Die EU-Kommission ist Hüterin des Wettbewerbs.
Sie hütet aber auch die EU-Verträge (angeblich) und andere Dinge. Das soll aber nicht heißen, dass der Oberhirte der Kommission ein Schafshüter ist. Nun, vielleicht doch, zumindest glaubt die Kommission und all ihre 28 „Hüter der Verträge“, es mit Schafen zu tun zu haben. Anders ist nicht erklärbar, dass die EU ihre Bürger wie Schafe behandelt und diese sich mittlerweile auch noch wie Schafe verhalten - nach allem, was ihnen von der EU seit Jahrzehnten zugemutet wird. Es regt sich kein Widerstand.
Auch an die negativen Auswirkungen von Liberalisierungen, sprich Privatisierungen scheint sich der Bürger gewöhnt zu haben. Er murrt nur, blökt hin und wieder. „Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein.“ (Albert Einstein)
Nach 2 AEUV, Art. 26 (2) „definiert sich der Binnenmarkt als ein Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist. So steht es im Vertrag von Lissabon.“ Bereits am 15.3.1957 wurde im Artikel 86 des Gründungsvertrages der EWG (Römische Verträge) formuliert: „Mit dem gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem gemeinsamen Markt … durch ein oder mehrere Unternehmen.“
Also schon damals war eine grundsätzliche Liberalisierung der staatlichen und monopolistischen Dienstleistungsbetriebe vorgesehen. Hört sich vernünftig an. War auch wieder einmal gut gemeint - für den Bürger. Oder doch nicht? Letztlich profitiert vom neoliberalen Binnenmarkt, der auf Druck des ERT und einem Heer von Lobbyisten zustande kam, in erster Linie die Großindustrie. Der Bürger hat davon wenig gemerkt. Oder doch? Natürlich merkt es auch der Bürger - schließlich stagnierte das durchschnittliche Einkommen bei steigenden Preisen.
Heute bedient man sich des Vehikels „Binnenmarkt“ um alles, was mit Deregulierungen, Liberalisierungen und letztlich mit Privatisierungen zu tun hat, zu rechtfertigen. Im Lichte der Liberalisierungen und deren Folgen ist es sicher nicht uninteressant zu wissen, wer wirklich hinter der Idee des Binnenmarktes steckt. Der damalige EG-Kommissionspräsident Jaques Delors gab zu, der ERT (European Round Table of Industrialists) sei die „treibende Kraft hinter dem Binnenmarkt“ gewesen. Der ERT gilt als Zentralkomitee der EU-Großindustrie. In ihm versammeln sich nach einem gewissen Rotationsprinzip 45 bis 50 Vorstandsvorsitzende, die ca. 60% der europäisch bzw. international tätigen Industriekonzerne repräsentieren.
Der ERT gilt als strategischer Mastermind der beiden zentralen Pfeiler der EU, eben dem EU-Binnenmarkt, aber auch der Währungsunion. So wurde in den 90er Jahren auch die Realisierung der Währungsunion gegen alle Widerstände durchgedrückt. Dabei agierte der ERT nicht zimperlich, setzte die EU-Kommission gewaltig unter Druck und drohte mit Abwanderung von Industrien, um seine neoliberalen Ziele zu erreichen.
Auch bei der Osterweiterung mischte der ERT im Hintergrund mit. Ihm ging es neben der Erschließung neuer Absatzmärkte und Investitionsmöglichkeiten, auch um billige Arbeitskräfte. Auf jeden Fall erstaunlich, was sich in Brüsseler Hinterzimmern so abspielt und wer, neben den etwa 15.000 Lobbyisten mit ihren Millionen-Budgets, die mächtigen Einflüsterer der Politiker sind. Beim Elitenprojekt „EU“ wird, zum Wohle der durch die Lobbyisten vertretenen Industrien, das Wohl der Bürger vergessen.
Offiziell war das Ziel des Binnenmarktprojektes, die Europäische Union durch Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen für den Weltmarkt wettbewerbsfähig zu machen. Man kennt das Schlagwort: Weniger Staat, mehr Privat - eine Einschätzung, die, besonders was die Großindustrie, wie etwa Stahl- oder Bergwerke betrifft - ihre Berechtigung hat.
