Ein kühler Wind weht durch die mittelalterlichen Gässchen. Die hohen Mauern des Deutschen Ordens schützen die Innenstadt vor der bittersten Kälte. Auf alten Pflastersteinen wandert man an der Dicken Margarete, dem wichtigsten Kanonenturm der Stadt, vorbei. Durch das alte Stadttor gelangt man zu dem Rathaus, auf dessen Turmspitze der Alte Thomas, ein bronzener Stadtknecht, seit über 500 Jahren über die Bürger wacht. An der barocken Domkirche angekommen, überblickt man die gesamte Skyline der hanseatischen Stadt. Ist das etwa eine versunkene deutsche Stadt, die nie zerstört wurde und das Mittelalter überlebt hat? Nein. Man befindet sich nicht in Deutschland, auch nicht in Skandinavien, sondern im tiefsten Osteuropa.
Die bezeichnete Stadt nennt sich Tallinn und ist die wohl östlichste Stadt mit starker deutscher Prägung. Es ist die Hauptstadt Estlands. An der Grenze zu Russland und in nächster Nähe zu Finnland und Lettland liegt dieses kleine Land mit großem Potenzial für Auswanderer. Auf einer Größe, die etwa der Hollands entspricht, leben 1,3 Millionen Menschen. Ein Drittel davon sind ethnische Russen, zwei Drittel Esten und ein geringer Teil Zuwanderer, darunter auch immer mehr Deutsche. Warum ist ausgerechnet hier ein nordischer Schmelztiegel entstanden, der viel Raum für Innovationen und Auswanderer bietet?
Estland: Sicher, smart, digital
Die Sicherheitslage in Estland ist besser als in vielen westeuropäischen Ländern. Wurde das Land in den 90er Jahren noch von der für den kompletten Ostblock symptomatischen Kriminalität eingeholt, konnte die innere Sicherheit in den vergangenen 20 Jahren gefestigt werden. Auf den Straßen ist kein Müll sichtbar, Gewalt- und Beschaffungskriminalität sind rar und die Korruption verharrt auf einem besonders niedrigen Stand — was nicht zuletzt den strengen Gesetzen zur finanziellen Transparenz zu verdanken ist.
Vor allem die beiden größten Städte Tallinn und Tartu gelten als besonders sichere und moderne Städte. Während es im gesamten Westteil des Landes ähnlich aussieht, verharren weite Teile Ostestlands in ärmlichen Verhältnissen. Hier zeigen sich noch die schweren Nachwehen der Loslösung des Landes von der Sowjetunion. Die Einkommen sind niedriger, die Kriminalitätsraten und der Drogenmissbrauch höher. Hier hat der Aufstieg bislang nicht Einzug gehalten, der den Rest des Landes so modern und attraktiv für Auswanderer macht.
Denn Estland hat trotz seiner geringen Größe die Digitalisierung maßgeblich vorangetrieben. Hier wurden der Messaging-Dienst Skype und die e-Residency entwickelt und das NATO Cooperative Cyber Defence Centre of Excellence eingerichtet. Einige der besten europäischen Informatiker kommen von hier, haben bereits in der Grundschule das Programmieren gelernt. Modernste Entwicklungen in der Cybersicherheit werden hier vorangetrieben und könnten auch deutschen KMU von großer Hilfe sein. In den 1990er Jahren unternahm die Regierung enorme Anstrengungen, das ärmliche Land ohne bedeutende Rohstoffe zu digitalisieren und seine Bildung zu optimieren. Entstanden ist Europas technologischer Hotspot, in dem online gewählt wird, jeder Mensch eine multifunktionale Identitätskarte führt und selbst in abgeschiedenen Regionen über ultraschnellen Internetzugang verfügt — kostenlos.
Dieses hohe Maß an Digitalisierung bringt erhebliche Vorteile mit sich. Ämtergänge sind in dem Land so gut wie gar nicht vonnöten. Ob Unternehmensgründung, Beantragung der Staatsbürgerschaft oder die Einreichung wichtiger Dokumente in der Universität: all diese Dinge und noch viele mehr funktionieren komplett digital. Die e-Residency ermöglicht es auch Ausländern, eine Firma binnen weniger Minuten zu gründen und sich in Estland für einen längeren Zeitraum als 90 Tage aufzuhalten. Doch warum sollte man hier im hohen Norden eine Firma gründen?
