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Neue Parteien eilen von Erfolg zu Erfolg: Nur Deutschland schläft

Lesezeit: 7 min
24.01.2013 01:30
Weltweit erringen neue Parteien spektakuläre Wahlsiege, zuletzt am Dienstag in Israel. Alle haben auffällige Gemeinsamkeiten: Sie kritisieren das jeweils herrschende System fundamental. Sie prangern die Korruption an. Sie fordern mehr Selbstbestimmung und eine Sicherung der Bürgerrechte. In Deutschland dagegen herrscht gespenstische Ruhe. Liegt es nur am Wohlstand?
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Israel und die Welt staunten nicht schlecht, als am Dienstag eine völlig neue Partei von den Wählern auf Anhieb auf Platz zwei katapultiert wurde. Nur die Partei des Regierungschefs Benjamin Netanjahu konnte sich mit Ach und Krach vor den Newcomern platzieren. Der Gewinner der Wahlen ist jedoch eindeutig Yair Lapid. Der ehemalige TV-Journalist kam mit seiner liberalen Partei Yesh Atid auf 19 Mandate.

Keines der neuen Knesset-Mitglieder von Yesh Atid hat politische Erfahrung. Doch genau das mache die Partei aus, so Dov Lipman: „Es ist Zeit für neue Menschen, neue Gesichter und wir freuen uns darauf“, erklärt der Rabbiner, der nun als Abgeordneter in die Knesset einzieht.

Der Erfolg von Yesh Atid geht auf die Massenproteste zurück, die in Israel vor zwei Jahren zu Gefühlen wie beim Prager Frühling geführt hatten. Die Mehrzahl der Israelis ist es leid, dass das Land im Grund von einigen wenigen Familien regiert wird. Zahlreiche Korruptions-Skandale haben das Vertrauen der Israelis in die „System-Erhalter“ erschüttert. Sie wollen die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich nicht einfach hinnehmen.

Lapid ist aus dem Nichts gekommen und zu einer Gallions-Figur geworden. Der ehemalige Moderator von Channel 2 gab keine Interviews, hielt sich vom Establishment fern. Die Regierenden witterten die Gefahr. Als ruchbar wurde, Lapid könnte eine eigene Partei gründen, wollte die Regierung noch schnell ein Gesetz verabschieden, dass es Journalisten untersagte, im Anschluss an ihre Karriere in die Politik zu wechseln. Lapid sollte ein Jahr Wartezeit auferlegt bekommen. Doch dieses reaktionäre Ansinnen war nicht mehr durchzusetzen. Lapid hatte seine Anhänger über Facebook gesammelt.

Das Parteiprogramm von Yesh Atid ist klar strukturiert. Zu den Zielen gehören die Stärkung der Mittelklasse, die Etablierung von einheitlichen Bildungsstandards, eine neue Verfassung, die die angespannten Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen in Israel glätten soll und die Bekämpfung der Korruption in der Politik. Das politische System solle komplett umstrukturiert werden. Eigene Posten für Protegés, die den Titel „Minister ohne besondere Aufgaben“ tragen, sollen abgeschafft werden.

Der Wahlerfolg der Yesh Atid überraschte die meisten. Viele hatten schon nicht mehr daran geglaubt, dass das duale System von Rechts und Links noch überwunden werden könnte. Lapid hatte allerdings ein einfaches, klares Programm – das auch darin bestand, dass er „das System“ bekämpften will, jene Klüngel, die die Steuergelder untereinander verteilen und nur daran interessiert sind, welche Posten für sie, ihre Freunde und Verwandten herausspringen. Das Volk sei, so schrieb die Journalistin Lily Galili damals auf den DMN, zur Randfigur im eigenen Land verkommen (hier).

Genau auf dieser Klaviatur spielt auch der Gründer des Automobilzulieferers Magna, Frank Stronach, der in Österreich die alten Parteien das Fürchten lehrt. Er stampfte mit viel Geld sein „Team Stronach“ aus dem Boden, warb den Altparteien Abgeordnete ab, und predigt schlichte Grundsätze wie „Wahrheit, Transparenz und Fairness“ (hier).

Dass man mit der Nennung dieser Binsenweisheiten heute offenbar einen Nerv trifft, zeigt, wie herabgekommen die Politik in Österreich ist. Eben wurde der ehemalige Innenminister und EU-Abgeordnete Ernst Strasser zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, weil er zwei als Lobbyisten getarnten Journalisten gegen fürstliche Premien zugesichert hatte. Die Journalisten filmten den unglaublichen Vorgang, Strasser und mit ihm das ganze politische System flogen auf (hier).

