62 Prozent der Einwanderer wollen über die Türkei nach Europa, 28 Prozent wollen hingegen in der Türkei bleiben, so das Ergebnis einer aktuellen Studie des Internationalen Zentrums für Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität (UTSAM). Besonders Istanbul spielt hier eine zentrale Rolle. Das Geschäft der professionellen Schmuggler in der Millionenstadt am Bosporus gewinnt derzeit trotz des Aufbaus zusätzlicher Hürden sogar noch an Attraktivität.
Denn: Je schwieriger die Reise zum Ziel, desto höher der Preis. Die groteske Entwicklung zeigt: Der Menschenhandel wird durch immer neue bürokratische Regelungen aus Brüssel nicht gestoppt. Sie können wirkungsvolle nationale Grenzen nicht ersetzen, sondern führen im Gegenteil dazu, dass der organisierte Menschenhandel zu einem immer lukrativeren Geschäft werden.
So hätten Schmuggler aus Zeytinburnu etwa im vergangenen November 1.500 Euro dafür verlangt, einen Afghanen nach Griechenland zu bringen, berichtet der EU Observer. Die Leute würden zuvor über den Iran in die Türkei geschafft. Nach einigen Tagen in Istanbul ginge es dann weiter nach Izmir, wo man auf ein Boot umsteige. Die ganze Reise von Kabul bis Athen käme am Ende insgesamt auf gut und gerne 5000 bis 8500 Euro. Je nach Qualität und der Hindernisse, die sich während der Reise ergäben.
Auch aus der Türkei gab es Protest. Auf Euronews erklärte der türkische EU-Minister Egemen Bağış bereits im vergangenen Februar: „Es ist nicht die Zeit, über neue Mauern zu diskutieren. Man sollte besser daran arbeiten, neue Brücken zu bilden – zwischen verschiedenen Sichtweisen, verschiedenen Kulturen und verschiedenen Ländern.“ Für ihn sei der Grenzwall ein Zeichen der Trennung zwischen den Ländern der EU und den Ländern außerhalb. Und zudem ein ganz klares Signal der Abschottung. Auch die EU hatte sich im Vorfeld gegen das Millionenprojekt ausgesprochen. Der Flüchtlingsstrom werde durch den Grenzzaun nicht gestoppt, hieß es.
Das Research Institute for European and American Studies in Athen schätzt, dass derzeit einer von vier illegalen Migranten Verbindungen zu einem Schmuggler-Netzwerk in der Türkei habe. Frontex, die EU-Grenzschutzagentur in Warschau, habe zudem angegeben, dass im dritten Quartal 2011 rund 18.000 Menschen beim illegalen Grenzübertritt erfasst wurden, von denen fast 50 Prozent afghanische Staatsangehörige waren. Sollten also die geschätzten Preise stimmen, dann bedeute das, dass allein das afghanische Schmuggler-Netzwerk in Istanbul nur in diesen drei Monaten gut 3,5 Millionen Euro eingenommen hätte.
Die Schmuggler, so der EU Observer, arbeiten in verschiedenen Abteilungen - jede von ihnen hochgradig spezialisiert. Während etwa die einen sich voll auf den Drogenhandel konzentrierten, obläge anderen der Menschenschmuggel. Für Anna Triandafyllidou vom Robert-Schuman-Zentrum des Europäischen Hochschulinstituts (EUI) in Florenz und Co-Autorin eines Buches über Menschenschmuggel, gibt jedoch keine Beweise dafür, dass hier beispielswiese auch die Mafia aktiv ist. Zudem würden die Schmuggler in der Regel derselben Ethnie abstammen, wie die Menschen, die sie nach Europa bringen würden. Ihrer Ansicht nach gebe es hier keine internationale übergreifende Struktur, die etwa von Afghanistan bis Griechenland reiche.
Ganz anders sieht das wiederum Michel Koutouzis, ein in Paris ansässiger Experte griechischer Abstammung. Seiner Ansicht nach sei das Geschäft vor allem von türkischen Mafiafamilien dominiert. Und diese würden damit Jahr für Jahr mehr als zehn Millionen Euro verdienen. Organisiert seien diese wie die Armee. Selbst würden sie sich zwar nicht direkt an den Schmuggel-Aktionen beteiligen, hätten aber die vollständige Überwachung inne und würden auch die nötige Infrastruktur zur Verfügung stellen. Schon bevor die Flüchtlinge in Istanbul einträfen, so Koutouzis, wüssten die Familien alles über sie und seien bestens vorbereitet. Gleichzeitig zeigt er sich überzeugt, dass nicht-türkische Schmuggler-Netzwerke lokale Unterstützung erhalten würden, um die türkischen Behörden erfolgreich zu bestechen. Ohne Zweifel seien hier korrupte Beamte mit im Spiel.
Nach Angaben von Triandafyllidou sei die Reise der Migranten in mehrere Etappen unterteilt. Schmuggler-Zellen würden die Leute von einer Station zur nächsten durchreichen. Dafür würden sie unter anderem Einweg-Handys benutzen. An jeder neuen Station hätten die Migranten bar zu bezahlen. Nicht selten muss ein Teil im Voraus beglichen werden, meist 50:50.