Politik

Russland wird sich vielleicht nicht die Ukraine einverleiben - dafür aber Moldawien oder Kasachstan

Lesezeit: 8 min
13.02.2022 08:17
Der polnische Publizist Adam Michnik analysiert die strategische Lage in Europa. Er sagt: Putin wird seinem Volk eine weitere "Dosis" verabreichen.
Russland wird sich vielleicht nicht die Ukraine einverleiben - dafür aber Moldawien oder Kasachstan
Die "Mutter-Heimat-Statue" in Kiew. (Foto: dpa)
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Irena Grudzińska Gross: Es war ungewöhnlich, dass US-Präsident Joe Biden eine Pressekonferenz über die Tötung des Anführers des IS abhielt; dieser hatte nicht annähernd die Bedeutung seines Vorgängers und schon gar nicht die von Osama bin Laden. War das eine indirekte Antwort auf die Wahrnehmung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dass die USA – gedemütigt im Ausland und gespalten zu Hause – eine geschwächte Macht sind?

Adam Michnik: Putin ist mit Sicherheit überzeugt, dass der Westen heute schwächer ist denn je. Doch rührt sein Verhalten auch aus seiner antiamerikanischen Paranoia. Putin glaubt, dass sich alles, was die Amerikaner tun, gegen Russland richtet. Ich weiß nicht, ob das, was derzeit in Syrien passiert, mit den Ereignissen in Donezk in Verbindung steht. Aber in Putins Augen besteht mit Sicherheit eine derartige Beziehung. Das ist typisch für eine bestimmte Art von politischem Führer. Wir in Polen haben auch so jemanden. Jarosław Kaczyński [der Vorsitzende der regierenden „Partei für Recht und Gerechtigkeit“ (PiS)] sieht hinter jedem Fehlschlag eine Verschwörung feindseliger Kräfte am Werk. Und die feindseligen Kräfte sind alle, die ihm nicht lautstark applaudieren.

Ich halte Biden für einen Politiker, der sich über Putins Russland keine Illusionen macht. Er möchte realistisch sein und will keinen Krieg, aber lehnt eine Politik des Appeasements und Zurückweichens ab. So verstehe ich die Aussagen der Amerikaner, seit Russland angefangen hat, Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammenzuziehen, und sie sind vernünftig. Das setzt natürlich voraus, dass die den Demokraten und Biden – und tatsächlich den Grundlagen der amerikanischen Demokratie selbst – feindselig gegenüberstehenden innenpolitischen Kräfte sich in den USA nicht durchsetzen. Ansonsten könnte sich dieser Ansatz als zahnlos erweisen.

Irena Grudzińska Gross: Was halten Sie von der Haltung der Ukrainer? Vor einigen Tagen hörte ich ein Gespräch mit Timothy Snyder, der den ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj kritisierte, wenn auch nicht die Haltung der ukrainischen Regierung.

Adam Michnik: Selenskyj kam von außen in die Politik. Er wurde von Ihor Kolomojskyj gesponsert, einem ukrainischen Oligarchen, der gleichwohl im ersten Konflikt seines Landes mit Russland 2014 einen starken Beitrag geleistet hat. Kolomojskyj finanzierte und bewaffnete damals freiwillige Militäreinheiten, die sich als entscheidend dabei erwiesen, die Offensive der Donbass-Separatisten und der russischen Soldaten zu stoppen. Ich habe Selenskyj nie getroffen, und er ist mir ein Rätsel. Ich werde weder aus seinem Verhalten schlau noch kann ich mir eine klare Meinung über seine Politik bilden. Doch verfolgt Selenskyj angesichts einer Bedrohung, der man durch Einigkeit begegnen muss, zu oft die Interessen seines politischen Milieus oder seiner eigenen Person. Es erscheint mir zudem als unprofessionell, zu erklären, dass keine militärische Gefahr bestünde, und zugleich den Westen um Waffen zu bitten. Auch das finde ich schwer verständlich.

Irena Grudzińska Gross: Glauben Sie nicht, er will damit signalisieren, dass er mit Russland Verhandlungen anstrebt oder bereits führt?

Adam Michnik: Meine Vermutung ist, dass er direkt mit Putin sprechen möchte. Aber lassen Sie uns hier nicht am Kern der Sache vorbeireden: Die für die heutige Ukraine-Situation verantwortliche Person ist Putin. Und keine Kritik an Selenskyj kann etwas daran ändern, dass Putin der Aggressor ist und die Ukraine der Gegenstand seiner Aggression. Das ist grundlegend, und die Frage, auf die es jetzt ankommt, ist, was Putin zu tun beabsichtigt.