Ähnlich wie in Israel versuchen auch die österreichischen Macht-Eliten, den Aufstieg der Stronach-Partei zu behindern, indem sie Bürger, die Stronach unterstützen wollen, einschüchtern und bedrohen (mehr hier)

Einschüchtern kann den Briten Nigel Farage dagegen keiner. Farage hat mit der Übernahme des Amtes des Parteivorsitzenden der UIKP in Großbritannien einen fulminanten Start hingelegt. Der als EU-Kritiker ausgewiesene Farage würde aktuellen Umfragen zufolge bis zu 16 Prozent der Stimmen erhalten. Farages Lieblingsthema: Die Brüsseler Bürokratie, in der Farage die größte Bedrohung der Demokratie in Europa seit dem zweiten Weltkrieg sieht. Farage findet so großen Zuspruch, dass sich nun auch Premierminister David Cameron genötigt sah, seinen Bürgern ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU zu versprechen (hier).

Farage wird Cameron damit nicht in die Schranken weisen können: Der rhetorische Super-Star spielt nämlich vor allem eine Melodie, die dem Premier gar nicht gefällt: Er will, dass alle politische Macht auch vom Bürger legitimiert ist. Seine Vorbehalte gegen Brüssel zielen auf einen Punkt: Die Herren Van Rompuy und Barroso sind von niemandem gewählt. Sie spielen sich als Herrscher Europas auf, obwohl sie kein Mensch kennt. Dies ist der Kern der Fundamentkritik der britischen Liberalen. Kein links-grüner Euro-Verehrer hat diesen zentralen Vorwurf jemals entkräftet können.

Weil nicht gewählte Bürokraten noch anfälliger für schmutzige Geschäfte sind, sieht sich der Kampf gegen die Korruption durch alle neuen, systemkritischen Parteien. In Italien ist Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung aus Massendemonstrationen gegen die politische Korruption entstanden. Der Partei des ehemaligen Comedians werden bei den kommenden Parlamentswahlen 15 Prozent der Stimmen zugetraut. Grillo ist extrem EU-kritisch, er attackiert die Banken, er will das Geflecht von Politik und Finanzwirtschaft bekämpfen, das sich anschickt, Europa ins Unglück zu führen (hier). Italien soll nicht so enden wie Griechenland, sagen die Anhänger Grillos. Die EU habe mit ihrem Zentralismus verheerende menschliche Flurschäden angerichtet.

Im Versuchslabor für den neuen Feudalismus befindet sich ebenfalls ein Außenseiter auf dem Vormarsch: Alexis Tsipras von der linksextremen Syriza Partei wurde bei den vergangen Wahlen mit fast 27 Prozent zweitstärkste Kraft im Parlament in Athen. Umfragen sehen ihn jetzt sogar an der Spitze. Europa beginnt sich langsam mit der Vorstellung anzufreunden, dass Tsipras eines Tages bei den EU-Gipfeln mit am Tisch sitzen wird – für viele System-Erhalter eine unerfreuliche Vorstellung. Daher empfing Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble den Aufrührer schon mal sicherheitshalber in Berlin. Tsipras selbst sagte in New York, dass Griechenland unter seiner Führung auf jeden Fall in der Euro-Zone verbleiben wolle. Aber der Einmischung von außen durch EZB, EU und IWF müsse ein Ende haben.

Viele Beobachter glauben jedoch, dass sich in der Konstruktion der EU, die in ihrer derzeitigen Form keine gewollte politische Union, sondern ein Wasserkopf der Systemerhalter ist, erst etwas ändern wird, wenn in Deutschland eine euro-skeptische Partei auf den Plan tritt. David Camerons Drohungen gegen die EU lösen zwar mediale Empörungswellen aus. Aber Großbritannien ist und bleibt in der Wahrnehmung der Kontinental-Europäer auch politisch eine Insel. Bei Deutschland wäre das schon anders: Würde der größte Nettozahler dem Treiben in Brüssel ein Ende setzen, könnte es wirklich ernst werden. Dann könnten die letzten Tage Europas nahen, wie es Henryk Broder in einer Polemik prophezeit (hier).

Doch von einer solchen neuen Partei ist in Deutschland nichts zu sehen. Dies ist erstaunlich. Denn während man bei den Briten davon ausgehen kann, dass sie zwar bellen, aber nicht beißen – im Ernstfall also mit Ja für den Verbleib in der EU stimmen dürften, könnte es sich bei den Deutschen genau andersherum verhalten: Gerade weil es kein politisches Sprachrohr der Euro-Skeptiker gibt, ballen die Bürger die Fäuste in der Tasche und könnten nur darauf warten, in einem Referendum es dem ungeliebten System einmal zu zeigen.

Aus diesem Grund sind alle etablierten Parteien gegen die direkte Demokratie. Es gibt nichts Unberechenbareres. In Berlin wird dieser Tage gerne nach Österreich gezeigt, wo der sozialistische Verteidigungsminister gerade vom Volk in die Schranken gewiesen wurde: Die Österreicher haben in einer Volksbefragung gegen ein Berufsheer gestimmt. Parteileute in Berlin sind heimlich dankbar für dieses Ergebnis: Hier sehe man, was dabei rauskommt, wenn man das Volk befragt – da kann man ja nicht mehr regieren.