Für den Bürger sollte sich durch mehr Wettbewerb alles zum Besseren wenden. Staatsmonopole wie Post, Energie, Verkehr, Abfall- und Wasserwirtschaft sollten liberalisiert, sprich privatisiert werden. Aber auch der gesamte Bereich der öffentlichen Infrastruktur, wie Kindergärten, Sozial- und Gesundheitsdienste, Krankenhäuser und Verkehrsbetriebe gehören dazu. Durch diese auch vom ERT geforderten Maßnahmen erwartete die EU bei allen Dienstleistungen Effizienzgewinne und eine Steigerung der Qualität bei sinkenden Preisen. Auch die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten sollten menschenwürdiger werden. So versprachen es EU-Politiker.
Besonders deutlich spüren die Bürger die Liberalisierung im Energiebereich. Statt staatlicher oder kommunaler marktbeherrschender Monopole, die nicht auf Gewinnmaximierung aus waren, haben wir es nach den Privatisierungen mit marktbeherrschenden Quasi-Kartell- und Oligopolbildungen, wie RWE, E.on oder die österreichische EVN, zu tun. Diese fühlen sich in erster Linie ihren Aktionären gegenüber verantwortlich. Das bedeutet natürlich auch einen massiven Abbau von Arbeitsplätzen und „marktkonforme Preise.“
Fast überall trat eine Verschlechterung des Arbeitsumfeldes ein. Aber die EU hatte es doch gut gemeint. Sie wollte doch nur gegen staatliche Monopole ankämpfen – obwohl die Mehrheit der Bürger gegen die Privatisierung elementarer Dienstleistungsbereiche eingestellt war und vor den Folgen gewarnt hatte. Auch Marx und Engel oder Mao Tse Tung hatten es anfangs „gut gemeint“ mit den Bürgern. Nur hatten sie ihre Theorien zu Sozialismus bzw. Kommunismus nicht zu Ende gedacht, ließen wirtschaftlichen Sachverstand vermissen und hatten dabei auch den Menschen übersehen, den man nicht einfach in ihrem Sinne umformen kann. Auch der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
Jetzt haben wir anstelle von staatlichen Konzernen eben private, marktbeherrschende Konzerne. Doch der Trend geht ja weiter, zu noch mehr Größe. So wollte beispielsweise der deutsche E.on Konzern die spanische Endesa und der italienische Konzern Enel das französische Unternehmen Suez schlucken – doch da schalteten sich die französische und spanische Regierung ein, die um die Eigenständigkeit ihrer Energieversorger bangten. Das wiederum erboste die EU-Kommissarin Neelie Kroes, ehemals zuständig für Wettbewerb. Eingriffe der Mitgliedsstaaten prangerte sie als „neuen Protektionismus“ an. Das muss man sich mal vorstellen: Da kämpft die EU gegen marktbeherrschende staatliche Monopole, doch bei dem Versuch, überstaatliche europäische Mega-Monopole zu bilden, tritt die Kommissarin als Fürsprecher der neuen Monopolisten auf. Welcher Bürger soll das noch verstehen? Für wen setzt sich die EU wirklich ein?
Ein weiteres Ärgernis betrifft die privatisierte Abfallwirtschaft. Da werden enorme Umsatzrenditen von 21 bis 42% erwirtschaftet. Das mag die Konzerne erfreuen, doch die Bürger stöhnen über jährlich steigende Preise für ihre Müllentsorgung. Auch hier gilt der Dank der „vorausschauenden“ EU.
Um die Deutsche Bundesbahn für die Privatisierung fit zu machen, wurden abertausende gut ausgebildete Fachkräfte entlassen, was im August 2013 sogar zu der grotesken Situation führte, dass in den Stellwerken im Raum Mainz und anderswo Personal fehlte und der Zugverkehr zusammenbrach. Doch einer Forderung des estnischen EU-Kommissars für Verkehr, Siim Kallas, zufolge, soll die Bundesbahn baldmöglichst zerschlagen und privatisiert werden.
Abgesehen von den negativen strukturellen und kommerziellen Folgen, würden weitere Qualitäts-Arbeitsplätze verloren gehen und im Gegenzug Billigarbeitsplätze entstehen. Da erinnert man sich mit Grauen der „Zerschlagung“ von British Rail. Das Unternehmen wurde in den Jahren 1994 bis 1997 in 106 private Einzelunternehmen zerlegt, die mehr als 2.000 Subunternehmen entstehen ließen – ein Abenteurer, das sich als ineffizientes und teures Desaster entpuppte, auch weil in die Infrastruktur kaum mehr investiert wurde. Am Ende musste es der Staat wieder richten und verstaatlichte einen Teil der Infrastrukturbetreiber, ähnlich wie bei der SNCF, der französischen Staatsbahn, die Netzgesellschaft, Infrastruktur und Betrieb wieder zusammenführen möchte.