Irena Grudzińska Gross: Was genau sind seine Ziele?

Adam Michnik: Als er begann, seine Truppen aufmarschieren zu lassen, hatte er etwas im Visier, aber dann kollidierte er mit etwas anderem. Vielleicht hatte er kalkuliert, dass der Westen und Biden in Schwierigkeiten wären und deshalb der Zeitpunkt zum Losschlagen gekommen sei. Eine entschlossene westliche Reaktion – oder zumindest der Anschein einer solchen – ist eine Überraschung für ihn. Es spielt keine Rolle, ob er an die außergewöhnlich harten Sanktionen glaubt, die zu verhängen der Westen angedroht hat, falls er in der Ukraine einmarschiert; man hat sie ihm vorbuchstabiert. Er will keine totale militärische Konfrontation, aber kluge Leute – nicht nur in der Ukraine – erinnern uns daran, dass auch keiner den Ersten Weltkrieg wollte.

Irena Grudzińska Gross: Glauben Sie, es besteht eine unmittelbare Gefahr einer derartigen Entwicklung?

Adam Michnik: Ich glaube nicht, dass Putin offen angreifen wird. Ich denke, er wird tief verwurzelte russisch-sowjetische Taktiken anwenden. Das heißt, er wird sich zurückhalten, solange die öffentliche Meinung im Westen mobilisiert bleibt, und abwarten, bis die Welt einen Seufzer der Erleichterung ausstößt, dass ein Konflikt vermieden wurde. Sie werden sich erinnern, so war das 1968 in der Tschechoslowakei. Der sowjetische Einmarsch in jenem August erfolgte drei Wochen nach einem Treffen in Čierna nad Tisou, wo der tschechoslowakische KPČ-Chef Alexander Dubček und der sowjetische Generalsekretär Leonid Breschnew einander in die Arme fielen. Es sah aus, als wäre die Krise abgewendet.

Irena Grudzińska Gross: Die heutige Krise legt eine radikale Veränderung beim geopolitischen Status quo insbesondere in Europa nahe. Was ist passiert? Hat sich Europa derart verändert?

Adam Michnik: Europa hat sich nicht besonders stark verändert. Putin hat Europas tragende Struktur mit Tritten traktiert, und der dadurch angerichtete Schaden ist unübersehbar. Natürlich konsolidieren sich die antidemokratischen Kräfte, und die Europäische Union hat etwas von ihrer Attraktivität verloren. In Italien führen Matteo Salvinis Lega und Fratelli d’Italia den populistischen Angriff an. In Spanien gibt es Vox. Ich bin schockiert, dass der bekannte spanische Journalist Hermann Tertsch, ein guter Freund von mir, denen beigetreten ist.

Und dann ist da der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, ein autoritäres Vorbild für Kaczyński. Orbán hat eine andere Vorstellung von Europa, dieselbe wie Marine Le Pen in Frankreich. Von einer jüngsten Konferenz der Euroskeptiker in Spanien ist Orbán direkt nach Moskau geflogen, um mit Putin Champagner zu trinken. Auch das ist eine überraschende Veränderung: Ich hätte mir nie vorstellen können, dass der Orbán, den ich vor drei Jahrzehnten kannte, ein Putin-freundlicher Rechter werden würde. Aber wir wissen, dass ein derartiger Verrat in der europäischen Geschichte nichts Unbekanntes ist. Jacques Doriot etwa, die Nr. zwei der Kommunistischen Partei Frankreichs, war später ein Verbündeter von Pierre Laval, dem Vichy-Ministerpräsidenten, der dann als Nazi-Kollaborateur hingerichtet wurde. In diesem Sinne also hat sich Europa durchaus nicht stark verändert.

Irena Grudzińska Gross: Was ist Ihre Sicht der heutigen europäischen Strategie gegenüber Russland?

Adam Michnik: Europa verhält sich vernünftig, wenn auch vielleicht nicht besonders heroisch. Aber die Union besteht nicht aus Winkelrieds (ein Schweizer Held, der angeblich in der Schlacht bei Sempach im Jahr 1386 unter Aufopferung seines Lebens eine Bresche in die Reihen der feindlichen Habsburger schlug - Anm. d. Red.). Natürlich sind die Deutschen am vorsichtigsten, aber man muss ihre Vorsicht verstehen. Ein Staat, der einen derartigen historischen Ballast wie die Hitler-Zeit mit sich herumschleppt, muss vorsichtig sein. Ich würde mich mit Kritik an Deutschland sehr zurückhalten. Ich erinnere mich an ein Gespräch, dass ich mit einem führenden deutschen Politiker über Afghanistan oder den Irak hatte. „Adam, sag mir die Wahrheit“, forderte er mich auf. „Was würde dich mehr in Besorgnis versetzen: ein Deutschland, das zu pazifistisch ist, oder eines, das zu militaristisch ist?“ Das hat mich zum Schweigen gebracht.

