Von der europäischen Festlandsmasse ausgehend, ragt die Apennin-Halbinsel – die den größten Teil des italienischen Staatsgebiets ausmacht - wie ein gigantischer Finger vom Norden nach Süden ins Mittelmeer hinein. Am südlichen Ende dieses Fingers liegt die Insel Sizilien, vom Festland getrennt nur durch die Straße von Messina. Südwestlich von Sizilien, auf der anderen Seite des Mittelmeers, befindet sich in nur 150 Kilometer Entfernung Nordafrika. Die Luftlinie zwischen der Hafenstadt Marsala im äußersten Westen Siziliens und Tunesiens Hauptstadt Tunis stellt gleichzeitig auch die Trennlinie zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil des Mittelmeers dar. Schiffe, die auf ihrer Fahrt den Suezkanal sowie die Straße von Gibraltar durchqueren, müssen diese Trennline passieren.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass Italien aufgrund seiner Geografie dazu prädestiniert wäre, die führende Mittelmeermacht zu sein. Das ist jedoch nicht der Fall - warum? Eine Analyse.
Mittelpunkt der Welt
Das Römische Reich war das mit Abstand mächtigste der Antike. Unsere heutige westliche Welt wurzelt zu nicht geringen Teilen in der römischen Kultur jener Zeit. Über viele Jahrhunderte beherrschte Rom den gesamten Mittelmeerraum, einschließlich Nordafrika und Ägypten, die unter den damaligen klimatischen Bedingungen die „Kornkammern des Römischen Reiches“ waren. Rom selbst war der strahlende Mittelpunkt der Welt.
Unter dem Druck der Völkerwanderungen während der Spätantike zerfiel das römische Imperium, und auf dem Boden Italiens bildeten sich verschiedene germanisch-romanische, eher fragile Nachfolgreiche. Mit der Zeit entstand dann das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das – nicht von der italienischen Halbinsel, sondern von Deutschland aus – an die Tradition des antiken Römischen Reiches anzuknüpfen suchte und den Machtanspruch der deutschen Kaiser auf weite Teile Nord- und Mittelitaliens begründete. Durchsetzen konnten sie ihn allerdings kaum.
Niedergang
Stattdessen erblühten, gerade im Norden des Landes, zahlreiche Stadtrepubliken. Ein einziges Machtzentrum, das Zugriff auf das gesamte italienische Territorium gehabt hätte, entstand jedoch nicht. Vielmehr wurde Italien in der frühen Neuzeit zum Spielball ausländischer Mächte, allen voran Frankreich und Spanien.
Nach der Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 und der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus im Jahr 1492 verlagerte sich zudem das wirtschaftliche Gravitationszentrum Europas, zunächst nach Spanien und später dann nach Frankreich und England. Das Mittelmeer, das die alten Römer noch ihr „Mare Internum“ genannt hatten, wurde zu einem Nebengewässer des Atlantischen Ozeans. Erst nach dem Bau des Suezkanals und mit der Förderung von Öl und Gas im Nahen und Mittleren Osten gewann es wieder an Bedeutung.
Mit dem Jahr 1870 konnte die italienische Einheit schließlich vollendet werden. Diese bereitete allerdings auch den Boden für eine wirtschaftliche Zweiteilung des Landes in einen produktiven, reichen Norden und einen vor allem landwirtschaftlich geprägten, wirtschaftlich schwächeren Süden. Dessen Großgrundbesitzer versäumten eine Modernisierung ihrer überwiegend landwirtschaftlichen Produktion und büßten so an Wettbewerbsfähigkeit ein, was dazu führte, dass die Strukturen im Süden zu verkrusten begannen. Der Norden hingegen fing an, sich immer stärker zu industrialisieren. Heute bildet er zusammen mit den DACH-Ländern – Deutschland, Österreich und die Schweiz – das Epizentrum der europäischen - zu einem nicht geringen Teil mittelständisch geprägten - Industrieproduktion. Die Magistralen über den Brenner und neuerdings auch durch den Schweizer Gotthardtunnel helfen dabei, die Wirtschaftsräume südlich und nördlich der Alpen zusätzlich miteinander zu verklammern.