Gelernt haben die Eurokraten daraus nicht. Unbeirrt drängt auch der deutsche Generaldirektor für Energie und Verkehr bei der EU-Kommission, Matthias Ruete, weiter auf „Liberalisierung“, sprich „Privatisierung“ bei der Bundesbahn. Die EU-Kommission reichte sogar Klage beim EuGH gegen Deutschland ein, das sich weigert, diese Dummheit umzusetzen, also Bahnnetz und Betrieb zu trennen. Da fällt also wieder einmal ein hoher deutscher EU-Beamter der deutschen Bundesregierung und der sich gegen diesen Unfug wehrenden Bundesbahn, in den Rücken. Es ist jedoch bezeichnend für den EU-Wahnsinn.
Weitere Liberalisierungen wurden im Bereich Gesundheits- und Bildungswesen, sowie im Kultur- und Sicherheitsbereich realisiert - mit den bekannt negativen Ergebnissen. Viele Krankenhäuser gehören heute zu großen privaten Konzernen. Je mehr Operationen, desto besser für die Bilanz; da werden dann schon mal teure, jedoch unnötige chirurgische Eingriffe durchgeführt.
Eigentlich sollten Städte und Gemeinden die Grundversorgung für die Bürger sicherstellen und nicht private, gewinnorientierte, oft weit entfernte ausländische Investoren, die keinerlei Verantwortung für Mitarbeiter und Kunden fühlen. Doch die EU sieht das anders und forciert die Privatisierung in allen Ländern der EU, so auch in Portugal. Hier übernahm zum Nachteil der Bürger ein chinesischer Groß-Investor 100% des Energieversorgers „Energias de Portugal“ (EDP). Da in Portugal auch öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser privatisiert wurden, sieht es mit der ärztlichen Versorgung derart schlecht aus, dass in manchen Gegenden gebärende Frauen nach Spanien ausweichen müssen. Aber auch in Spanien gehen die Menschen auf die Straße; Krankenhäuser und Ambulanzen sollen privatisiert werden. Der Liberalisierungswahn geht weiter – weil es die EU bzw. der ERT so will. Schlechte Zeiten kommen auf Patienten zu.
Im Wohnbereich zeichnet sich eine ähnlich negative Entwicklung ab. Hunderttausende Wohnungen wurden von den Kommunen unter Rot/Grün (Finanzminister Eichel) und SPD/CDU (unter Finanzminister Steinbrück) „privatisiert“, heißt, auch an US-Groß-Investoren, sprich Heuschrecken, verkauft. Doch Investoren sind entweder nur an den Mieteinnahmen interessiert und lassen die Häuser verkommen, oder sie sanieren die Häuser aufwendig und erhöhen die Mieten, Luxusmieten, die die alten Bewohner nicht mehr bezahlen können. Sie werden hinausmodernisiert.
„Die Privatisierungspläne haben nur einen Gewinner, nämlich internationale Großkonzerne“, heißt es zum Thema „Wasser“ in einem internen Papier (Januar 2013) der CSU. Würde man den Eurokraten nicht hin- und wieder erfolgreich Einhalt gebieten, sie würden auch noch den letzten Kindergarten privatisieren.
Bis auf wenige Ausnahmen ist es bei den bisherigen Privatisierungen weder zu Effizienzsteigerungen (Effizienz zum Wohle der Verbraucher) und schon gar nicht zu den versprochenen Qualitätsverbesserungen gekommen - im Gegenteil: Das von der EU durchgepeitschte neoliberale Programm führte oft zu noch größeren und marktbeherrschenden Monopolbildungen bzw. entwickelte sich zu einer Art Manchesterkapitalismus mit fühlbaren Verschlechterungen für die Verbraucher.
Auch die Mitarbeiter erfreut das alles nicht, denn sie wurden zu tausenden „freigesetzt“ und die Verbleibenden stehen unter Dauerstress. Im Endeffekt schafft die Privatisierungs-Wut der EU, bei der alle Schranken fielen und viele Werte aufgehoben wurden, massenhaft Billigarbeitsplätze und vernichtet gut bezahlte Qualitätsarbeitsplätze.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem eben erschienen Buch „Kurs halten, bis zum Untergang Europa. Unglaubliche Erfolgsgeschichten aus dem Brüsseler Tollhaus.“
Sven Kesch arbeitete viele Jahre als Top-Manager eines großen deutschen DAX-Unternehmens.
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