Der Sparkurs in den Ländern der EU ist zu Ende, bevor er noch richtig begonnen hat. Das Scheitern der EU-Kommission liegt jedoch nicht an der Unfähigkeit der Kommissare, sondern daran, dass die EU als rechtliches Gebilde keine Chance hat, sich gegen die Nationalstaaten durchzusetzen.
Nie wird das deutlicher als jetzt, am Höhepunkt der Schulden-Krise.
EU-Kommissions-Präsident José Manuel Barroso saß am Mittwoch vor der Weltpresse und beschwor mit bewegten Worten den Kurs, dem die EU in der Krise folgen müsse.
Das Problem: Es ist für die EU-Staaten völlig irrelevant, was die EU-Kommission denkt.
Denn die EU als übergeordnete Instanz ist eine Fiktion. Sie hat in den entscheidenden Punkten in den Nationalstaaten nichts zu bestellen.
Die Kommissare sind bedauernswerte, wenngleich gut bezahlte Schauspieler: Sie sollen den EU-Bürgern und den Politikern in den Staaten das Gefühl geben, dass die EU als Vorläufer der „Vereinigten Staaten von Europa“ ein politischer und rechtlicher Raum ist, in dem gemeinsam entschieden wird, was für alle gut ist.
Die EU-Kommissare sind aus gutem Grund nicht gewählt: Sie haben nämlich weder eine demokratische, noch eine rechtliche Funktion.
Die EU-Kommissare sind nichts anderes als Darsteller einer Idee, die sich in der Krise langsam, aber unaufhaltsam als Illusion erweist. Sie sind Propagandisten, Fürsten ohne Land, Briefträger für nationale Interessen.
Es ist kein Zufall, dass es nicht unbedingt die Besten sind, die von den Staaten nach Brüssel in die Kommission geschickt werden.
Das ganze Desaster der EU zeigt sich sehr schön am sogenannten Fiskalpakt.
Dieser war im März 2012 mit viel Pomp als die Wunderwaffe präsentiert worden: Jetzt werde eisern gespart, verkündete Angela Merkel. In den Südstaaten wurde der Fiskalpakt nie ernstgenommen. Francois Hollande attackierte die EU-Kommission am Mittwoch wegen ihrer Sparvorschläge. Auch das ist in der Logik einer völlig unzulänglichen Struktur: Wenn es hart auf hart kommt, kann die EU Frankreich nichts befehlen.
Frankreich kann im Grunde Schulden machen, soviel es möchte. Ein Fiskalpakt kann weder Paris, noch Madrid und schon gar nicht Rom beeindrucken.
Und das hat einen einfachen Grund.
Der Fiskalpakt ist eine völlig unerhebliche, politische Willenserklärung.
In der Krise fehlt ihm die Durchschlagskraft.
Jetzt ist der Fiskalpakt tot.
Was die meisten schon wieder vergessen haben, obwohl die Ereignisse erst ein Jahr zurückliegen: Der Fiskalpakt wurde durch verschiedene Fassungen gejagt, bis am Ende nichts mehr überblieb. Die EZB protestierte seinerzeit gegen die weiche Endfassung. Zu Recht, wie sich jetzt herausstellt.
Alles, was dem Fiskalpakt rechtlich bindende Wirkung verliehen hätte, wurde von den Ländern wieder herausverhandelt.
1. Die Verankerung der Schuldenbremse im Verfassungsrang wurde gestrichen. Damit kann jede neu gewählt Regierung die Schuldenbremse nach Belieben kippen. Das haben in den vergangenen Wochen die Franzosen und Italiener vorgemacht.
2. Dem Vertrag fehlt eine grundsätzliche Definition, wann überhaupt ein Defizit vorliegt. Es gibt keine genaue Methode zur Berechnung eines strukturellen Defizits.
3. Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist bei Verletzung des Fiskal-Pakts die eines Schiedsgerichts. Die Kommission spielt eine Gutachter-Rolle – mehr nicht. Theoretisch würde die Fiskal-Pakt auch ohne EU-Kommission funktionieren: Jeder Staat kann bilateral einen anderen Staat vor den EuGH zerren – unabhängig davon, was die Kommission denkt.
Die EU-Kommission kann zwar die große Linie vorgeben. Diese besteht aber, wie bei politischen Visionen üblich, meist aus heißer Luft.
Der Vertrag betont den Stellenwert des Haushaltsrechts als „Königsdisziplin der nationalen Parlamente“. Das haben die Deutschen aus anderen Gründen gefordert als die Südstaaten.
Ursprünglich war der Fiskal-Pakt als strenges Regelwerk geplant, um ein Gegengewicht zum ESM zu schaffen. Als weichgekochte juristische Lasagne ist der Fiskalpakt jedoch ohne Wirkung. Im Grunde kann jeder weiter machen wie er will.
Der ESM ist für die Staaten viel gefährlicher, weil er – anders als die EU-Kommission – im Krisenfall Geld verteilen und dies an Bedingungen knüpfen kann. Das Einzige, was die Schulden-Staaten daher vermeiden müssen, ist der Einmarsch der „Men in Black“, also der Troika.