Estland: Keine Steueroase, dafür übersichtlich und unternehmerfreundlich
Estland ist ein zurückhaltender Staat, der viele Vorteile für Unternehmer einräumt und zum Gründen ermutigt. Zudem sind die Steuergesetze günstig und darauf ausgelegt, Wachstumsraten unter Unternehmen zu fördern. Estland belegte im internationalen Tax Competitiveness Index 2022 den ersten Platz und hat das am besten bewertete Steuersystem unter allen OECD-Ländern. Die Körperschaftssteuer wird nur auf die ausgeschütteten Gewinne erhoben, reinvestierte Gewinne bleiben steuerfrei. Durch die in den 90er Jahren etablierte Flat Tax beträgt der Einkommenssteuersatz pauschal 20 Prozent, die Mehrwertsteuer beträgt 20 Prozent für die meisten Güter, für wenige andere, etwa Bücher, nur 9 Prozent.
Viele Gründer dürften diese Regelungen dem komplizierten deutschen Steuersystem vorziehen. Doch das macht Estland noch nicht zu einem klassischen Steuerparadies. e-Residenten können zwar alle e-Services nutzen und somit unkompliziert gründen. Die Besteuerung richtet sich aber stets nach dem Land, in dem der e-Resident seinen Wohnsitz hat. Ohne einen Wohnsitz in Estland wird es also schwierig, von den günstigen Konditionen zu profitieren. Auch sonst erfüllt Estland nicht das Klischee einer Steueroase, denn die Regierung ist äußerst streng bei der Ahndung von Steuerhinterziehung und Betrug.
Viele Freiheiten für Unternehmer, dafür wenig staatliche Fürsorge
Ganz anders als in Deutschland ist die estnische Arbeitslosenhilfe extrem niedrig. Nur wenige hundert Euro erhalten jene, die keiner Arbeit nachgehen, und das nur für eine kurze Zeit. Durch die Flat Tax müssen auch Geringverdiener 20 Prozent ihres Einkommens versteuern. Die Rente beträgt auch für ehemalige Staatsbedienstete nur einen Bruchteil ihres ehemaligen Einkommens und reicht höchstens für tägliche Ausgaben. Dass man sich während der Erwerbstätigkeit ein Wohnobjekt gekauft oder sich günstig eingemietet hat, wird weitestgehend vorausgesetzt.
Dazu gesellen sich hohe Preise, die sich mittlerweile mit Deutschland messen können. Während die Miete in Tallinn nur etwas günstiger ist als im bundesdeutschen Durchschnitt, kostet ein alltäglicher Supermarkteinkauf sogar etwas mehr. Im Restaurant zu essen kostet nicht selten 30 bis 50 Euro pro Person. Die meisten Einheimischen verlassen sich auf die günstige Versorgung mit regionalen Grundnahrungsmitteln, etwa heimische Kartoffeln, Möhren, Zwiebeln, Haferflocken und Äpfel kosten oft weniger als ein Euro pro Kilogramm. Denn trotz annähernder Preisgleichheit liegt das Durchschnittsgehalt bei gerade einmal 1.900 € monatlich und ist damit deutlich niedriger als in Deutschland.
Durch die geringen Energie- und Heizkosten sind Wohnen und Kochen wiederum erschwinglich. Auch das estnische Gesundheitssystem konnte verbessert werden: Die digitale Abwicklung medizinischer und ärztlicher Angelegenheiten hilft, wie auch das breite Netz an Krankenhäusern und Ärzten. Estland ist jedoch kein Sozialstaat, sondern setzt hartes und erfolgreiches Arbeiten voraus. Hierhin auszuwandern ist hauptsächlich für ausländische Unternehmer interessant, wie auch für Expats mit Interesse an digitalen Jobs oder Berufen im Stiftungswesen oder in den großartigen Universitäten.
Aber auch sind weitere Geschäftsmöglichkeiten in Estland für ausländische Unternehmer vielversprechend, darunter Verteidigungs-, Umwelt-, Finanz und e-Health-Technologien. Sprachlich kommt man hier mit Deutsch und Englisch schon besonders weit, und Kenntnisse des Russischen, Finnischen oder Schwedischen sind definitiv von Vorteil. Weniger geeignet ist das Land jedoch für Menschen aus handwerklichen Berufen oder für Rentner.
Wer die Staatsbürgerschaft erlangen möchte, muss einen Wohnsitz, Estnischkenntnisse, ein geregeltes Einkommen und eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung vorweisen können. Die Bürgerschaft kann nur erlangen, wer mindestens schon fünf Jahre lang permanent in Estland gelebt hat. Auch eine Loyalitätsbekundung zum estnischen Staat und zu seiner Verfassung werden vorausgesetzt.