Großes Potential
Die italienische Wirtschaft blickt also nach Norden, doch der geopolitische Aktivposten des Landes wäre eigentlich seine zentrale Lage im Mittelmeer. Kein anderes Land verfügt über derartig günstige geographische Voraussetzungen, um hier die führende Macht zu werden. Doch andere Akteure – die sich geographisch in einer viele schlechteren Position befinden – betreiben eine deutlich entschlossenere Mittelmeerpolitik. Zu nennen sind hier primär die Türkei und Frankreich. So ringen diese beiden Länder zur Zeit in Libyen um Einfluss, einem Land, das in den geopolitischen Überlegungen Italiens bis vor Kurzem eine herausragende Rolle spielte und das – geographisch betrachtet –, eher der italienischen Einflusssphäre zuzurechnen wäre.
So wurde das italienische Wirtschaftswunder der 1950er Jahre von einer vorausschauenden Energiepolitik gestützt, die unter anderem zur Gründung des noch heute weltweit agierenden Mineralölkonzerns ENI führte. Neben dem Iran und Algerien war es eben genau jenes Libyen, das immer im Zentrum des italienischen Interesses stand, auch und gerade, was die Interessen ENIs anging. Doch heute hat Italien, statt Einfluss an die südlichen Gestade des Mittelmeeres zu projizieren und sich damit als führende Gestaltungsmacht der Region zu etablieren, damit zu kämpfen, dass fast ganz Nordafrika nach dem „Arabischen Frühling“ politisch instabiler geworden ist, ohne dass Rom in irgendeiner Weise für Ordnung sorgen könnte. Warum ist das so?
Nur ein Spielball
Einer der Hauptgründe (neben Italiens allgemeiner politischer und wirtschaftlicher Schwäche) liegt darin, dass das Land – das, genau wie Deutschland, zu den Verlierer-Nationen des Zweiten Weltkrieges gehört – inzwischen durch seine Mitgliedschaft in der EU und vor allem in der NATO fest in den westlichen und damit letzten Endes US-amerikanischen Machtbereich eingebunden ist. Und dies in stärkerem Maße als seine beiden Rivalen im Mittelmeer, nämlich die Türkei und das aus dem Zweiten Weltkrieg als Siegernation hervorgegangene Frankreich. Dies lässt sich schon daran erkennen, dass sich das Kommando der 6. US-Flotte in Neapel befindet. Deren Einsatzbereich erstreckt sich weit über das Mittelmeer hinaus. Die militärisch-strategische Bedeutung Italiens für die USA dürfte auch den Spielraum des Landes bezüglich einer stärkeren Anbindung an das chinesische Projekt der „Neuen Seidenstraße“ beschneiden. So dürfte die Idee, italienische Seehäfen zu Logistik-Brückenköpfen und damit zu Einfallstoren Chinas nach Europa auszubauen, auf amerikanisches Missfallen stoßen.
Vor diesem Hintergrund dürfte sich der geopolitische Spielraum Italiens erst dann wieder vergrößern, wenn sich die Machtachsen auf dem Globus verschieben. Die Schlüsselfrage wäre hier, ob sich die USA entschließen, ihr – letzten Endes sehr kostspieliges - Imperium aufzugeben und eine multipolare Weltordnung zuzulassen. Donald Trump schien dieses Ziel, zumindest verbal, zu verfolgen, indem er mehrfach ankündigte, amerikanisches Militär aus Ländern wie Afghanistan oder Syrien abziehen zu wollen. Damit konnte er sich allerdings nicht durchsetzen. Und die Vereidigung Joe Bidens zum 46. Präsidenten der USA legt nunmehr die Vermutung nahe, dass die USA ihr Engagement im Nahen Osten wieder ausweiten und Russland dort wie auch in Osteuropa stärker herausfordern werden. Für Italien bedeutet dies, dass die transatlantischen Bande noch straffer gespannt und Italiens außenpolitische Gestaltungsmöglichkeiten dadurch weiter verringert werden. Der neugewählte italienische Premier Mario Draghi dürfte dem nicht im Wege stehen.
In unserer großen geopolitischen Serie sind bisher erschienen:
Russland:
China:
Deutschland:
USA:
Großbritannien:
deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/506643/Großbritannien-Wiedergeburt-eines-Empires
Türkei:
Japan:
Saudi-Arabien:
Frankreich:
Zentralasien:
deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/509203/Zentralasien-Das-Zentrum-des-Schachbretts