeichneten die Parteien eine gemeinsame Erklärung eine Fraktion im EU-Parlament gründen zu wollen. Die AfD hat das Papier seinerzeit nicht unterschrieben.
Die Parteien befürchten einen Souveränitätsverlust ihrer Länder gegenüber der EU. Auch ihre Meinungen zum Umgang mit LBGT-Gruppen und die Ablehnung von Migration haben sie gemeinsam. In Punkto Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit und Demokratieverständnis gibt es schon jetzt reichlich Konfliktpotenzial mit der EU, wie aktuell mit Polen und Ungarn, und auch die Klimaziele und Transformationsvorgaben der EU stoßen nicht überall auf Gegenliebe.
Was eine geschlossene Rechts-Allianz allerdings behindern könnte, ist ihre unterschiedliche Haltung zu Russland und den daraus folgenden Konsequenzen. So ist Postfaschistin Meloni ebenso wie Polen für eine Unterstützung der Ukraine – Ungarn bleibt ein unsicherer Kandidat.
Besonders die Grünen müssen Wähler mobilisieren
Auch wenn es nach vorherrschender Einschätzung wahrscheinlich nicht zu einer rechten Mehrheit im EU-Parlament kommen wird. Ein stärkeres Gewicht der Rechtspopulisten kann für die Ausrichtung und für wichtige Reformprojekte der EU gravierende Folgen haben und einzelne Vorhaben blockieren. Zumindest wenn sich EVP-Mitglieder zu punktuellen Allianzen mit ihnen entscheiden, wie im Juli bei der Abstimmung zum Renaturierungsgesetz geschehen. Um das zu verhindern, hatte EVP-Chef Manfred Weber, wie berichtet, mit den Rechtsaußen-Fraktionen zusammengearbeitet. Auch wenn es nicht gelang, das Vorhaben zu kippen, so gelang es doch, es entscheidend zu verwässern. Sollten wichtige Teile nicht mehr in die Vorlage zurückfinden, könnte das die Klimaziele der EU-Kommission zurückwerfen.
Es könnte also spannend werden bei der Europawahl. Viel hängt davon ab, wie erfolgreich die Parteien, die eine Erosion der Europäischen Union verhindern wollen, ihre Wähler mobilisieren. Besonders die Grünen müssen aktiv werden, wollen sie ihr Gewicht im EU-Parlament nicht verlieren. Auch ein Abdriften der etablierten Mitte-Rechts-Koalitionen nach rechts könnte sich rächen und den „Originalen“ mehr Stimmen bescheren.
Das alles muss nicht so kommen. Projektionen und Umfragen sind keine Vorhersagen und immer mit Einschränkungen verbunden. Sie sind Momentaufnahmen, eine einheitliche EU-weite Erhebung gibt es nicht. In den zehn Monaten bis zu den Europawahlen kann noch viel passieren. So ist etwa die Regierungsbildung in Spanien noch nicht vollzogen, in den Niederlanden und Polen stehen Wahlen an. Die polnische Regierung hat diese mit einem Referendum zur Asylpolitik zusammengelegt, um die Wähler an die Urnen zu treiben. Die vorliegende Projektion geht zudem von der bisherigen Anzahl von 705 Sitzen aus. Wegen demografischer Veränderungen in den Mitgliedsstaaten hat das EU-Parlament eine Erhöhung auf 716 Sitze beschlossen, der der Rat noch zustimmen muss.