Irena Grudzińska Gross: Die USA schicken nun 1.700 Soldaten nach Polen. Besorgt sie das angesichts der derzeitigen Spannungen?

Adam Michnik: Je besser die US-polnischen Beziehungen, desto besser für Polen. Das schließt die militärischen Beziehungen ein. Polens Pech ist seine Regierung. Es scheint, als stünde diese Regierung am Rande des Zusammenbruchs, doch sind die Wähler sehr anfällig für autoritäre, populistische, antideutsche, fremdenfeindliche, antisemitische, nationalistische und isolationistische Slogans. Durch internationalen Druck wird sich das Verhalten dieser Regierung nicht ändern. Wir Polen müssen diese Situation lösen. Der Westen tut bereits, was er kann, um zu helfen, und zwar eine Menge.

Irena Grudzińska Gross: Ist diese Regierung zugleich auch antirussisch?

Adam Michnik: Das ist eine sehr interessante Frage. Rhetorisch ja. Doch richtet sich die PiS-Propaganda überwiegend gegen die EU und Deutschland. Es gibt ein polnisches Narrativ des Märtyrertums – Katyń, und so weiter –, aber irgendwelche konkreten Auswirkungen hat das nicht. Selbst Kaczyńskis Unterstützung für alle möglichen Verschwörungstheorien über den Flugzeugabsturz 2010 in Smolensk, bei dem sein Zwillingsbruder, der damalige Präsident Lech Kaczyński, und 95 weitere Personen ums Leben kamen, hat nur zu mehr Verwirrung geführt.

Man hat dem ehemaligen polnischen Ministerpräsidenten und ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk vorgehalten, dass er die Russen nicht gezwungen habe, Polen das Wrack zu übergeben. Doch hat es die gegenwärtige Regierung in sechs Jahren an der Macht nicht geschafft, das Flugzeug zurückzubekommen, und niemand kann seine Rückgabe bewerkstelligen, sofern er nicht bereit ist, zu erklären, dass Putin der ehrlichste Mensch der Welt und an jeglichen und allen Verbrechen unschuldig ist. Viele Menschen in Polen fragen sich, ob Kaczyński bewusst ist, dass er das Land in Richtung eines „Polexit“ aus der EU führt und eine prorussische Politik betreibt. Ich glaube nicht. Aber ich bin mir nicht sicher, ob seine Entourage nicht vom russischen Geheimdienst infiltriert wurde. Auf jeden Fall werde ich wiederholen, was ich schon oft gesagt habe: Wenn ich jetzt in Moskau und Chef der Lubjanka (Sitz des russischen Inlandsgeheimdienst FSB - Anm. d. Red.) wäre, würde ich täglich eine katholische Messe für Kaczyński lesen lassen und beten, dass er sich keinen Schnupfen holt. Einen besseren Verbündeten könnten sie dort nicht finden.

Irena Grudzińska Gross: Und das betrifft nicht nur Kaczyński und die PiS. Die Grundeinstellung der europäischen extremen Rechten scheint pro Putin zu sein.

Adam Michnik: Womöglich ist das ein Gelegenheitsbündnis. Doch besteht kein Zweifel, dass sowohl Vox als auch Le Pens Rassemblement National in Kreml-Kredite verstrickt sind. Das ist natürlich nicht entscheidend; sie wären auch ohne russisches Geld europafeindlich. Das europäische Projekt ist trotz all seiner Fehler, Korruption und Schwäche ein liberales Projekt, das sich der Demokratie und der Freiheit des Individuums verschrieben hat. So ein Projekt wollen sie nicht.

Es gibt in Europa und den USA Menschen, die die Demokratie ablehnen. Das war an den Slogans zu erkennen, die die Ausschreitungen von Donald Trumps Anhängern am US-Kapitol am 6. Januar 2021 begleiteten. Und all die Lügen und Unwahrheiten der Republikaner haben die Gefahr seitdem noch erhöht. Eine Gesellschaft, die lange Zeit unter einem demokratischen System gelebt hat, wird anfällig für Demokratiemüdigkeit – eine Überzeugung, dass die Demokratie hedonistisch sei und keine höheren Werte verkörpere. So eine Stimmung wirkt wie Kohlenmonoxid, wie ein giftiges Gas. Die Menschen verlieren ihre Rationalität. Einige gelangen zu der Überzeugung, dass es ihr Lebenszweck sei, für ihr Vaterland, ihren Glauben, und so weiter zu sterben.