Daher haben sich auch alle von Spanien über Zypern bis Slowenien vor allem darum gekümmert, ihre Probleme unter den Teppich zu kehren. Die Konsequenz: Ohne Crash kann auch der ESM nicht zu Einsatz kommen, weil jeder Krisen-Staat bis zur letzten Sekunde pokert, um die Entmündigung zu vermeiden.
Auch auf EU-Ebene haben sich die Institutionen vor allem darüber gestritten, wer welche Kompetenzen wahrnehmen dürfe.
Das schwächste Glied in dieser Kette ist, trotz ihres großspurigen Auftretens, die EU-Kommission. Sie kann zwar formal Gesetzesvorlagen unterbreiten. Aber diese werden nur dann nicht von einzelnen EU-Staaten abgeschossen, wenn es sich um irrelevante Themen handelt oder solche Themen betrifft, bei denen die Lobbyisten in Brüssel und in den wichtigen Hauptstädten sehr erfolgreich agitieren.
Glühbirnen, Olivenöl-Fläschchen oder Badewannen-Armaturen kann die Kommission regulieren (Gruppe I: irrelevant)
Saatgut und Pharma geht auch (Gruppe II: Starke Lobby-Organisationen)
Die Banken versuchen es gerade, in die Gruppe II zu rutschen. Das kann schwierig werden, weil Banken und Staaten so eng miteinander verflochten sind, dass ein einstimmiges Lobbying kaum möglich ist.
Geht es um wesentliche politische Themen geht, zerfällt die EU in ihre Einzelteile.
Aktuelle Beispiele:
Der Handelsstreit mit China – eine Lachnummer.
Waffenlieferungen nach Syrien: Die pure Hilflosigkeit.
Klimaschutz bei der Automobil-Industrie: Ein Scherbenhaufen.
Oder eben die nationalen Defizite: Ganz schlechtes Laienspiel-Theater.
In der aktuellen Krise werden die fundamentalen Fehler der EU-Konstruktion sichtbar.
Die EU-Kommission sollte theoretisch eine echte, supranationale Gruppe sein, in der die Kommissare die Interessen der EU und nicht mehr die der Nationalstaaten vertreten. Das Gegenteil ist der Fall: Jeder Kommissar hängt an der Leine der nationalen Regierungen. Wenn Günter Oettinger die EU als Sanierungsfall bezeichnet, spricht er für Deutschland und mit ziemlicher Sicherheit das aus, was Angela Merkel denkt. Der Österreich Johannes Hahn spricht wie der Chef-Sekretär des Bundeskanzlers in Wien. Ein französischer Kommissar würde niemals etwas sagen, was fundamental gegen die Interessen der Regierung in Paris gerichtet ist.
Das EU-Fiasko mit dem Sparplan hat eine psychologische Ursache: Die EU und auch ihre Gegner sind Opfer der eigenen Propaganda geworden. Beide haben sich an der Fiktion abgearbeitet, die Kommission sei die Regierung Europas. Alle haben vergessen, dass die EU-Strukturen genauso wenig zu Ende gedacht sind wie der Euro. Die Fixierung auf die Währung hat allen Beteiligten den Blick auf das viel größere Problem verstellt: Ohne handlungsfähige, politische Strukturen kann die europäische Staatsschuldenkrise nicht gelöst werden.
Diese Lebenslüge wird jetzt aufgedeckt.
Wenn es nämlich ans Zahlen geht, verlieren auch die schönsten politischen Ideologien ihre Zugkraft.
Die Realität ist genauso simpel wie vor dem Fiskalpakt: Die Südeuropäer wollen die Inflation, die Deutschen wollen ihre Vermögen retten.
Dieser Kernkonflikt ist demokratisch nicht zu lösen: Es gibt kein Gesetz, bei dem ein Teil freiwillig zustimmt, enteignet zu werden.
Der wirtschaftliche Kern-Konflikt der EU ist vielleicht mit Zwang zu lösen. Wenn der Crash am Bond-Markt oder der Banken-Crash früher kommt als geplant, geht auch das nicht mehr. Wegen der exorbitanten Schulden sind beide Crashs unvermeidlich. Dieser Befund ist im Übrigen keine europäische Spezialität: Die USA, Japan, China – alle bereiten sich auf die Tage X und Y vor.
Das Scheitern des Fiskalpakts markiert den Anfang vom Ende der EU in der Form, in der wir sie kennen. Die EU kann aus der Schuldenkrise nicht gestärkt hervorgehen, weil sie durch die aberwitzig undemokratische, unsolidarische und vor allem unehrliche Politik der vergangenen Jahre in Europa jetzt schon zuviel verbrannte Erde hinterlassen hat.
Das Ende der EU ist allerdings auch kein Anlass zum Jubeln für die Euro-Kritiker.
Mit oder ohne Euro, mit oder ohne EU: Die enormen Schulden, das Schrumpfen der Wirtschaft, die Überalterung der Gesellschaft und die gigantischen Zeitbomben der Derivate gehen nicht einfach weg.
Sie bleiben und nehmen keine Rücksicht auf politische Vorlieben.
Irgendwer wird am Ende die Rechnung bezahlen müssen.
Es deutet einiges darauf hin, dass die Deutschen ganz vorne an der Kasse stehen werden, wenn die Musik zu spielen aufhört.