Joe Biden umarmt seine Tochter Ashley nach ihrer Rede fest und verweilt einige Sekunden in ihren Armen. Anschließend wischt sich der Präsident mit einem Taschentuch die Augen und tritt ans Rednerpult. Der 81-Jährige fasst sich ans Herz, während Tausende Delegierte im Saal ihm zujubeln. "Danke, Joe", rufen sie beim Parteitag der Demokraten in Chicago in Sprechchören. Und später: "Wir lieben Joe."
Es war jedoch genau diese Partei, die Biden wegen seines Alters und seiner mentalen Verfassung zum Rückzug aus dem Wahlkampf gedrängt hat. Einige prominente Demokraten, die Bidens Rücktritt gefordert hatten, sitzen nun klatschend im Saal und feiern ihn als jemanden, der in einem Akt menschlicher Größe, im Interesse der Partei, freiwillig Platz gemacht habe für die nächste Generation. Das verzerrt die Realität. Biden weigerte sich lange, dem Druck seiner Partei nachzugeben. Das Ringen um seinen Abschied wurde zu einem unwürdigen Schauspiel.
All das versucht die Partei bei ihrem Treffen in Chicago, das der neuen Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris gewidmet ist, zu kaschieren. Doch Biden bleibt in den kommenden Monaten in einer undankbaren Rolle. Dies betrifft sowohl den Wahlkampf als auch seine Präsidentschaft.
Die Rolle im Wahlkampf
Direkt nach seinem großen Auftritt beim Parteitag zieht sich Biden in eine längere Pause zurück und fliegt von Chicago nach Kalifornien. Dort verbringt er den Rest der Woche ohne öffentliche Auftritte. Dass Biden während des restlichen Parteitags komplett abtaucht, spricht Bände. Seit seinem Rückzug im Juli trat der Demokrat erst einmal mit Kamala Harris bei einer Wahlkampfkundgebung auf. Öffentlich hielt er sich sonst stark zurück.
Es scheint, als sei die Strategie der Demokraten nach Bidens peinlichen Auftritten der vergangenen Monate, die ihn zum Rückzug bewogen, seine Präsenz im Wahlkampf auf ein Minimum zu beschränken. Damit soll auch das Risiko weiterer Fehler verringert werden, die Harris schaden könnten. In Chicago scherzt Biden, er werde der beste freiwillige Wahlkampfhelfer sein, den Harris und ihr Vize Tim Walz je gesehen hätten. Doch eine prägende Rolle im Wahlkampf ist derzeit für Joe Biden nicht absehbar.
Für Harris ist die Bilanz der gemeinsamen Regierungszeit in mancher Hinsicht problematisch, insbesondere beim Thema Migration. Zudem muss sie sich in ihrer neuen Rolle als Spitzenkandidatin zurechtfinden. Daher wird sie vermutlich versuchen, im Wahlkampf Abstand zu Joe Biden zu halten. Nach den parteiinternen Spannungen bis zu Bidens Rückzug bemühen sich die Demokraten nun, Geschlossenheit zu demonstrieren. Darum geht es auch bei Bidens Auftritt in Chicago, wo er Harris als starke, erfahrene Frau mit Charakter und Integrität lobt.
Die Rolle als US-Präsident
Biden bleibt bis Januar Präsident. Doch er ist nun eine "lame duck" – jemand, der am Ende seiner Amtszeit steht und daher stark an Macht und Einfluss eingebüßt hat. "Ich habe noch fünf Monate in meiner Präsidentschaft", sagt Joe Biden in Chicago. "Ich habe noch viel zu tun." Und er sei entschlossen, dies auch zu erledigen.
Allerdings ist das nicht einfach. Das Rampenlicht gehört nun allein Kamala Harris und dem Wahlkampf. Die Demokraten im Kongress sind primär damit beschäftigt, ihre eigenen Sitze bei der Wahl zu verteidigen. Auch internationale Partner überlegen eher, wie sie mit einer künftigen US-Regierung zusammenarbeiten können, anstatt neue Initiativen mit Biden zu starten.
Dies gilt nicht nur für Harris, sondern auch für den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, den bereits mehrere internationale Regierungschefs kontaktiert haben.
Joe Biden wird dennoch versuchen, in den verbleibenden Monaten an seinem politischen Erbe zu arbeiten. Erst im dritten Anlauf schaffte er den Einzug ins Weiße Haus – als ältester US-Präsident aller Zeiten. Vielleicht macht die Schwierigkeit, mit der er dorthin gelangte, das Loslassen nun umso schwerer.