20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden unter seelischen Erkrankungen. Eine Zahl, die dem Vorstandsvorsitzenden der Stiftung für psychische Gesundheit von Kindern, Gerd Lehmkuhl, zufolge Sorgen machen muss - vor allem, weil sich qualitativ offenbar unter der Oberfläche dramatische Veränderungen abspielen: „Wir haben Hinweise, dass Kinder häufiger an schweren Erkrankungen leiden“, sagte Lehmkuhl den Deutschen Wirtschafts Nachrichten. Zusätzlich dazu gebe es heute „eine größere Sensibilität für die psychischen Auffälligkeiten und damit mehr Diagnosen und Behandlungsfälle“, bestätigte Kay Funke-Kaiser von der Bundeskammer der Psychotherapeuten den Deutschen Wirtschafts Nachrichten.
Experten rechnen dennoch damit, dass bis 2020 die Zahl der psychischen und psychosomatischen Erkrankungen im Kindesalter international auf über 50 Prozent ansteigen wird, so die Stiftung für psychische Gesundheit von Kindern. Dann würden seelische Erkrankungen zu den fünf häufigsten Ursachen von Krankheits- und Sterbefällen in dieser Altersgruppe gehören.
Durch alle Altersklassen
Je nach Alter sind unterschiedliche Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen vorzufinden. Bei Säuglingen und Kleinkindern zum Beispiel spricht man bei sehr häufigen Schreien, vermindertem Interesse oder Schwierigkeiten beim Füttern von Auffälligkeiten, erklärt die LVR-Klinik Viersen (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie). Während der Kindergarten- und Schulzeit können Trennungsangst, Lernprobleme, aggressives Verhalten, Einnässen und Aufmerksamkeitsdefizitstörungen Anzeichen für eine seelische Erkrankung sein. Bei Jugendlichen äußert sich dies ähnlich wie bei Erwachsenen in Ess-Störungen, Schizophrenie, Depression, Zwangsstörungen etc.. Die am häufigsten vorkommenden seelischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind Angststörungen, depressive Störungen, Ess-Störungen und Aufmerksamkeitsdefizit bzw. Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), so die Stiftung für psychische Gesundheit von Kindern.
Soziales Umfeld wichtig
Grundsätzlich kann die Erkrankung an einer psychischen Störung nicht nur auf eine einzelne Ursache zurückgeführt werden. Doch das soziale Umfeld, die familiären Verhältnisse des Kindes bzw. der Jugendlichen, spielt dabei eine große Rolle – kann eine negative gesundheitliche Entwicklung zumindest begünstigen. Thomas Lampert vom Robert-Koch-Institut hat etwa die materielle Benachteiligung „zweifellos“ Auswirkungen auf die Psyche des Kindes oder des Jugendlichen. „Eltern, die mit ihrer eigenen Lebenssituation zu kämpfen haben, können ihren Kindern häufig nicht die gleiche Zeit widmen und auch nicht die gleiche emotionale Sicherheit geben wie Väter und Mütter mit einer positiven Lebensperspektive“, so Lampert in einem Bericht des Robert-Koch-Instituts. „Tatsächlich beobachten wir, dass Jungen und Mädchen aus benachteiligten Familien deutlich anfälliger für Entwicklungsstörungen und psychische Probleme sind.“
In diesem Zusammenhang ist auch eine Studie der Kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätskliniken in Ulm und Basel zu sehen. Dafür wurden über mehrere Jahre hinweg in 64 Heimen der Schweiz Kinder und Jugendliche untersucht. Das Ergebnis: 75 Prozent der Heimkinder sind psychisch krank. „Diese erschreckenden Zahlen zu psychischen Erkrankungen bei Heimkindern weisen auf einen großen Handlungsbedarf auch in Deutschland hin“, sagt Peter Lehndorfer, Vorstandmitglied der Bundespsychotherapeutenkammer. Durch ein rechtzeitiges und niedrigschwelliges Angebot psychotherapeutischer Hilfen könnten aber Risikoentwicklungen verhindert werden.
Hoher schulischer Druck und der steigende Medienkonsum mit „vielfältigen Multitasking“ und zunehmender Belastung und Stress spielen Gerd Lehmkuhl zufolge auch eine Rolle bei der seelischer Erkrankungen von Kindern. Deshalb wären eine bessere familiäre Einbindung, eine intensivere schulische Unterstützung und auch eine höhere Sensibilität der Gesellschaft für die psychischen Nöte und Belastungen von Kindern vonnöten.
Achtung bei falscher Medikation
In jedem Fall sei es wichtig, dass bei dem Verdacht einer psychischen Erkrankung „richtig diagnostiziert und angemessen behandelt wird“, sagte Kay Funke Kaiser den Deutschen Wirtschafts Nachrichten. „Davon können wir allerdings nicht immer ausgehen, weil die Wartezeiten für eine Untersuchung durch einen Psychotherapeuten oder qualifizierten Facharzt lang sind und hier gegebenenfalls vorschnell eine Diagnose vom Kinderarzt gestellt und Psychopharmaka verordnet werden.“ Daher sei es wichtig, dass nicht vorschnell und womöglich falsch behandelt werde. „Dazu gehört Prävention durch klare Strukturen, kindgerechte Anforderungen, emotionale Zuwendung und Unterstützung und die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und Individualität.“
Hinweis: Arte zeigt hier eine einstündige Dokumentation zu dem Thema.