Irena Grudzińska Gross: Ich möchte gern noch einmal auf das Szenario für die kommenden Monate zurückkommen. Sie haben gesagt, dass Putin den Einmarsch verschieben wird.

Adam Michnik: In Russland ist faktisch alles von einem Mann abhängig. Wenn ich „alles“ sage, dann meine ich Entscheidungen. Putin ist womöglich nicht in der Lage, jedes Szenario umzusetzen, aber er hat die politische Macht noch stärker bei sich konzentriert als selbst Stalin das getan hat. Stalin waren zumindest formell durch sein „Politbüro“ Grenzen gesetzt – ein politisches Gremium, das ihm im Prinzip Dinge hätte abschlagen können, auch wenn es das natürlich nicht tat. Putin hat kein Politbüro; er ist allmächtig: ein absoluter Monarch, ein Cäsar.

Aber ich bin überzeugt, dass Putin nach 22 Jahren an der Macht nichts Positives zur russischen Politik mehr beizutragen hat. Welches Potenzial auch immer seine Führung einst für Russland barg: Es hat sich erschöpft. Und weil es keinen Mechanismus für einen friedlichen Machtwechsel im Kreml gibt, bleibt nur die düstere Dynamik fortgesetzten Verfalls. Das ist wie bei einem Fahrrad, das sich vorwärts bewegen muss, um sich aufrecht zu halten. Die Frage ist, wann das Fahrrad anhalten und wie es dann fällt.

Es muss etwas passieren, weil Putin sich aufrecht halten will. Daher wird er sich für etwas entscheiden, was die Russen als „kleine siegreiche Kriege“ bezeichnen. Das kann Charkiw sein, Odessa, Moldau oder Kasachstan. Es wird ablaufen genau wie im Falle der Krim. Das ist ähnlich wie bei einem Narkotikum: Zuerst ist da Euphorie, auf die dann das Verlangen nach einer weiteren Dosis folgt.

Irena Grudzińska Gross: Sie glauben also, dass es eine innere russische Dynamik in Richtung Aggression gibt?

Adam Michnik: Ich erinnere mich an die erstaunte Reaktion des Kremls auf die Wahl von Selenskyj. Die Russen hielten es für unmöglich, dass er gewählt werden könnte. Der ehemalige Präsident Petro Poroschenko hielt alle Trümpfe in der Hand: die Armee, Geld, Macht. Er musste gewinnen, weil er das zumindest in Russland getan hätte. Stattdessen verlor Poroschenko deutlich und akzeptierte seine Niederlage.

Der Kreml war fassungslos – und verfiel in Schweigen. Doch es dauerte nicht lange, bis sich Nervosität verbreitete. Wenn so einer – ein junger Schauspieler aus einer beliebten Comedy-Show im Fernsehen – die Präsidentschaftswahl in Kiew gewinnen konnte, dann könnte so etwas, Gott behüte, womöglich auch in Moskau passieren. Das ist, wo Russland heute steht. Das Regime ist besorgt, unsicher und weiß nicht, was passieren soll.

Das kann eine gewisse Zeit so bleiben; es ist eine Stabilität des Verfalls. Sie erinnern sich, wie das mit Breschnew war. Auch damals wussten alle, dass der Mann, der das Sagen hatte, eine wandelnde Mumie war. Doch sie hielten bis zu Ende an ihm fest, weil das Sowjetsystem nicht über einen verlässlichen Mechanismus verfügte, um einen Machtwechsel herbeizuführen. Daher lässt sich unmöglich vorhersagen, was mit Putin und Russland passieren wird. Aber passieren wird etwas. Schließlich konnte nicht einmal Stalin ein Dekret des Politbüros bewirken, dass den Tod verbot.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Adam Michnik war einer der Anführer der Solidarność-Bewegung des Jahres 1989 und Teilnehmer der Verhandlungen am Runden Tisch, die die kommunistische Herrschaft in Polen beendeten. Er ist Herausgeber der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“. Irena Grudzińska Gross ist Professorin am "Institut für slawische Studien" der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

Copyright: Project Syndicate, 2022.

www.project-syndicate.org


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