Die erste Weltmacht der Frühen Neuzeit war Spanien. Nachdem die Kronen von Kastilien, Aragon und Navarra in Personalunion vereinigt worden waren, herrschte Karl V. als erster König des neugeschaffenen Staates. Dieser nannte Besitzungen in Italien sowie den Niederlanden sein Eigen und kolonisierte weite Teile Mittel- und Südamerikas. Die große Entfernung zwischen dem Mutterland und seinen Kolonien führte dazu, dass man von Spanien als dem „Reich, in dem die Sonne nie untergeht“ sprach. Und auch heute liegen Spaniens geostrategische Interessen zu einem guten Teil außerhalb Europas. Das liegt nicht zuletzt in seiner Geografie begründet. Eine Analyse.
Blütezeit
An ihrer engsten Stelle ist die Straße von Gibraltar, die Spanien von Afrika trennt, nur 14 Kilometer breit. Auf der afrikanischen Seite der Meerenge besitzt Spanien zwei Exklaven: Ceuta und Melilla. Bis zum Jahr 1975 war zudem Spanisch-Sahara, südlich von Marokko gelegen, eine spanische Kolonie. Tatsache ist, dass die Bande zwischen Spanien und Nordafrika bis in das frühe Mittelalter zurückreichen. Im Jahr 711 setzte ein aus Arabern und Berbern bestehendes Invasionsheer bei Gibraltar nach Spanien über und besiegte die westgotischen Verteidiger. In den folgenden Jahren geriet fast die gesamte iberische Halbinsel unter muslimische Kontrolle. Was folgte, war eine Epoche kultureller Blüte - zu einer Zeit, die in Europa gelegentlich als das „finstere Mittelalter“ bezeichnet wird. Córdoba, im heutigen Andalusien gelegen und die Hauptstadt des gleichnamigen Kalifats, wurde zum Kristallisationspunkt der Künste und der Wissenschaften. Später übernahm Granada diese Rolle, bis es am 2. Januar 1492 nach Jahrhunderten der „Reconquista“ – der christlichen Wiedereroberung Spaniens – in die Hände der katholischen Könige Ferdinand und Isabella fiel.
Nach der vollendeten Reconquista fiel der Startschuss für die Entdeckungsreisen des Christoph Kolumbus. Sein Ziel war es, einen Seeweg nach Indien zu finden und damit die alten Karawanenwege durch den Orient - über die asiatische Güter auf schwerfällige Weise zum Mittelmeer transportiert wurden -, zu umgehen. Die Entdeckung Amerikas, die das Ergebnis von Kolumbus´ Bemühungen war, führte zu einer nachhaltigen Verschiebung der Machtachsen auf dem Globus. Durch den Zustrom von Gold und vor allem Silber stieg Spanien zwischenzeitlich zur ersten Macht Europas auf.
Niedergang
Allerdings bewirkte der Zufluss an Reichtum auch einen Anstieg der Preise. Güter aus dem Norden Europas wurden erschwinglicher, ein gewisses Maß an Lethargie brach sich Bahn, und Spanien verpasste es, die Grundlagen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu legen. Der Niedergang des Landes vollzog sich schleichend, wird allerdings schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erkennbar. Schelmenromane wie der „Lazarillo von Tormes“ legen von dieser Zeit Zeugnis ab.
Trotz einer kulturell ungeheuer produktiven Zeit, die im sogenannten „Siglo de Oro“, dem goldenen Zeitalter, ihren Ausdruck fand und die Schriftsteller wie Cervantes und Maler wie Velázquez hervorbrachte, wurde Spanien von den wirtschaftlichen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen in Westeuropa immer mehr abgeschnitten. Die Aufklärung und die industrielle Revolution fanden weiter im Norden statt, jenseits der Pyrenäen. Bis heute beeinflusst der Umstand, dass sich das Land - zusammen mit Portugal - am südwestlichen Rand Europas und damit auch der EU befindet, während etwa Deutschland im Zentrum liegt, Spaniens Geschicke. Aus seiner Randlage ergibt sich, dass Spaniens geoökonomische Interessen nicht nur nach Europa, sondern auch nach Süden, also nach Afrika, und nach Südwesten, also nach Mittel- und Südamerika, ausgerichtet sind.