Deutsche und Esten: „wechselvolle Geschichte, gemeinsame Zukunft“
Deutsche finden hier eine Kultur vor, die sie in vielerlei Hinsicht an ihre eigene erinnert. Die Küche ähnelt sich, die Esten haben enorm viele Lehnwörter aus dem deutschen übernommen und sowohl Humor als auch das Wertegefüge erinnern stark an Deutschland. Während hierzulande das mittelalterliche Erbe vergessen und die Digitalisierung weitgehend verschlafen wurde, lebt beides in dem kleinen baltischen Land auf. So finden Deutsche hier nicht nur viele Ähnlichkeiten zu ihrer, sondern auch Spuren von ihrer Kultur.
Vom Mittelalter bis zum frühen 20. Jahrhundert war die Oberschicht Estlands vornehmlich deutschsprachig, denn eine vom Deutschen Orden forcierte Ansiedlung von Vasallen und Sachsen führte zur Belebung des Raumes. Die Deutschritter, wie auch Schweden und Dänen, rodeten Estlands Wälder, christianisierten und bildeten die Bevölkerung und bauten Handelszentren wie Tallinn (dt. Reval), Tartu (dt. Dorpat) und Viljandi (dt. Fellin) aus.
Doch der erstarkende Einfluss des russischen Zarentums schwächte den deutschen Einfluss in Estland im späten 19. Jahrhundert ab. Die starke deutsche Prägung Estlands versiegte spätestens im Zweiten Weltkrieg. Nach über 700 Jahren der Koexistenz von Esten und Deutschen wurden die sogenannten „Deutschbalten“ nach Ostpreussen umgesiedelt, um die von Hitler eroberten Gebiete zu „germanisieren“, während im Rahmen des Paktes mit Stalins der Vorhof Russlands russifiziert werden sollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten zudem viele Spätaussiedler aus Estland nach Deutschland aus. Heute zeigt die Bundesrepublik hier verstärkt Präsenz und will mit ihren Institutionen und mit der Bundeswehr im Baltikum ein Zeichen der Stärke setzen, auch aus Angst, Russland könnte hier seinen ersten Angriff auf die NATO starten. .
Die Zahl der deutschen Staatsbürger in Estland ist daher heute verhältnismäßig gering. Mit 1975 Personen (Stand 2023) betrug sie etwa 0,14 Prozent der Gesamtbevölkerung des kleinen Landes. Doch es gibt sie, Expats, verbliebene Deutschbalten und Abenteurer, die in Estland eine neue Existenz aufbauen. Die deutsche evangelische Gemeinde hält regelmäßig Gottesdienste im Zentrum Tallinns ab, der deutschsprachige Stammtisch wird von Mitarbeitern der Deutschen Botschaft unterstützt und das Goethe-Institut schult junge Estinnen und Esten in der deutschen Sprache.
Institutionen wie die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Friedrich-Ebert-Stiftung haben ein starkes Netzwerk in der Region aufgebaut, und in den großen Universitäten des Landes sieht man hunderte deutsche Auslandsstudenten. Nicht umsonst konstatierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einem Besuch im Jahr 2017, die Esten und Deutschen hätten eine wechselvolle Geschichte, aber eine gemeinsame Zukunft.
Auswandern nach Estland als Deutsche Unternehmer — lohnt sich der hohe Norden?
Es ist ein eigenartiger Reiz, im Winter bei bitterster Kälte und im Sommer bei hohen Temperaturen durch die mittelalterlichen Straßen Tallinns zu laufen. Und nach einiger Zeit gelingt es, sich mit den kühlen, aber von Grund auf ehrlichen Esten anzufreunden und das breit gefächerte kulturelle Angebot in Anspruch zu nehmen. Ost und West treffen in diesem Schmelztiegel aufeinander, und manchmal wird die komplizierte geopolitische Lage des Landes vergessen — wenn etwa zur Sonnenwendfeier Esten, Russen und Einwanderer zusammen feiern und bei einem großen Lagerfeuer an der Ostsee die Nacht durchtanzen.
Gründer können sich bei der Deutsch-Baltischen Handelskammer beraten lassen und bekommen hier eine wichtige Hilfestellung für ihre ersten Schritte in dem kleinen Land. Für Studenten, Expats und junge Unternehmer, die ein modernes Land mit herzlicher Bevölkerung und großartiger Infrastruktur kennenlernen möchten, ist Estland genau das Richtige. Ein paar Tage in den stilvollen Bars und Cafés der estnischen Hauptstadt Tallinn, am sommerlichen Strand in Pärnu oder in der malerischen Stadt Tartu genügen schon, um herauszufinden, ob man sich hier wohlfühlt. Es sollte aber nie vergessen werden, dass die Gründung und Karriere in Estland früher oder später einen festen Wohnsitz und schließlich die Staatsbürgerschaft voraussetzen.