Also müssten jene die gegen die bürokratische EU, gegen die Beschneidung der Bürgerrechte, gegen die Aufgabe der demokratischen Souveränität sind, eine Partei gründen. So sehr sich alle alten Parteien ideologisch unterscheiden, in einem Punkt herrscht eine fast gespenstische Übereinstimmung: Für mehr Zentralismus in Brüssel sind alle – von der FDP bis zur Linken. Sie alle transportieren unterschwellig die Botschaft, dass es für Deutschland gut sei, gefesselt zu sein. Es ist ein „common sense“ entstanden, dass die Deutschen allein gefährlich seien. Durch und durch ahistorisch, wird diese steile These mit den Verbrechen der Nazi-Zeit belegt. Wenn man dieser These widerspricht, flüchten sich die Vertreter der politischen Eliten nicht selten in die Dialektik: Sie sagen, dass aber doch der Euro niemandem so sehr genutzt habe wie Deutschland. Beides ist blanker Unsinn.

Dass dennoch keine neue Partei entstanden ist, mag am immer noch großen Wohlstand in Deutschland liegen. Die System-Parteien haben es stets verstanden, die Bürger mit sozialstaatlichen Wohltaten zu versorgen. Sollte im Zuge der Schuldenkrise die Finanzierung des gigantischen Wohlfahrtsstaats und der übermäßigen Staatsapparate jedoch die heile steuerfinanzierte Welt zusammenbrechen, dann könnte sich der Wind drehen.

Die deutsche Wahlarithmetik ist keine unüberwindbare Hürde: Das hat die Entstehung der Grünen gezeigt, dass haben die Erfolge der Piraten belegt. Das zeigt vielleicht am deutlichsten der Erfolg der Freien Wähler in Bayern.

Um jedoch eine wirklich durchsetzungsfähigen Wahl-Alternative zum Durchbruch zu verhelfen, müssten sich die Deutschen von einer Annehmlichkeit verabschieden, die in guten Zeiten ganz prima funktioniert: Nämlich von der behaglichen Illusion, dass der Staat „die da oben“ sind; und dass es „die da oben“ schließlich gäbe, um den Laden am Laufen zu halten. Ganz deutlich zeigt sich diese Haltung beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen: In den USA gilt das Prinzip „free speech“ als heilig. Jeder Bürger soll seine Meinung äußern, und sei sie auch noch so schrill. In Deutschland dagegen wurde der Fußball zur „Grundversorgung“ erklärt, für die der Staat zu sorgen habe.

Die Deutschen haben noch nicht im ausreichenden Maß kapiert, dass „die da oben“ von den Steuergeldern „derer da unten“ leben. Und dass „der Staat“ nicht der Berliner Reichstag oder das Hamburger Rathaus ist, sondern der entschlossene Willen ausreichend vieler Bürger, die Lebensverhältnisse nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Die Berliner sagen, dass das Debakel um den Flughafen BER Berlin Milliarden kostet – sie sehen nicht, dass diese Milliarden nicht von der EZB gedruckt werden, sondern dass es sich um jenes Geld handelt, das sie selbst Monat für Monat auf ihrem Lohnzettel nur sehen, nicht jedoch erhalten dürfen. Dasselbe gilt für die Elbphilharmonie, Stuttgart 21, den ESM und all die aus dem Ruder gelaufenen Wahnsinnsprojekte einer nicht mehr beherrschbaren zentralplanerischen Politik.

Erst wenn die gutmütigen Deutschen in großer Zahl erkennen, dass sie rund um die Uhr arbeiten müssen, damit ein viel zu großer Teil ihrer Löhne nicht in Schulen, Kindergärten, technologische Infrastruktur oder Straßen investiert, sondern wegen der dramatischen Schuldenspirale als Zins und Zinseszins in das globale Finanzsystem geleitet wird, das niemand mehr überblicken und schon gar nicht beherrschen kann – erst dann dürfte auch Deutschland den Beispielen Israels, Österreichs, Griechenlands oder Großbritanniens folgen und eine, vielleicht auch mehrere Parteien unterstützen, die das gescheiterte System als das benennen, was ist es ist: Des Kaisers neue Kleider, stolz getragen von jenen kleinen Fürsten und mittleren Königinnen, die das System der sich ewig selbstergänzenden Eliten wie geschmiert am Laufen halten.

Ob die Zeit dann noch reichen wird, um den demokratischen und sozialen „Turnaround“ zu schaffen, ist allerdings eine ganz andere Frage. Viele der unerfreulichen antidemokratischen und feudalistischen Tendenzen – wie etwa der ESM oder die Rundfunkgebühr – sind auf raffinierte Weise unumkehrbar. Gut möglich, dass die geballte Faust in der Tasche in Deutschland auf lange Zeit die einzige Geste bleibt, an der man politisch Andersdenkende erkennen kann.

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