Europa und Afrika: Herausforderungen und Chancen
Die Bevölkerung Afrikas wächst rapide. Dies wird in den kommenden Jahren, vielleicht Jahrzehnten, den Migrationsdruck erhöhen – auch und gerade auf Spanien. Bereits heute sind die Immigranten an der spanischen Exklave Ceuta – trotz ihrer stark gesicherten Grenze - kaum noch abzuwehren. Auch auf den kanarischen Inseln, die der afrikanischen Küste vorgelagert sind und zu Spanien gehören, landen immer mehr Immigranten.
Jedoch ergeben sich aus dem afrikanischen Bevölkerungswachstum auch Chancen für Spanien: Auf absehbare Zeit werden Investitionen in die afrikanische Infrastruktur und Konsumgüter-Industrie zunehmen. Hier werden sich spanische Firmen Marktanteile sichern.
Dies birgt allerdings Konfliktpotential, vor allem mit der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, die in Afrika ihre eigenen Interessen verfolgt. Paris hat andererseits aber auch noch andere Interessen: Es ist bestrebt, den deutschen Einfluss innerhalb der EU durch informelle Allianzen unter den Mittelmeerstaaten zu beschneiden – ein Vorhaben, für das es auch Spanien ins Boot holen muss. Die sowohl historisch als auch geografisch bedingte Aufsplitterung Europas in viele - noch dazu relativ kleine - Staaten erfordert eine mehrdimensionale Diplomatie, auch unter den Nationen, die sich unter dem Dach der EU zusammengeschlossen haben. Spanien, das in Zukunft eine wichtige Brückenfunktion zwischen Europa und Afrika übernehmen könnte, könnte aus dieser Gemengelage durchaus Vorteile ziehen, denn es sieht seine diplomatischen Kräfte weder auf dem zentraleuropäischen Schachbrett noch durch einen übertriebenen Antagonismus gegenüber Russland gebunden.
Lateinamerika: Mit starker Soft Power
Während Spanisch auf dem afrikanischen Kontinent keine große Rolle spielt, ist es in den meisten Ländern Süd- und Mittelamerikas Landessprache und findet auch in den USA – migrationsbedingt – zunehmend Verbreitung. Jedoch bleibt das Entwicklungspotential Süd- und Mittelamerikas - auch aus geographischen Gründen - hinter dem Nordamerikas zurück. So besteht der Norden Mexikos zu großen Teilen aus Wüsten, während die Anden, weiter im Süden, die am Pazifik gelegenen Städte Südamerikas von den östlichen Teilen des Kontinents abschneiden. Die Regenwälder Amazoniens stellen fein austarierte Ökosysteme dar, die sich auf relativ unfruchtbaren Böden herausgebildet haben. Ihre Abholzung zu landwirtschaftlichen Zwecken dürfte daher mittel- und langfristig zur Verödung weiter Landstriche führen. Klimatisch begünstigte Länder wie Argentinien wiederum sind weit entfernt von den Hauptrouten des internationalen Handelsverkehrs. Dies alles mag die Bedeutung Südamerikas für Spanien relativieren.
Dennoch ist Lateinamerika keine zu vernachlässigende Größe, was sich allein schon daran erkennen lässt, dass es über eine Bevölkerung von rund 625 Millionen Menschen verfügt. Im Umgang mit der Region verfügt Spanien aufgrund der gemeinsamen Sprache und Religion sowie einer gewissen kulturellen Nähe über beträchtliche „Soft Power“ und damit Wettbewerbsvorteile.
Randlage kein Nachteil
Eines lässt sich auf Grundlage der oben beschriebenen Gegebenheiten und Entwicklungen konstatieren: In einer sich weiter globalisierenden Welt muss Spaniens Randlage im Südwesten Europas kein Nachteil sein.
In unserer großen geopolitischen Serie sind bisher erschienen:
Russland:
China:
Deutschland:
USA:
Großbritannien:
deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/506643/Großbritannien-Wiedergeburt-eines-Empires
Türkei:
Japan:
Saudi-Arabien:
Frankreich:
Zentralasien:
deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/509203/Zentralasien-Das-Zentrum-des-Schachbretts
Italien:
Österreich:
deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/511103/OEsterreich-Im-Westen-verankert-den-Blick-nach-Osten
Iran:
Indien:
Nord- und Südkorea:
Arktis:
Schweiz:
Balkan:
Südostasien: